eröffnet. Die Geburt viel zu früh, der zuständige Gynäkologe im Krankenstand und die Straßen so vereist, dass alles viel zu langsam ging. Manchmal fragt sich Cordes, wie es wohl gekommen wäre, wäre das Schicksal damals gnädiger gewesen. Dann wäre Moritz heute ein strahlendes Weihnachtskind mit tausend Fragen und noch mehr Wünschen, und vielleicht wäre dann sogar seine Frau noch hier. Und nicht nur ein Käfig mit zwei Wellensittichen, die nun daheim auf ihn warten.
Während Lisbeth gerade das Grab ihrer Erinnerungen öffnet, schiebt sich Cordes schwerfällig vom Schreibtisch weg und rollt mit dem Stuhl zum Aktenschrank, in dem es nur wenige Unterlagen gibt. Eigentlich, und das hat er schnell begriffen, ist er nur so eine Art Vorzimmerdame für die richtige Polizeistation in München. Der Mann vor Ort, falls doch mal etwas Schlimmes passieren sollte – was aber tatsächlich nur selten vorkommt. Natürlich: die üblichen Streitereien, meist unter Alkoholeinfluss, die er mit gutem Zureden allein unter Kontrolle bringen kann. Und auch das hat er gelernt: mit wenig Dingen gut zurechtkommen. Denn so etwas wie einen Verwahrraum für Unwillige hat er gar nicht. Nur eine winzige Toilette, deren Schloss kaputt ist und in die er sich folglich nicht einmal selbst einschließen kann, geschweige denn einen Verdächtigen.
Müde reibt sich Cordes die Augen und fischt aus einer der Schubladen eine Schmerztablette. Schon am frühen Morgen hat sich seine Hüfte mit pochendem Stechen und Ziehen gemeldet. Seit über zehn Jahren nimmt er dagegen Oxycodon und manchmal Valium zur Nacht. Wenn die Gespenster an den Wänden einen Morphintanz aufführen mit hässlichen Fratzen und meterlangen Fingern, die nach ihm gieren und greifen, dann ist Valium die einzige Möglichkeit, sie unsichtbar zu machen – so unsichtbar, dass sie auch in seinen Träumen nicht wiederkehren.
Davon, dass er Betäubungsmittel nimmt, weiß natürlich niemand. Vor allem nicht seine Vorgesetzten, die ihm dann vermutlich sofort sämtliche Befugnisse und vor allem seine Dienstwaffe entziehen würden. Und natürlich wissen sie auch nichts davon, dass er manchmal etwas Gras raucht, wenn weder das Oxycodon noch das Valium ausreichen, um endlich in den Schlaf zu fallen.
Bisweilen hat er sowieso das Gefühl, sie hätten ihn hier draußen abgeschrieben oder bestenfalls vergessen. Wann genau hatte er eigentlich die letzte ärztliche Untersuchung? Er kann sich nicht daran erinnern, ebenso wenig wie an die letzte Schießübung oder an das letzte Mitarbeitergespräch. Aber auch das ärgert ihn nicht sonderlich, vielmehr ist er erleichtert, mit den Klugscheißern in München nichts zu tun haben zu müssen. Womöglich würden sie ihn dann in Rente schicken, was er ganz und gar nicht gut fände. Vor allem, weil es ja sowieso nicht mehr allzu lange bis zu seiner Pensionierung dauert. Wieder einmal zählt Cordes nach: Er ist jetzt vierundsechzig und Moritz dreiundvierzig Jahre alt. Aber vielleicht würden sie auch das vergessen, und er würde hier einfach sitzen bleiben können, bis sie ihn eines Tages zum Friedhof trügen.
Mit kaltem, bitter gewordenem Kaffee schluckt er die Tabletten und schließt unwillkürlich die Augen. Die Sache mit dem Toten geht ihm nicht aus dem Kopf. Vor allem nicht das Messer, das in diesem Herzen steckte und jetzt auch irgendwie in seinem eigenen. Ein ziemlich großes Messer. Sie haben es sicherlich weggeschickt, Fingerabdrücke, DNA und der ganze Kram. Aber er muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass sie nichts finden werden. Damals hatten sie ja auch nichts gefunden. Keine einzige Spur.
Aus seiner Schublade fischt er die Zigaretten, zieht eine davon samt Zündholzschachtel heraus. Er hält die Schachtel an sein Ohr und schüttelt sie.
Messerstechereien hat es immer gegeben. Natürlich. An den Wochenenden, wenn die jungen Leute betrunken nach Hause kommen und eines zum anderen führt. Hahnenkämpfe, mehr nicht. Mit leichten Verletzungen, eigentlich kaum der Rede wert. Aber ein Stich direkt ins Herz?
Um es vielleicht später zu zerschneiden?
Das Ungeheuer von damals ist lange schon tot. Außerdem waren es nur Kinder gewesen, nie erwachsene Opfer. Ein Nachahmungstäter? So lange Zeit später? Unwahrscheinlich.
Aber was dann?
Seufzend steht Cordes auf und bemerkt die bleierne Müdigkeit, die ihn durchströmt. Eigentlich hätte er jetzt nach oben gehen können, wo er seine Wohnung hat, um sich einen Kaffee zu machen. Oder um sich vielleicht sogar eine Stunde schlafen zu legen. Stattdessen aber geht er nach vorn und schließt die Türe ab. Wie befürchtet hat das Schneetreiben noch einmal zugenommen, und vermutlich wird spätestens in einer Stunde das Telefon läuten. Blechschaden oder jemand, der in den Graben gerutscht ist, weil er die glatten Straßen unterschätzt hat. Auch Moritz wird sicherlich bald nach Hause kommen. Dann werden sie nach oben gehen und sich zusammen vor den Fernseher setzen, etwas essen und nach den Gespenstern suchen, von denen sein Junge erzählen wird.
Bis dahin aber hat er noch ein wenig Zeit, und er geht zurück zu dem großen Aktenschrank auf der Längsseite des Raumes, in dem kaum Ordner stehen. Er schiebt ihn ein wenig nach vorn, weit genug, um dahinter schlüpfen zu können, und nimmt sich wieder einmal vor, spätestens kommendes Jahr ein paar Kilos abzuspecken. Die Tür hat er tatsächlich erst vor zehn, elf Jahren entdeckt, als der Postladen nebenan geschlossen wurde. Den Schlüssel dafür zu besorgen ist nicht sonderlich schwer gewesen. Ein halbes Jahr hat er gewartet, aber für den Laden hat sich niemand mehr interessiert, ebenso wenig wie für die Metzgerei auf der anderen Seite. Heutzutage kaufen alle Leute im Internet ein, und Postkarten verschickt sowieso kein Mensch mehr. Außerdem muss man nur eine halbe Stunde fahren, um zum nächsten Supermarkt zu kommen. Und dort gibt es alles, einen Postschalter und eine Metzgerei auch.
Zuvor hat Cordes die ganzen Unterlagen oben in der Wohnung gesammelt, aber wohl ist ihm dabei nie gewesen. Moritz ist nicht sehr neugierig, er ist allerdings auch niemand, der ein Geheimnis sehr lange für sich behalten kann.
Vorsichtshalber schaut er noch einmal zur Tür, aber die Straße vor dem Polizeibüro ist verlassen und schneeverweht. Mit einem entschlossenen Schritt betritt er den anderen Raum.
Das ehemalige winzige Schaufenster hat er mit Zeitungen zugeklebt, der Strom wurde lange schon abgestellt. Deshalb herrscht in diesem Zimmer, das deutlich kleiner ist als sein Büro, immer ein seltsames Zwielicht. Fast schon ein Taumellicht, das ihn an seine Kindheit erinnert – an den versteckten niedrigen Raum hinter dem Schlafzimmer seiner Eltern, einem magischen Versteck gleich. Dort hatten er und sein Bruder Valentin über Jahre hinweg einen Ort gefunden, an dem man ungestört Pläne aushecken, Comics lesen und sogar die ersten Zigaretten rauchen konnte. Ihre Eltern hatten den Raum scheinbar völlig vergessen, so wie jetzt Valentin ihn vergessen hatte. Wie lange hat er nicht mehr von ihm gehört? Zwanzig, fünfundzwanzig Jahre? Ein Wort gab damals das andere, und ein falsches konnte alles ins Wanken bringen. Cordes streift sich über den Mund, er weiß ja nicht einmal, ob Valentin noch am Leben ist.
Leise rückt er den Stuhl von der Wand und setzt sich in die Mitte des Raums. Sie haben alles mitgenommen, die Theke und den Verkaufsschalter, auch den Lottostand mit den tausend Formularen. An der hinteren Wand klebt ein Plakat, auf dem steht: Schreiben Sie mal wieder! Jemand wird sich freuen.
Auf dem schimmelig gewordenen Linoleumboden stehen an den Wänden ringsherum prall gefüllte Aktenordner wie Dominosteine. Da und dort Papierstapel, und unter dem Plakat hängen einige Tatortfotografien. Keine offiziellen Bilder, sondern schlechte Polaroidaufnahmen, die er selbst heimlich gemacht hatte. Weil sie ihn ja nur für den trotteligen Dorfpolizisten gehalten hatten, der bestenfalls gut genug war, um alles abzusperren. Obwohl die Schmerztablette anfängt zu wirken, greift Cordes zu dem Beutel Marihuana zwischen zwei Aktenbergen. Später würde er das schmale Oberlichtfenster zur Straße hin öffnen müssen, aber erst, wenn er sicher sein konnte, dass niemand es bemerken würde.
Langsam dreht er sich einen Joint, während er wieder einmal versucht, alles zu verstehen. Jedes einzelne Detail, jedes Fragment, jede lose Spur, und er merkt, dass er friert. Die Heizung funktioniert hier auch nicht mehr, alles, was ihn wärmt, ist der laue Luftzug aus seinem Büro. Wieder einmal hat er vergessen, seine Jacke anzuziehen. Zittrig zündet er sich den krumm gewordenen Joint an, inhaliert tief und fragt sich, ob Ungeheuer für immer und ewig verschwinden können. Oder ob sie nur schlafen, tief unter der Erde, tief in jedem Menschen versteckt.
Neun Kinder waren damals ums Leben gekommen. Ihnen allen wurde zunächst der Hals durchschnitten. Mit einem kräftigen Schnitt von links nach