war sehr zornig, weil er dich nicht vorfand. Ich fürchte, man wird dich morgen früh auspeitschen, wenn du verspätet aufs Schiff kommst. Ich rate dir, Milon, geh nicht nach Piräus, geh nicht zu den Römern! Verlasse heimlich Athen, flieh in die Berge zu meinem Bruder, der über Delphi die Schafherden weidet. Dort sucht man dich nicht. Du kennst den Weg. Dort bist du sicher vor Häschern. Du kannst wieder Schafhirte sein, wie du es als kleiner Knabe warst. Später, wenn alles vergessen ist, kehrst du wieder nach Athen zurück als freier Mann!»
Agaja bewegte zitternd die Lippen, auch als sie nicht mehr sprach. Sie heftete ihre sorgenden Augen auf den Jüngling, sein Einverständnis erwartend. In der stummen Pause fiel Milons Blick über die Gartenmauer auf den Stern, der über dem Meere glänzte. Er hörte des Alkides Abschiedsworte:
«Das Gestirn der Aphrodite, ein gutes Vorzeichen für deine Fahrt!»
Ja, er hatte Abschied von Athen genommen. Er wollte den Weg gehen, der ihm vorgezeichnet war: mit Tyrios über das Meer nach Rom! In einer plötzlichen Regung strich er der guten Agaja über die weißen Haare, hielt ihren Kopf zwischen seinen Händen, sprach fest und bestimmt:
«Agaja, die Welt öffnet sich vor mir! Ich werde das Schiff noch heute Abend besteigen und mit der römischen Wölfin fahren. Liebe Agaja, du warst mir stets wie eine Mutter. Ich werde dich auch in fernen Ländern nicht vergessen. Geh hin und wieder hinauf zur Akropolis, bete für mich beim Parthenon!»
Nach diesen Worten löste er seine Hände von Agajas Haupt und fuhr fort:
«Damit der römische Händler nicht zu böse wird, binde ich sogleich meine kleine Habe in das Reisetuch, das du mir gegeben hast, und eile unverzüglich zu dem römischen Schiff.»
Wie auch Agaja leise für sich jammerte, sie spürte, Milon war fest entschlossen, und so half sie mit, seine geringe Habe einzupacken, der sie Früchte und Honigbrot beifügte.
Als Milon nach einer kurzen Weile das Hoftor öffnete, fiel sein langer Schatten hinaus auf die Pflasterung der Gasse. Agaja hob die Ampel gegen sein Antlitz, sich sein Bild ein letztes Mal einzuprägen, und legte ihm zärtlich eine Hand auf die Schulter. Sie hatte an ihm in ihren alten Tagen einen Sohn gefunden und ihm während sieben Jahren ihre Liebe gegeben.
«Ich werde früh morgens ans Meer hinunterkommen und deine Abfahrt segnen!», sprach sie bestimmt.
Milon wehrte es ihr nicht, und so fügte sie bei:
«Dein Schiff werde ich finden. Schaue nach mir aus; es soll dir Glück bringen!»
Es war ein weiter Weg, den Milon in der Nacht bis ans Meer zu gehen hatte. Als leichtfüßiger Läufer kam er bald auf die breite Straße, die die Stadt Athen mit dem Meere verband. Noch befanden sich im dämmrigen Dunkel Eselskarren und beladene Maultiere unterwegs, die Waren vom Meerhafen hinauf in die Stadt brachten. Hinter sich vernahm Milon plötzlich das Rattern eines größeren Gefährtes. Ein Pferdegespann, begleitet von vier fackeltragenden Läufern, fuhr einen vornehmen Wagen in Richtung Piräus. Eine günstige Gelegenheit mitzuhalten, dachte Milon, und er eilte kurz hinter dem Wagen her. So kam er viel rascher vorwärts, weil er immerzu dem Schimmer der Fackeln folgen konnte. Milon fühlte sich glücklich im leichten Laufen, da er ohne besondere Anstrengung mit den geübten Fackelträgern Schritt zu halten vermochte. Ihm war plötzlich, die Lichter gäben ihm selbst das Geleit, und wiederum sah er vorne den Abendstern über dem Meere glänzen, dem er entgegeneilte. Athen im Rücken und im Feuerlauf in ein neues Leben! – Das Traben der Pferde über die Pflasterung fuhr ihm in die Glieder und berauschte ihn. Jubel durchzog seine schnell atmende Brust. Immer wieder musste er von Zeit zu Zeit einen Sprung hochauf in die Luft nehmen. Vergessen war sein Sklavensein, das ihn bis jetzt noch kaum bedrückt hatte unter der Obhut der guten Agaja. Vergessen, dass Rom die Wölfin im Wappen führte. Vor ihm unbekannte, ferne Ufer, in sich den Mut, sich in die Welt zu wagen.
Auf dem Schiff «Augusta»
Der Hafen von Piräus war noch nicht zur Ruhe gekommen, als Milon, sein römisches Schiff suchend, am dunklen Gestade umherirrte. Schiffsleute kehrten aus Weinstuben zurück auf ihre Schiffe. Zwei Betrunkene torkelten fluchend durch die Finsternis, weil sie ihr Boot nicht fanden. Vorbeihuschende Fackeln erhellten für Augenblicke einzelne Gesichter. Wo sollte Milon, der nicht einmal den Namen des gesuchten Schiffes kannte, es jetzt in der Nacht finden? Als wiederum ein Fackelträger ihm entgegenkam, redete er ihn an:
«Kannst du mir sagen, wo ich das römische Schiff finde, das morgen nach Rom ausfährt?»
Der Angesprochene, ein älterer Seemann, antwortete:
«Die Römerschiffe fahren zumeist im vorderen Hafen ab, da sie größer sind als die Fischerboote, die hier im hinteren Hafen anlegen. Geh nach vorne!»
So begab sich Milon weiter meerwärts; doch war nur langsames Gehen möglich, da man auf Schritt und Tritt über Steine, Pflöcke und Taue stolperte. Von hinten nahte eine Gruppe Männer mit Fackeln.
Denen schließe ich mich an, dachte Milon.
Er ließ die Schar Seeleute an sich vorüberziehen. Ihm fiel auf, wie stumm diese meist jungen Leute daherkamen, eine Schar von Sklaven, mit Gepäck, wohl an die dreißig. Plötzlich gewahrte er in ihrer Mitte seinen Freund Tyrios, den er längst auf dem römischen Schiff wähnte. Im Augenblick war er neben ihm her und flüsterte: «Tyrios, ich bin da!»
Der Angesprochene wendete rasch den Kopf. Ein Freudenschimmer überflog sein Antlitz. Mit gedämpfter Stimme antwortete er:
«Milon, den Göttern sei Dank, dass du gekommen bist! Halte dich dicht bei mir. Der Händler kommt mit den Aufsehern kurz hinter uns nach. Er ist schlecht gelaunt, weil du und zwei andere nicht zu Hause vorgefunden wurden. Nun muss er morgen früh nach den Vermissten aussenden. Vorher kann das Schiff nicht ausfahren. Den Kaufpreis hat er für alle schon bezahlt.»
«So laufe ich jetzt mit dir und schleiche mich ein mit euch allen.»
«Das geht nicht», versetzte Tyrios, «unsere Namen sind auf einer Wachstafel aufgeschrieben worden. Sobald wir zum Schiff kommen, melde dich beim Händler an. Wir mussten lange warten in der Stadt beim Marktplatz, bis alle zusammengebracht waren. Nun bist du uns gar zuvorgekommen. Pass auf! Wir nähern uns dem Schiff. Die vordersten Fackelträger sind stehen geblieben.»
Ein breit ausladendes Segelschiff ragte aus dem Dunkel empor, vom Fackelschein dürftig beleuchtet. Rufe erschollen, eine Leiter wurde herabgelassen. Die Sklavenschar erstieg auf angelegten schiefen Balken den Schiffsbauch, indes vorn ein Aufseher einen jeden nach der Wachstafel verzeichnete.
«Jetzt ist der Augenblick», sagte Tyrios zu Milon, «dass du dich hinten beim Händler und Schiffsherrn anmeldest. Ich komme mit dir.»
Die beiden begaben sich unauffällig an das hintere Ende der Sklavenschar. Tyrios trat mit Milon zu dem römisch gekleideten Kaufmann und grüßte ergeben.
«Edler Herr», redete er ihn an, «hier ist mein Gefährte aus dem Hause des Midias, der eben auf einem Botengang unterwegs war, als du uns beide abholen wolltest. Nun ist er in aller Eile zum Hafen gekommen und bittet um Verzeihung für die ungewollte Säumnis.»
Nach Sklavenart warf sich jetzt Milon vor seinem neuen Gebieter nieder. Vor Erstaunen über die Höflichkeit und Wortgewandtheit des Tyrios blieb dem Händler der Mund offen. Er vergaß, seine Lederpeitsche zu ziehen, die ihm im Gürtel steckte, und meinte schließlich:
«Und wo sind die zwei anderen?»
Prompt erwiderte Tyrios:
«Darüber ist mir nichts bekannt.»
«Verdammte Kerle!», zischte der Händler. «Dieser da lasse sich auf der Wachstafel eintragen!»
Mit einer winkenden Gebärde des Händlers waren sie entlassen. Erleichtert begaben