Richard Lorenz

HINTER DEN GESICHTERN


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atmet tief ein und aus, das Oxycodon wirkt, und das Marihuana macht seinen Herzschlag langsam. Er muss aufpassen, dass er nicht vom Stuhl fällt.

      Dann ein Stich in den Brustkorb und ein Schnitt, weit genug um das Herz herum. Vielleicht, um es sich erst einmal anzusehen.

      In seinem Büro nebenan klackert die Heizung, und er erschrickt, obwohl er das Geräusch schon ein Leben lang kennt.

      Neun Kinder. Und hätten sie ihn nicht erwischt, wären es vermutlich noch viel mehr geworden.

      Unter den Polaroidfotografien einige Zeitungsberichte, die er schlampig ausgeschnitten hat.

      Wieder ein tiefer Zug, die Glut erhellt sein Gesicht, und Aschefetzen tanzen durch die Luft. Es gibt Dinge, die brennen sich unwiderruflich in einen Menschen ein, das weiß Cordes. Als ihnen der Arzt nach der Geburt mitteilte, dass mit Moritz etwas nicht in Ordnung wäre, war das so eine Sache gewesen. Und auch, als damals die Ersten in seinem Büro aufgetaucht waren.

      »Dein Krüppel macht doch gern mit Kindern rum, oder?« Nachts waren sie dann gekommen, Kapuzen über die Gesichter gezogen. Mit Mistgabeln und Stöcken in den Händen. Auch heute noch zieht es ihm sämtliche Eingeweide zusammen, wenn er daran denkt. An dieses hilflose Gefühl, an diese Angst und vor allem an Moritz’ Schreie, der gefühlt hatte, dass sie ihn am liebsten umgebracht hätten. Am nächsten Baum aufgehängt oder ihm selbst das Herz aus dem Leib geschnitten. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er seine Waffe benutzt und einige Schüsse in die Dunkelheit abgefeuert.

      Dabei war Moritz selbst ja noch ein Kind gewesen. Ein schüchterner Junge, der jeden Morgen mit dem Bus zu einer der Behindertenwerkstätten fuhr und erst abends wiederkam.

      »Gerade diese Bescheuerten haben Kraft wie ein Bär, das kommt von der Dummheit!« Auch das hatte Cordes gehört. Selbst heute kann er noch nicht darüber lachen, denn die Dinge kehren wieder zurück. Und das macht ihm Angst. Große Angst sogar.

      Cordes steht auf und hört seine Knie knacken. Er geht zur Wand, um wieder einmal die Fotografien zu berühren, als könne er damit die Zeit zurückdrehen. Abseits von den toten Kindern auch eine Aufnahme von Lisbeth, dem Wundermädchen. Von dem alle gesagt hatten, sie würde Dinge sehen, die sonst niemand sieht. Eine Zeit lang hatte er geglaubt, sie hätte etwas mit den Morden zu tun. Irgendwie. Vielleicht auch, weil sie ihm Angst gemacht hatte.

      Ebenso wie die Heuschrecken, die damals gekommen waren, die ganzen Polizisten und Kriminalbeamten und die Staatsanwälte und weiß Gott noch wer. Sogar einen Psychologen hatten sie mitgebracht. Daran kann sich Cordes noch gut erinnern. Dass es ihm trotzdem gelungen war, diese Fotos zu machen, überrascht ihn heute. Wobei man allzu viel nicht erkennen kann, das muss er zugeben. Für ihn reicht es jedoch, um das Blut nie ganz trocknen zu lassen.

      Jedes einzelne Kind hat er dann in der Leichenhalle besucht, Tage nachdem sie aus München zurückgekommen sind. Von der Autopsie, mit aufgeschnittenen Bäuchen und zugedrückten Augen. Er hat sie besucht und sich bei ihnen entschuldigt. Dafür, dass er nicht besser auf sie alle achtgegeben hatte.

      Geholfen hat es nicht. Immer noch trägt Cordes Schuld mit sich herum, denn die meisten Kinder hatte er gekannt. Vom Schulweg oder von der Sonntagsmesse. Von den Tagen, an denen er in der Schule über seinen Beruf gesprochen hatte.

      Und dann? Dann war Moritz eines Tages nach dem zweiten toten Kind nicht mehr nach Hause gekommen.

      Cordes drückt den Joint in dem übervollen Aschenbecher aus und überlegt eine Sekunde, ob er sich eine Zigarette anzünden soll. Aber er lässt es, denn heute hat er eigentlich schon genug geraucht. Er merkt es an seinen Atemzügen, die ihm schwerfallen.

      Jetzt ist er tot. Das hatte sich Cordes damals gedacht und sich die allerschlimmsten Bilder ausgemalt. Sein Junge in einem Straßengraben liegend, mit offenem Brustkorb, die Augen weit aufgerissen. Aber an diesem einen Tag fanden sie keine Leiche. Moritz allerdings konnte er auch nicht finden. Ein Herbsttag mit ganz viel Regen und den ersten starken Stürmen des Jahres. Dabei war Moritz immer nach Hause gekommen, egal, was auch passiert sein mochte. Immerzu den gleichen Weg nehmend, die Schritte abzählend. Nur an den Wochenenden traf er sich auf dem Spielplatz mit einigen anderen Kindern der Stadt, aber selbst dann war er immer weit vor Anbruch der Dämmerung daheim.

      »Lisbeth Broussard. Lisbeth«, flüstert Cordes und sieht sich ihr Bild an.

      Nach sieben Stunden Suche, Warten und Bangen war er schließlich zu dem Mädchen gegangen, sie um Rat zu fragen. Seine letzte große Hoffnung. Auch weil er gehört hatte, dass sich auf dem Marktplatz ein Mob versammelt hatte, um den Jungen zu finden. Jedoch nicht, um ihn nach Hause zu bringen, das ganz sicher nicht. Für jene Männer war das Verschwinden von Moritz Beweis genug, dass der Junge in die ganze Sache verwickelt sein musste. Cordes war zu dem Haus gefahren, in dem Lisbeth wohnte und immer noch wohnt. Er kann sich noch ziemlich gut an den Geruch erinnern und an Lisbeths Großmutter, die aus irgendeinem Zimmer laut nach dem Herrgott gerufen hatte. Lisbeth war mit ihm ein Stück die Straße runtergegangen, in langsamen kleinen Schritten, als würde sie seine Fährte aufnehmen wollen. Verschlossen die Augen, ihre Hände zitternd und das Gesicht so weiß wie ein silberner Mond. Pechschwarz, ja, pechschwarz waren ihre Haare gewesen.

      »Er hat Angst, das ist alles«, hat Lisbeth geflüstert und dann sind sie gemeinsam über Seitenstraßen und verwinkelte Wege, die Cordes unbekannt waren, zu den neu angelegten Abwasserrohren gegangen, vor denen sich Moritz ziemlich gefürchtet hatte. Sie sehen aus wie große böse Münder, die einen verschlucken wollen. Irgendwann einmal hatte Moritz das gesagt, und deshalb hielt er das Mädchen auch für eine Lügnerin. Für eine, die andere Leute anschwindelt, vielleicht, um damit Geld zu verdienen. Niemals hätte sich Moritz ausgerechnet an diesem Ort versteckt.

      Aber dann.

      Dann haben sie die unbebaute Gegend mit dem Abwassergestank abgesucht, und sie hat nach ihm gerufen, wie man nach einer vermissten Katze ruft. Noch heute wacht Cordes manchmal auf und hört seine Stimme, so leise, dass man meinen könnte, sie überhaupt nicht gehört zu haben. Aber er ist dort gewesen, ganz weit hinten in einem der Rohre, zusammengekauert, um sein Leben fürchtend, überall Unheil sehend.

      Ja, daran wird sich Josef Cordes ein Leben lang erinnern. Und auch an seinen ersten Gedanken, nachdem sie Moritz gefunden hatten: Hätte sie etwas mit den Morden zu tun, weshalb in aller Welt sollte sie ihm dann dabei helfen, seinen Jungen zu finden?

      Im Büro läutet das Telefon. Und der Schnee fällt immer noch vom Himmel.

      Kapitel 5

      Der Schnee fällt auch am Heiligen Abend vom Himmel. Kein wildes Treiben mehr, eher ein sanftes Bedecken aller Geheimnisse, um sie stumm werden zu lassen. Überraschenderweise hat weder eine völlig entnervte Kollegin noch die Stationsleitung angerufen, um sie nach einem Zusatzdienst zu fragen. Scheinbar ist die klassische Krankheitswelle um Weihnachten tatsächlich ausgeblieben. Lisbeth hat sogar mehrmals den Telefonhörer angehoben, aber die Leitung war völlig in Ordnung. Wann hat sie zum letzten Mal die ganzen Feiertage freigehabt? Vielleicht vor sechs, sieben Jahren, aber ganz sicher ist sie da nicht. Überhaupt zerteilt der unsägliche Schichtdienst das ganze Leben in merkwürdige Fragmente, die vor einem davonstieben, sobald man nur an sie denkt.

      »Was ist in dem großen Paket? Sag schon.« Marlene tanzt um den Weihnachtsbaum herum.

      Unglaublich, wie erwachsen sie geworden ist, denkt sich Lisbeth und fühlt sich gleichzeitig furchtbar alt. Nur noch ein paar kostbare Jahre, und dann wird sie davonfliegen, um alles zurückzulassen. Ihr Zimmer wird leer und verlassen sein, das Haus still und sterbend. Davor hat Lisbeth Angst. Denn Marlene ist immer ihr Anker gewesen in stürmischen Zeiten. Bereits wenige Stunden nach ihrer Geburt war sie es gewesen, die Lisbeth ins Leben zurückgeholt hatte. Weg von den dunklen Erinnerungen, die trotz einer Gesprächstherapie immer wieder in ihr gebrannt hatten wie ein ewiges Licht in tiefer Nacht. Nach den Diensten in der Ambulanz hatte sich Lisbeth nur an das Bett stellen und dieses wunderbare Kind anschauen brauchen, um wieder geheilt zu sein.

      »Jetzt sag schon!« Marlene nimmt eine der knallroten Kugeln und hängt sie von einem Zweig