Joseph Roth: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen und Ausgewählte Journalistische Werke
als der Verlobte der Dame, mich schwer gekränkt. Ich bin also gekommen, um Ihnen anzukündigen, daß ich den Gerichtsweg beschreiten werde, daß ich fest gesonnen bin, den Gerichtsweg zu beschreiten – schon um ein Exempel zu statuieren.«
Jetzt entstand eine drohende Pause.
Herr Arnold ergriff das blanke Lineal aus Eisen; er drückte die Finger an das kühle Metall, es tat ihm wohl und vertrieb wenigstens an einer Körperstelle und für eine kurze Weile die plötzliche Hitze, die sich seines ganzen Leibes bemächtigt hatte. Er will erpressen, er will erpressen, ich bin hereingefallen, ich bin schön hereingefallen, dachte Herr Arnold. Dann stand er auf und sagte:
»Wieviel wollen Sie?«
Luigi Bernotat schien diese Frage erwartet zu haben. Denn wie ein Schauspieler, dessen Stichwort gefallen, begann er langsam und sicher, mit künstlichen Pausen und abwechselnd sehr schnell fließendem Vortrag eine Rede, und seine Stimme bannte ihren Zuhörer so, daß er eine kurze Zeit nur auf das mähliche Steigen und Fallen des Tones hörte, ohne zu unterbrechen.
»Sie denken wohl«, sagte Luigi Bernotat, »ich wäre ein Erpresser? Wie sollten Sie auch anders? Menschen Ihresgleichen glauben natürlich, daß die Ehre eines Mannes käuflich ist. Die meinige nicht! Bei mir nicht, Herr Arnold. Sie selbst werden dafür einstehen, was Sie zu unternehmen gewagt haben. Noch gibt es Gerichte. Sie glaubten, ein Artist würde das nicht so genau nehmen? Die Braut eines Geschäftsfreundes oder eines Rechtsanwalts, eines Studenten oder eines Offiziers hätten Sie nicht berührt. Ich werde Sie darüber belehren, daß auch die Braut eines Artisten kein Freiwild ist. Ich könnte Sie fordern, wenn ich nicht der Antiduell-Liga angehören würde. Glauben Sie nicht, daß ich feige bin. Man kennt mich. Ich habe den bekannten Martin Popovics, seinen Namen werden Sie bestimmt schon gehört haben, den Kunstbläser Popovics, zweimal geohrfeigt, weil er einen dummen Witz gemacht hat. Übrigens bin ich Amateurboxer. Ich bin also, wie Sie sehen, nicht feige. Aber ich verleugne meine Grundsätze nicht. Konsequenz ist das wichtigste im Leben. Seien Sie ein konsequenter Mann und tragen Sie die Folgen.«
Herr Arnold stand schweigend, weil der Stimme beraubt. Er beobachtete die rote, schwarz und braun gestreifte Schleife seines Gegners, die keck und wie ein Requisit der Lebensfreude über die beiden Kragenenden hinausragte. Es wurde sehr still, nachdem Luigi Bernotat mit erhobener Stimme seine Rede beendet hatte. Plötzlich begann Bernotat zu trillern. Er wollte offenbar seinen frechen Übermut beweisen, indem er eine Lerche täuschend imitierte. Sein Pfeifen schwoll an, und bald war es, als jubilierte ein ganzer Lerchenchor.
Da schrie Herr Arnold: »Trillern Sie hier nicht, Sie frecher Lausbub!«
Luigi Bernotat verneigte sich: »Das werden Sie beweisen«, sagte er leise und gar nicht konsequent, und er tänzelte, nachdem er sich noch einmal verneigt hatte, elegant hinaus.
Herr Arnold übersah, trotz seiner Aufregung, die ganz gefährlichen Folgen dieses Besuches nicht. Da hatte er was angerichtet! Fünfundvierzig Jahre eines anständigen Lebenswandels, eines tadellosen Rufes, eines glänzenden Geschäftsganges waren gefährdet. Und ohne lange zu überlegen, fuhr er zu seinem Rechtsanwalt.
Freilich war dieser abwesend und beim Gericht. Ein Narr, wer es anders erwartet hätte! Wozu haben wir eigentlich unsere Rechtsanwälte? Damit sie verschwinden, sobald wir ihren Rat gebrauchen. Unsere Hausärzte? Sie kommen erst, wenn wir gestorben sind, und schreiben unsere Totenscheine. Unsere Büromädchen? Sie bringen uns eines dummen Witzes wegen in die allergrößte Verlegenheit. Unsere Frauen? Mit ihnen können wir überhaupt nicht sprechen, wenn unser Herz voll ist; unser Unglück löscht nur ihren ewigen Rachedurst. Unsere Kinder? Sie haben ihre eigenen Sorgen, und wir Väter sind womöglich ihre Feinde.
Und obwohl alle diese Verhältnisse seit Jahrhunderten wahr und gültig sein mochten, so war doch vieles von dem, was den besonderen Fall Bernotat, Lenz und Arnold betraf, eine Schuld dieser Zeit; dieser entsetzlichen Gegenwart, deren Tendenzen dahin gingen, diverse Ordnungen zu zerstören. In welchem Zeitalter der Weltgeschichte wäre es sonst möglich gewesen, daß ein kleines Büromädchen ihren Verlobten zu ihrem Brotgeber schickte? Daß dieser »Bräutigam« – Herr Arnold dachte diese Bezeichnung in Gänsefüßchen – zum Chef eines altangesehenen Hauses käme und Rechenschaft forderte – notabene ein Bräutigam, der ein Zirkusmensch ist! In welcher anderen Zeit hätte diese Hefe der menschlichen Gesellschaft noch so viel impertinenten Mut aufgebracht?
Herr Arnold schickte das Auto weg und ging durch die Straßen. Er aß in einem Restaurant. Mochte seine Familie auch ein bißchen aufgeregt sein. Hatte er vielleicht die Verpflichtung, seit Jahren pünktlich heimzukommen? Mochten sie zu Hause nur glauben, ihm sei ein Unfall zugestoßen.
Im Gasthaus schien der Kellner eine so auffällige Erscheinung wie Herrn Arnold nicht bemerken zu wollen. Arnold zerschlug mit einem schweren Messergriff ein Salzfaß und nahm mit der wortlosen Gekränktheit eines gewaltigen Tyrannen die demütige Entschuldigung des feierlichen Direktors entgegen.
Dann trank er einen Mokka, um die Müdigkeit niederzuringen. Dennoch mußte er noch auf der Straße gegen den Schlaf ankämpfen, der mit der Zähigkeit einer langjährigen Gewohnheit auftrat.
Herr Arnold ging durch fremde Straßen mit eiligen Schritten, als wollte er bald ein Ziel erreichen. Mit jedem Schritt merkte er, bitter und dem Weinen nahe, wie wenig er eigentlich bedeutete. Man geht so durch die Welt, durch sein eigenes Land, durch seine Heimat, für die man fünfundvierzig Jahre geschuftet hat – und ist ein Niemand. Vor fremden Automobilen und Wagen muß man sich in acht nehmen. Die Lümmel von Polizisten sehen stolz auf uns herab. Gemeine Menschen aus den unteren Schichten des Volkes, versoffen und zerlumpt, gehen uns nicht aus dem Wege. Geschäftsdiener mit Gepäckstücken stoßen uns an. Sechzehnjährige Burschen bitten mit der Miene ernster Männer um Feuer für ihre Zigarette. Es fällt uns aber nicht ein, stehenzubleiben und Rotzbuben Gefälligkeiten zu erweisen. Auf Schritt und Tritt erkennt man die zersetzenden Tendenzen dieser Zeit. Dieser gottverlassenen Gegenwart!
Die Dämmerung senkte sich rasch über die Welt. Die ersten Laternen erglommen. Ein hinkender Mann stellte sich Arnold in den Weg. Er trug auf Brust und Rücken ein aufreizendes Plakat. »Genossen!« – so begann es, »die Not der Invaliden kennt keine Grenzen. Die Regierung ist ohnmächtig!« In diesem Ton ging es weiter. Das war ja auch eine schöne Bande! Bettler, Diebe und Einbrecher. Viele waren ja gar nicht echt. Simulierten Schmerzen. Gaben vor, Krüppel zu sein! Eine nette Gesellschaft. Die Regierung ließ das zu. Auf öffentlichen Plakaten schreiben sie: Genossen! Ein schreckliches Wort. Anarchistisch. Zersetzend. Es riecht nach Bomben. Die russischen Juden erfinden solche Bezeichnungen. Der Polizist stand in der Nähe und griff nicht ein. Dafür zahlt man die horrenden Steuern! Schrecklich, so was! Da ist ja auch das Versammlungslokal! Hinein strömen sie! Auffallend wenig Krüppel. Drei oder vier Blinde mit Hunden. Aber sonst? – Tagediebe, Bettler, Gesindel.
Es war spät. Man mußte heim. Am besten, man bestieg eine Straßenbahn.
Hätte der Herr Arnold, wozu er wohl in der Lage gewesen wäre, ein Auto genommen, um heimzukommen, er wäre der letzten Aufregung dieses furchtbaren Tages entronnen und sein Weg hätte sich nicht unheilvoll mit jenem des Leierkastenmannes Andreas Pum gekreuzt. So aber richtet es ein tückisches Geschick ein: daß wir zugrunde gehen, nicht durch unsere Schuld und ohne daß wir einen Zusammenhang ahnen; durch das blinde Wüten eines fremden Mannes, dessen Vorleben wir nicht kennen, an dessen Unglück wir unschuldig sind und dessen Weltanschauung wir sogar teilen. Er gerade ist nun das Instrument in der vernichtenden Hand des Schicksals.
VIII
Es fügte sich, daß Andreas, der an diesem Nachmittag seinen Leierkasten zu Hause gelassen hatte und den Esel im Stall, wie er es an jedem Mittwoch zu tun gewohnt war, plötzlich so müde wurde, daß er, obwohl er sparsam und sein Haus nicht mehr weit entfernt war, die Straßenbahn bestieg. Hart an ihrem Eingang und so, daß er das halbe Trittbrett einnahm, stand Herr Arnold mit seinem Regenschirm, wie ein Wächter. Mehrere Passanten hatten sich schon über den umfangreichen Herrn aufgeregt, der den Verkehr so anmaßend behinderte. Arnold aber war – wir wissen, weshalb – nicht in jener Stimmung, in der man seinen Mitmenschen Gerechtigkeit widerfahren läßt. Er, der