Йозеф Рот

Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke


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schwarzen Schleife trug. Das Kind war von den traurigen Aufregungen verstört und still. Der neue Mann mit dem hölzernen Fuß und dem Instrument gefiel ihr trotz seiner Fremdheit. Sie wurde sehr zutraulich. Sie war fünfjährig, ein Mensch in jenem Alter, in dem man noch ein wissender Gott ist, vor dem die verborgene Güte der anderen sichtbar liegt wie buntes Gestein unter klarem Bergwasser.

      Dann floß das Gespräch, unterbrochen von Kaffee und hausgebackenem Kuchen, eine stille Totenfeier für Herrn Blumich. »Er hatte eine großartige Garderobe«, rühmte die Frau, »und gerade so gewachsen wie Sie war er auch. Zwei braune Anzüge sind kaum fünf Jahre alt, damals war er noch Soldat, und ich hab mich um ihn gesorgt, wäre er doch draußen gestorben, wer kann da wissen, vielleicht wäre der Schmerz kleiner und das Kind nicht da, ein vaterloses Kind! Ach, Sie wissen ja nicht, wie eine ganz allein, mutterseelenallein stehende Frau in dieser bösen Welt lebt. Sie können das gar nicht wissen, die Männer können das gar nicht wissen.«

      »Meine Mutter, die selige, war auch eine junge Witwe geblieben«, glaubte Andreas sagen zu müssen.

      »Und sie hat nie wieder geheiratet?«

      »Ja, sie hat einen Klempner genommen.«

      »War er brav?«

      »Sehr brav.«

      »Lebt er noch?«

      »Nein, sie sind beide im Krieg gestorben.«

      »Beide im Krieg?«

      »Ja, beide.«

      »Nun, wenn man so glücklich ist und der zweite Mann auch ein guter treuer Lebenskamerad.« Hier hielt es Frau Blumich angezeigt zu weinen, sie suchte nach ihrem Taschentuch, fand es und brach aus.

      Andreas hielt diese traurige Szene nicht mit Unrecht für eine günstige Fügung. Jetzt konnte er es mit Aussicht auf Erfolg wagen. Und indem er sich über die schluchzende Frau beugte und wie von ungefähr ihre Brust streifte, sagte er:

      »Ich will Ihnen immer treu sein.«

      Frau Blumich entfernte das Taschentuch und fragte mit einer fast nüchternen Stimme:

      »Wirklich?«

      »So wahr ich hier sitze.«

      Frau Blumich stand auf und drückte einen Kuß auf Andreas’ Stirn. Er suchte ihren Mund. Sie fiel auf seinen Schoß. Sie blieb dort sitzen.

      »Wo wohnst du jetzt?« fragte sie.

      »In einer Pension«, sagte Andreas.

      »Es ist nur wegen der Leute. Sonst könnten wir morgen schon zusammenziehen. Wir warten vielleicht vier Wochen.«

      »So lang?« fragte Andreas und schlang beide Arme um Katharina, fühlte die stramme Weichheit ihres Körpers und wiederholte klagend: »So lang?«

      Katharina riß sich mit einem entschlossenen Ruck los. »Was sein muß, muß sein«, sagte sie streng und so überzeugend, daß Andreas ihr recht gab und sich fügte, aber allsogleich die süßesten Zukunftsträume zu spinnen begann.

      Was war er doch für ein Glückspilz! Dergleichen Dinge geschahen nicht alle Tage, es waren keine gewöhnlichen Dinge, es waren Wunder. Wie viele seinesgleichen erwarteten jetzt zitternd den Winter, wie einsame, schwache Gesträuche, wissend, daß sie preisgegeben und zum Tode verurteilt, und dennoch ohne Kraft, dem langsam vernichtenden Schicksal durch einen schnellen Selbstmord zuvorzukommen. Ihn aber, Andreas Pum, unter tausend Invaliden, hatte die Witwe Katharina Blumich erwählt, die er langsam und wie um sich vorzubereiten »Kathi« zu nennen begann. Sein war nun das erträumte Weib, das starkbusige, breithüftige, warme; brünstige Weichheit entströmte ihrem Körper, ein verlangender und betäubender Dunst, der langentbehrte Duft des Weibes, der selbst schon schwellend ist, wie das Fleisch wogend, wie ein Busen, der Duft, in den man sich betten kann wie auf einen Leib.

      Reich an Vorzügen war Katharina Blumich. Aber nicht viel ärmer erschien in manchen Stunden Andreas sich selbst. Er war ein Mann von seltenen Gaben des Gemüts. Fromm, sanft, ordnungsliebend und in vollendeter Harmonie mit den göttlichen und den irdischen Gesetzen. Ein Mensch, der den Priestern ebenso nahestand wie den Beamten, von der Regierung beachtet, man konnte sagen: ausgezeichnet, niemals vorbestraft, ein tapferer Soldat, kein Revolutionär, ein Hasser und Verächter der Heiden, der Trinker, der Diebe und der Einbrecher. Welch ein Unterschied zwischen ihm und Willi zum Beispiel! Zwischen ihm und den vielen anderen, Unkontrollierbaren, die in den Höfen spielten und sangen, und all das ohne Lizenz! Der fernhallende Schritt des Polizisten erschreckte sie, stets konnte sie die Anzeige des bösen Nachbars erreichen, die geringen Einnahmen verloren sie am Schanktisch, Zuhälter, Verbrecher, die sie waren! Wieviel Beispiele konnte Andreas aus seiner Spitalzeit nur anführen, wie wimmelte es unter den Kranken von Heiden! Wie viele hatten häßliche, entstellende und ansteckende Krankheiten! Die armen Weiber! Sie wußten ja gar nicht, wem sie sich auslieferten! Aber Andreas war rein an Körper und Seele, wie geimpft gegen Sünden und Leiden durch das Leben gegangen, ein gehorsamer Sohn seines Vaters und später ein gern gehorchender Untergebener seiner Vorgesetzten. Er schielte nicht nach den Gütern der Reichen. Er kroch nicht durch die Fenster in ihre Villen. Er überfiel niemanden in den dunklen Alleen des Parks. Dafür belohnte ihn das Schicksal mit einem musterhaften Weibe. Jeder ist seines Glückes Schmied. Er verdiente das Gute. Nichts fällt einem so in den Schoß. Rebellen denken so. Sie täuschen sich. Sie fallen immer herein.

      Plötzlich unterbrach ein Schrecken Andreas’ fröhlichen Gedankenflug. Der Schmied Bossi fiel ihm ein und sein eigenes Zittern vor der Kommission, dem er die Lizenz zu verdanken hatte. Wie, wenn sich dergleichen wiederholte? Wer konnte wissen, ob nicht in seine Glieder, in seinen Körper, in sein Blut der Keim des Zitterns gelegt war, ob er nicht zur unrechten Zeit sprießen und stark würde, den armen Andreas überwältigend und ihn vernichtend? Wie kam er eigentlich dazu, vom Schicksal vor allen anderen ausgezeichnet, eine Lizenz zu besitzen, ohne dauernd zu zittern? Würde das Geschick sich nicht plötzlich einmal seinen Lohn holen? Er wollte Sicherheit haben, zum Doktor gehen.

      Zum Doktor? Wir haben ein berechtigtes Mißtrauen gegen die Doktoren. In ihren Wartezimmern wird man krank. Während sie mit ihren Händen, ihren Instrumenten, ihrem Verstand nach unserer Krankheit forschen, überfällt sie uns, an der wir niemals gelitten. Die Brille des Doktors, sein weißes Gewand, der Duft, den er ausströmt, die mörderische Sauberkeit seiner Gläser und Pinzetten liefern uns dem Tod aus. Noch hat ein Gott, der über allen Doktoren ist, über unsere Gesundheit zu entscheiden; und da er sich bis jetzt so freundlich erwiesen, ermutigt er uns geradezu selbst, auf ihn zu bauen.

      Andreas’ Nächte gebaren diese Gedanken und Befürchtungen, fruchtbar und beständig, bald grausam und bald freundlich. Ach! Das alles war wohl nur die Sehnsucht nach Katharina Blumich. Die Tage aber, die erfüllt sind von der Geschäftigkeit der anderen und unserm eigenen Tun, die hellen Straßen und ihre eilenden Menschen, die Kinder in den Höfen und die Dienstmädchen an den Fenstern geben uns, obwohl sie nichts gemein haben mit dem Ziele unseres Herzens, dennoch die tröstliche Gewißheit, daß wir es erreichen. Vor allem klang jeder Tag in einen Nachmittag im Hause der Frau Blumich aus, der Kathi, in einen Kaffee und in ein geflüstertes Liebesgespräch. Dieses bestand keineswegs aus eitlen oder verlegenen, heißen und gestammelten Liebesschwüren, sondern verfolgte praktische Zwecke und erwies die großen Vorteile der weiblichen Klugheit, die niemals ohne Anmut ist.

      »Wir werden das Geschäft ausbauen«, sagte Katharina. »Wir werden einen kleinen Esel kaufen und deinen Kasten auf einen Handwagen stellen, dann brauchst du ihn nicht zu schleppen!«

      Welch ein leuchtender Kopf! Welch ein liebreicher Einfall: einen Esel zu kaufen!

      Ein Esel ist ein dummes, aber geduldiges Tier! dachte Andreas. So oft hatte er davon gehört. Esel halten viel aus. Dieses Tier war wie geschaffen für unsere Zwecke. Es übt in den Höfen und in den Straßen entschieden eine Anziehungskraft aus.

      »Wie wollen wir den Esel nennen?« fragte Katharina.

      Wirklich! An alles dachte sie. Wie konnte man einen