Jakob Streit

Milon und der Löwe


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steigen zu den Tempeln und Abschied nehmen von Alkides und von Athen.»

      «Freust du dich denn gar nicht, von unsern alten Weibern wegzukommen, für deren Launen wir von früh bis spät arbeiten müssen? Oh, Milon, bald sind wir auf einem Schiff, fahren in die große, weite Welt! In Rom sollen wir Dienst in einem vornehmen Hause antreten, hat der Händler gesagt.»

      «Füllst du bitte meinen Korb, Tyrios?», wiederholte Milon unbeirrt seine Frage.

      «Ja, geh nur zu deinen Tempeln und Göttern! Du hast ihnen so viele Bürden Holz zum Opferfeuer hinaufgeschleppt, dass sie es dir wohl danken könnten!»

      «Tyrios, wenn ich mich heute etwas verspäte, besänftige Agaja!»

      «Das will ich wie üblich besorgen; auf ihren Liebling Milon kann sie ja nicht böse werden.»

      Bald darauf öffnete sich das große Tor. Der Junge schlüpfte durch und, es in den Angeln etwas aufstemmend, zog er es sachte hinter sich zu, damit das Knarren ausbliebe. Eigentlich durfte er das Haus heute nicht mehr verlassen, so hatte der Händler befohlen, der sie beide gekauft hatte. Behände durcheilte Milon Gassen und Straßen, die ihn in die Richtung der Akropolis führten. Als er den felsigen Hügel zwischen Zypressen und Olivengärten aufwärts wanderte, überglänzte ein abendlich goldfarbenes Licht die Tempel, die sich vom blauen Himmel wie eine leuchtende Stadt der Götter abhoben. Milon blieb einen Augenblick gebannt stehen. Ihm war, als sähe er die Akropolis zum ersten Mal in ihrer ganzen erhabenen Schönheit, jetzt, da er Abschied von Athen nehmen musste. In seiner Brust hämmerte das Herz vom schnellen Laufen. In das Pochen und Pulsen mischten sich Bewunderung und Abschiedsschmerz. Mit diesen Säulen und Bauten war er groß geworden. Dort drüben an der Mauer hatte er jedes Frühjahr mit einem Stein ein heimliches, nur ihm bekanntes Zeichen eingeritzt, damit er wusste, wie viel er Jahr für Jahr gewachsen war. Im Weitergehen verlangsamte er unwillkürlich seine Schritte, wie um die Zeit des Abschieds auszudehnen. Als er zum letzten Aufgang kam, der zu den großen Hallen der Propyläen hinaufführte, blickte er rückwärts auf die Stadt mit den dämmernden Gassen. In der Ferne glitzerte das Meer, das ihn morgen in unbekannte Zukunft tragen sollte. Bedächtig, beinahe feierlich erstieg er die letzten Stufen, die ihn zu den wuchtigen Säulen hinauf brachten. Milon achtete nicht auf die Menschen, die an ihm vorübergingen. Er trat zu einer Säule, die das Licht des Tages getrunken hatte, und schob beide Hände aufwärts durch ihre Rillen. Er fühlte die rückstrahlende Sonnenglut. Da presste er auch die Stirn an den warmen Stein. Er schloss die Augen, flüsterte Worte und wusste nicht was.

      Plötzlich hörte er seinen Namen rufen. Erschrocken löste er sich von der Säule. Vor ihm stand eine hohe Gestalt in weißem Überwurf. Es war Alkides, der junge Priester. Milon hatte sich vor längerer Zeit mit ihm angefreundet, da er als Holzträger für die Opferfeuer dreimal die Woche hier oben diente, wie sein Herr es ihm anbefohlen hatte.

      «Ist dir elend, Milon? – Du bist verspätet. Das abendliche Opfer ist vorüber. Komm mit mir, begleite mich in die Stadt zurück!»

      «Ehrwürdiger Alkides, ich bin verkauft worden … Es ist das letzte Mal, dass ich zur Akropolis komme … Abschied zu nehmen. Morgen muss ich auf einem Schiff Griechenland verlassen. Ein römischer Händler … Italien!»

      Erstaunt, ja ungläubig blickte der junge Priester auf Milon, fasste ihn am Arm.

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      «Wie ist das möglich? Was hat sich zugetragen, dass dein Herr dich so plötzlich weggeben will? Hast du seinen Zorn entfacht?»

      «Nein, edler Alkides. Mein Herr ist unterwegs auf einer Reise nach Eleusis unglücklich vom Pferde gestürzt und auf der Stelle gestorben. Seine Frau, meine Herrin, verkauft nun Haus und Sklaven und zieht zu ihrem Sohne nach Olympia. Tyrios und ich sind gestern von einem Römer erworben worden.»

      Milon hatte im Erzählen das Haupt gesenkt, und Alkides bemerkte, wie Verzweiflung sich über das Antlitz des Jünglings legte, der ihm so oft bei den Verrichtungen des Opfers die niedere Arbeit abgenommen hatte. Er fühlte, wie schwer ihm der Abschied von Athen fallen musste. Einen Augenblick sann er nach, dann machte er einen ungewöhnlichen Vorschlag:

      «Komm, Milon, lass uns zum Tempel der Göttin gehen, um für dich den Abschiedssegen zu erflehen!»

      Als sie die letzten Stufen zum Eingangstor gemeinsam erstiegen, rötete der Glanz des Abends die Säulenhallen. Stumm schritten die beiden weiter hinauf zum Parthenon-Tempel. In der Vorhalle breitete Alkides seine Arme aus und sprach für Milon ein Gebet. Danach setzten sie sich draußen auf die oberste Stufe des Tempels zu Füßen einer der riesigen Säulen. Das Bild des sinkenden Sonnenwagens lag vor ihnen.

      «Erzähle», sprach Alkides, «wie kam es, dass du so weit weg ins römische Land verkauft worden bist? Fand sich hier in Athen kein neuer Herr für dich?»

      «Gestern brachte der Sohn meiner Herrin einen Händler von Piräus herauf. Der kauft junge griechische Sklaven, um sie nach Rom zu bringen. Sein Schiff liegt im Hafen zur Abfahrt bereit. Er schien gute Preise zu bieten. Tyrios und ich wurden vom Fleck verkauft. Du weißt ja, edler Alkides, Sklaven werden nicht befragt, was mit ihnen zu geschehen habe. Morgen früh werden wir abgeholt. Mir selber ist bange vor den Römern. Wie ich hörte, tragen sie in ihrem Wappen als Zeichen den Wolf. Es heißt, fast alle Völker der Erde seien ihnen untertan. Alkides, du musst es wissen: Wie ist es mit den Römern? Vielleicht kannst du meine Furcht zerstreuen?»

      Fragend schaute Milon auf den Priester, als ob seine Zukunft auf dessen Lippen ruhe.

      «Junger Freund», begann dieser, «gerne hätte ich dir vergönnt, hier in Athen bleiben zu dürfen. Lieber ein Sklave in Athen als ein Freier in Rom! Wir Griechen sehen in den Römern unsere stolzen Besieger, denen wir Tribut zahlen müssen. Die Gunst der Götter ist von uns gewichen, da sie uns besiegten. Unsere Tempel haben sie in Rom nachgebildet und Götterbilder darin aufgestellt, die sie uns raubten. Unser Dienst an den Göttern ist bei ihnen ein äußerliches, abergläubisches Treiben geworden. Sei aber nicht bange, Milon: So die Göttin des Schicksals deinen Weg nach Rom lenkt, geh ihn getrost. Wo du auch sein wirst, die vielen Opferfeuer, die du hier an den Altären mitgefeiert hast als wackerer Holzträger, werden dir auch in Rom weiterleuchten. Die Tempel und Säulen der Akropolis bleiben in deinem Innern aufgerichtet. Wenn du einmal in schwere Bedrängnis und Trübsal gerätst, dann schließe deine Augen; lass in dir die Tempel Athens im Bilde aufleuchten. Mut und Zuversicht werden sich in dein Herz senken; denn über allem Menschlichen walten die ewigen Götter!»

      Alkides hielt inne. Seine Hände tasteten in die Falten des Priesterkleides und brachten eine bronzene Schaumünze zum Vorschein mit dem Haupt der Göttin Athene.

      «Hier, Milon, nimm dies als Andenken; dann trägst du immer ein Stück Athen mit dir.»

      Als ob er eine große Kostbarkeit mit seiner Hand umschlösse, presste Milon das Geschenk gegen seine Brust:

      «Ich danke dir, Alkides! Du machst mir den Abschied schwer und leichter zugleich. Leuchtet nicht dieselbe Sonne über Athen und Rom? Kreisen nicht dieselben Sterne über der weiten Erde?»

      «So ist es», bestätigte Alkides.

      «Ich sehe, du wirst nicht verzagen im fremden Lande. Lass uns jetzt gemeinsam den Weg zur Stadt hinunterschreiten und im Wandern Abschied nehmen. Es beginnt zu dunkeln. Schon glänzen die ersten Sterne. Sieh dort drüben, der Abendstern! Das Gestirn der Göttin Aphrodite steht über dem Meere, ein gutes Vorzeichen für deine Fahrt!»

      Als Milon in der Abenddämmerung heimkehrte, fand er das Hoftor unverschlossen. Sachte stieß er es auf, doch Agaja, die auf das Heimkommen des Ausreißers harrte, nahm das leise Knarren wahr. Ihre aufgeregte Stimme wurde laut. Sie eilte aus dem Hause. Kaum erblickte sie Milon, stürzten ihr die Tränen in die Augen:

      «Tyrios ist schon fort, nach Piräus. Der römische Händler war hier und wollte auch dich gleich mit auf das Schiff bringen.»

      «Er hat uns doch auf morgen früh bestellt, warum die plötzliche Eile?», entgegnete Milon erschrocken.

      Agaja fasste