Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
litt Herr Arnold an einer chronischen und, wie man sieht, unbegründeten Unzufriedenheit. Er selbst wußte freilich Gründe genug. Einerseits regten ihn die Zeitverhältnisse auf. Er hatte von seinen Ahnen einen ausgeprägten Sinn für Ordnung geerbt, und ihm war, als gingen die Tendenzen der Gegenwart dahin, diverse Ordnungen zu stören. Andererseits näherte er sich jenem Alter eines Familienvaters, in dem eine weibliche Abwechslung zur Erhaltung des inneren Gleichgewichts nötig wird. Dieser Liebesdrang aber verursachte eine gewisse Unsicherheit, welche die Ordnung des Tags und noch mehr der Nacht zu sprengen drohte, und teilte sich allmählich der ganzen Tätigkeit des Herrn Arnold mit, beeinflußte die großen Abschlüsse und sogar die Erledigung der Korrespondenz; insbesondere diese, weil Arnold die Briefe der jungen Veronika Lenz, die geradezu absichtlich diesen Namen trug, zu diktieren pflegte.
Nun war Fräulein Lenz allerdings so gut wie verlobt. Dennoch hätte sich ein in den Dingen der Verführung mehr geübter Mann durch diese Tatsache nicht abhalten lassen. Gerade die mangelnde Übung hatte bis jetzt den Herrn Arnold ausgezeichnet, seine Solidität unterstützt, seinen Ruf begründet und ihm die Kraft gegeben, sich gegen die zersetzenden Erscheinungen des gegenwärtigen Lebens zu empören. Ach! wie bangte ihm vor dem Tag, an dem er sich in den traurigsten Widerspruch zu seiner ganzen Existenz bringen würde, und wie sehnte er diesen Tag herbei! Wie mußte er sich stündlich vor sich selbst, vor seiner Umgebung, seinem Kompagnon, seiner Frau und seinen Kindern in acht nehmen. Und wie schwer fiel es ihm!
Denn es war nicht leicht, Veronika Lenz zu vergessen, ein hellblondes Mädchen mit kräftigen Händen und einem merkwürdig zarten Angesicht, in einer sehr vorteilhaften Kleidung, welche die wichtigsten Bestandteile des Körpers mit einer aufregenden Deutlichkeit ahnen ließ. Unvergeßlich blieb sie besonders an jenen Tagen, an denen sie in einer dunkelgrünen ärmelfreien Bluse erschien und ein braunes Muttermal in der warmen, blauschattenden Ellbogenhöhlung sichtbar machte. Diese Stelle zu küssen, wünschte sich Herr Arnold.
Er zweifelte nicht daran, daß es ihm gelingen würde, wenn er nur erst einmal den Entschluß gefaßt hätte. Denn seine breitschultrige rötlichblonde Männlichkeit mußte imponieren; obzwar sein Angesicht ein erblicher Fehler störte, der in verschiedenen Gesichtern der Familie Arnold seit Jahrhunderten schon heimisch war. Herr Arnold besaß eine schiefe, unten abgeplattete Nase. Das rührte von der schiefstehenden Scheidewand her, welche das eine Nasenloch rund, das andere dreieckig gestaltete. Immerhin versuchte die Natur, die auch in ihrer Bosheit noch gütig ist, diesen Fehler dadurch zu mildern, daß sie das Nasenende fleischig, platt und beweglich machte. Diese Rührigkeit konnte gelegentlich die schiefen Löcher als eine momentane Verschiebung gelten lassen, etwa durch ein zu starkes Schneuzen verursacht. Den flüchtigen Betrachter täuschte überdies auch der buschige, rötliche Schnurrbart, der die Nase als einen Gesichtsteil zweiten Ranges erscheinen ließ und sich auf ihre Kosten hervorragend bemerkbar machte.
Unbezweifelbar männlich waren alle anderen Merkmale der Arnoldschen Körperlichkeit. Schritt er, Briefe diktierend, durchs Zimmer, so seufzte die Diele unter seiner kräftigen Sohle. Er hatte die Gewohnheit, mit vorgeneigtem Körper, die Hände in den Rocktaschen, auf einem Fuß eine Weile lang stehenzubleiben und mit der Spitze des anderen den Teppich zu berühren, so daß er von ferne an die Stellung einer Statue gemahnte, die einen eilenden Mann in einem bestimmten Moment seines Laufes festhält. Erst nach zwei oder drei Sekunden berührte die Ferse des anderen Fußes den Boden. Die Schritte waren gewaltsam breit und raumfressend. Das Diktat klang streng, und der Stil der Briefe erinnerte, auch wenn sie Höflichkeiten enthielten, an Rügen und Verweise. Obwohl Herr Arnold bereits seit mehr als zehn Jahren für die Firma Briefe zeichnete, bereitete ihm seine Unterschrift doch immer neue Freude. Denn sie war, und wurde sie auch noch so oft gegeben, wie eine Bestätigung der Arnoldschen Macht und rein als graphische Erscheinung ein imponierendes Ornament. Deshalb verrichtete er seine Unterschriften in einer atemraubenden Stille, schnell und dennoch sorgsam, in der Linken die Löschwiege als ein Mittel, die scharfe Wirkung des tintenfeuchten Namens zu beschwichtigen.
Indessen stand Veronika Lenz hinter seinem Stuhl und bezauberte ihren Herrn, ohne es zu wollen. Es war gewiß, daß sie keine anderen Absichten hegte, als die Korrespondenz gewissenhaft zu erledigen und die Stätte ihrer Arbeit schnell zu verlassen. Aber gerade daran zweifelte Herr Arnold. Denn sowenig er auch sonst vom Leben der jungen Mädchen dieser Zeit wußte, so viel schien ihm doch sicher: daß jemand, der so gut wie verlobt war, noch keine Braut genannt werden konnte. Diese Bezeichnung allein hätte ihn mit jenem distanzierenden Schauder erfüllt, den wir den geweihten und heiligen Namen gegenüber empfinden. An sündhafte Beziehungen zu fremden Bräuten dürfen wir nicht einmal im Traum denken. Es gleicht fast einem Ehebruch. Einem Raub fremden Gutes. Einem tückischen Diebstahl. Wir aber leben in einer Welt, in der das Eigentum des Nächsten geschont werden muß. Wo kämen wir denn sonst hin!
Dagegen bedeutet eine Verlobung, die noch nicht feststeht und die unter gewissen Umständen überhaupt nicht zustande kommen könnte, noch keinen heiligen Brautstand. Ja, sie gleicht viel eher einem weniger heiligen Verhältnis, auf das man keine Rücksichten zu nehmen braucht – insbesondere, wenn man weiß, daß jener Mann ein Tunichtgut ist, ein Artist, ein Komödiant, der durch die Städte der Welt reist und wahrscheinlich in jeder Stadt ein Mädchen besitzt. Ihn macht man nicht arm. Ihm raubt man gar nichts. Man tut – im Gegenteil – vielleicht ein gottgefälliges Werk, indem man dem Mädchen die Augen öffnet und ihren stumpfen Sinn für die bitteren Wirklichkeiten dieser Erde schärft, die man nur vergessen und besiegen kann in kurzen, vorübergehenden und vor allem folgenlosen Räuschen.
Nachdem Herr Arnold durch derlei sorgfältige Überlegungen dazu gekommen war, den außergewöhnlichen Zustand seiner Verliebtheit als einen gewöhnlichen Wohltätigkeitsdrang erscheinen zu lassen, verlor er die Angst vor den Schwierigkeiten, die sich seiner Eroberung entgegengestellt hatten. Und so geschah es, daß er eines Tages, während er Unterschriften gab, die Löschwiege langsam hinlegte, seine Feder in das Tintenfaß steckte und – sich schnell erinnernd, daß man Federn ohne Schaden nicht in der Tinte lassen könnte – sie sofort wieder auf dem eisernen Haltergestell sorgfältig plazierte. Hierauf wandte er seinen Kopf, streckte beide Arme hoch und umklammerte den süßen, gebückten Nacken des blonden Mädchens.
Veronika Lenz stemmte sich gegen die umarmenden Hände, deren Druck stärker war und siegreich blieb. Sehr erschrocken und stöhnend in vergeblicher Abwehr mußte sie ihr Angesicht der Wange des Herrn Arnold nähern. Sie sah dabei die rötlichen Haarbüschel in seinen Ohren, roch den kalten Dunst von Zigarren und menschlichem Fett, der aus den Fugen zwischen Kragen und Hals des Mannes zu strömen schien. Die Rückenkante des Stuhls schnitt schmerzhaft in ihren Leib. Sie schloß die Augen, wie um den Tod zu erwarten, und fühlte einen Biß auf ihrer Wange.
Jetzt erst riß sie ihren Kopf heftig zurück, spuckte auf den Nacken des Herrn Arnold, raffte Jacke, Hut und Tasche zusammen und stürzte hinaus.
Arnold blieb nur eine Hoffnung: daß dieses Mädchen, das er jetzt haßte, nicht mehr kommen würde. Er wollte ihr sofort eine größere Summe anweisen lassen. Diesen beschämenden Vorfall würde er einmal schon vergessen. Man kommt über alles hinweg. Arbeiten und nicht verzweifeln! Allzeit Kopf hoch! Auch der Klügste begeht Dummheiten. Und schon träumte er, daß ein Jahr verflossen und das Ereignis begraben sei unter der wuchtigen Fülle von dreihundertfünfundsechzig arbeits-und abschlußreichen Tagen.
Also sein aufgeregtes Gemüt besänftigend, begab er sich im Automobil nach Hause, trat er mit lautem, herablassendem Gruß in sein Zimmer, küßte er beide Wangen seiner immer noch schönen Frau, versprach er den Kindern Geschenke zu Weihnachten, fand er ein leutseliges Wort für das Dienstmädchen, schüttete er Gnaden über sein Haus. Dann schlief er eine lange, ruhige, gesunde Nacht und fuhr des Morgens pfeifend ins Geschäft.
Hier aber unterbrach Luigi Bernotat, ein Tierstimmenimitator aus dem Rokoko-Varieté, Herrn Arnolds zuversichtliche Laune. Luigi Bernotat, ein Mann von höflichen Formen, entschuldigte sich zuerst, daß er so früh schon störe, und begann, ohne zu zögern, von seiner Braut zu sprechen, die durch eine bedauerliche Zudringlichkeit eines Herrn dieses sonst so angesehenen Hauses gezwungen sei, den Dienst aufzugeben und eine Abfertigung zu verlangen.
»Mit dem größten Vergnügen«, unterbrach hier Herr Arnold Luigi