Jakob Streit
Milon und der Löwe
Eine Erzählung
aus der Zeit des frühen Christentums
Mit Zeichnungen von
Henriette Sauvant
Inhalt
Fahrten nach Leptis Magna und Portus Augusti
Auf dem Sklavenmarkt in Alexandria
Wiedersehen im Haus des Andarius
Auch ein Sklave ist ein Mensch
Abschied von Athen
Über die Stadt Athen und ihre hellen Tempel auf dem Hügel der Akropolis senkten sich die Strahlen der späten Nachmittagssonne. In ungestümem Lauf jagte ein Jüngling durch die Gassen, bis er vor dem hohen, verschlossenen Tor eines Hofes ankam. Heftig hämmerte er mit der Faust gegen die hölzernen Bretter. Auf das dumpfe Poltern regten sich drinnen schlurfende Schritte. Eine Frauenstimme fragte:
«Wer ist der ungestüme Bote? Was gibt’s?»
«Ich bin’s, Tyrios! Schließe mir auf, Agaja!»
Das Tor knarrte. Der Bursche stand vor der alten Dienerin des Herrschaftshauses, die an seiner Aufgeregtheit sichtlich Spaß hatte.
«Warum so eilig? Beinah hättest du das Tor in Stücke zerschlagen. Bei der Arbeit geht’s weniger flink!»
«Wo ist Milon? Ich muss ihn sprechen. Ich habe eine wichtige Neuigkeit. Ich weiß, wo wir hingebracht werden!»
Die alte Dienerin deutete gegen den hinteren Garten.
«Er pflückt Trauben. Sage mir, Tyrios, was hast du erfahren?»
Den Schluss der Frage hörte der Jüngling schon nicht mehr, so eilig hatte er’s, seinem Gefährten Botschaft zu bringen, mit dem er bald die Stadt für immer verlassen sollte. Er fand ihn im Reblaub beim Pflücken der ersten reifen Trauben, die er sorgsam in einen Korb legte. Milon war Altersgenosse von Tyrios und wie dieser ein junger Sklave. Wirre dunkelblonde Haare gaben ihm ein wilderes Aussehen, als seine feinen Gesichtszüge zeigten.
«Milon, wir fahren nach Rom! Das Gepäck, das ich zum Hafen von Piräus brachte, musste ich auf ein Schiff tragen, das schon morgen die Segel setzt und übers Meer zur großen Stadt der Römer fährt. Es ist ein mächtiges Schiff und scheint kostbare Ladung zu bergen. Wachtposten verwehrten mir den Zutritt zum Hinterdeck.»
Tyrios schnappte nach Luft. Der schnelle Lauf, das hastige Sprechen hatten ihm den Atem vollends genommen. Milon reichte ihm eine große Traube. Zögernd fragte er:
«Dann schlafen wir heute Nacht zum letzten Male in Athen?»
Tyrios nickte lebhaft. Fast war er enttäuscht, dass Milon nicht in seine Freude einstimmte. Für eine Weile verstummten beide. Tyrios langte nach einer neuen Traube und schlürfte gierig den Saft der Beeren in seine durstige Kehle. Milon war über die unerwarteten Neuigkeiten aus Piräus erschrocken; doch ließ er sich nichts anmerken. Wortlos hob sich sein Blick über die Gartenmauer hinweg zum Hügel der Akropolis, wo die blendenden Sonnenstrahlen die hellen Marmortempel erglänzen ließen.
«Tyrios»,