Auguste Lechner

Die Abenteuer des Odysseus


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an.

      »Du ersehnst eine glückliche Heimkehr«, begann er endlich. »Aber die wird dir ein Gott erschweren: Denn Poseidon grollt dir noch immer, weil du Polyphem, seinen Sohn, des Augenlichtes beraubt hast. Dennoch könnt ihr vielleicht nach mancher Drangsal die Heimat erreichen, wenn es dir gelingt, die Begierde deiner Gefährten und deine eigene zu bezähmen. Ihr werdet nämlich nach langer Reise und vielen Gefahren zur Insel Thrinakia kommen, wo die heiligen Rinder und Schafe des Sonnengottes Helios weiden, dem nichts verborgen bleibt. Verschont ihr die Tiere, so werdet ihr eines Tages Ithaka wiedersehen. Raubt und tötet ihr sie aber, so künde ich Verderben für deine Freunde und für dein Schiff. Du selbst magst vielleicht entrinnen! Aber du wirst spät und ohne einen Gefährten auf fremdem Schiff heimkommen und in deinem Haus wird Unheil herrschen. Übermütige Männer werden um deine Gattin werben und deine Güter verprassen. So wirst du noch einmal kämpfen müssen, ehe dir Ruhe und Glück beschieden sind. Nun habe ich dir dein Schicksal verkündet!«

      »Ich danke dir!«, sprach Odysseus. »Und es mag alles geschehen, wie es die Götter bestimmen! Aber du sollst mir noch etwas sagen. Teiresias: Ich sehe dort drüben den Schatten meiner Mutter und sie blickt mich nicht an und spricht nicht zu mir, ganz als wäre ich ein Fremder. Was soll ich tun, damit sie mich erkennt?«

      »Ich will dir einen Rat geben«, antwortete Teiresias. »Wem von den Schatten du von dem Blute zu trinken erlaubst, der wird dich erkennen und zu dir reden. Wem du es aber verwehrst, der wird schweigend ins Dunkel zurückkehren.«

      Als er dies gesagt hatte, stieg er wieder hinab in die Tiefe, zum Hause des Hades.

      Odysseus aber wartete sehnsüchtig, dass seine Mutter näher käme und trinke: Denn er wollte sie über vieles befragen.

      Sie glitt heran, neigte sich schnell über die Grube und trank. Als sie sich aufrichtete, erkannte sie ihn sogleich. »Oh, mein Sohn«, sagte sie traurig, »wie kommst du als Lebender herab in das Reich der Schatten? Es gibt keinen Weg hierher, den ein Sterblicher gehen könnte, und nur ein starkes Schiff darf es wagen, die gewaltige Flut des Okeanos zu durchqueren! Sage mir, bist du etwa immer noch zu Schiff unterwegs mit deinen Gefährten? Irrst du auf dem Meer und an fremden Küsten umher, seit du von Troja ausgefahren bist? Hast du Ithaka noch nicht wiedergesehen und deine Gattin und deinen Sohn?«

      »Nein, Mutter«, antwortete Odysseus, »seit ich mit Agamemnon auszog nach Troja, bin ich nicht wieder heim nach Achaia gekommen. Und ich weiß nichts von Penelope und meinem Sohn noch auch von meinem Vater Laertes! Ich bitte dich, gib mir Kunde von ihnen allen! Sage mir auch: Wie hat dich selbst der Tod ereilt, da ich dich doch gesund zu Hause zurückgelassen habe? Ist Krankheit über dich gekommen oder hat dich Artemis mit ihren nie fehlenden Pfeilen unversehens getroffen? Leben mein Vater und Telemachos und verwaltet noch Penelope mein Haus? Haben die Männer von Ithaka mir die Königswürde bewahrt oder sie schon einem der Edlen Achaias verliehen, weil sie glauben, ich käme nicht wieder? Vielleicht denkt auch meine Gattin so und hat sich längst einem anderen vermählt? Nun sage mir die Wahrheit, Mutter!«

      »Du sollst keinen Kummer haben, mein Sohn!«, sprach sie tröstend. »Noch steht Penelope getreulich deinem Hause vor und dein Königserbe ruht unangetastet bei deinem Sohne. Dein Vater aber kommt nicht mehr in die Stadt, er fühlt die Beschwerden des Alters und die Sorge um dich nimmt ihm alle Freude an festlichem Getriebe und an der Gesellschaft der Menschen. Er schläft draußen auf seinen Gütern wie sein Gesinde, im Winter neben dem Feuer und sommers in den Weinbergen auf dürrem Gras und Laub. Er trägt auch kein fürstliches Gewand mehr, sondern geht ärmlich gekleidet wie ein Knecht: So sehr bedrückt ihn die Ungewissheit über dein Schicksal. Mich aber hat weder die Göttin mit den nie fehlenden Pfeilen unversehens getroffen, noch hat mich langes Siechtum befallen. Angst und Sorge um dich, mein Sohn, haben meine Kräfte verzehrt und mir das Leben genommen.«

      Da wurde Odysseus das Herz schwer vor Mitleid und er ging schnell hinüber zu ihr und wollte sie zärtlich umarmen. Aber sie entschwand ihm unter den Händen wie ein Schatten oder ein Traumbild und er streckte die Arme ins Leere. Dreimal geschah es ihm so und er vermochte es nicht zu begreifen. Da fassten ihn Schmerz und Zorn. »Warum weichst du vor mir zurück, Mutter?«, sagte er. »Oder bist du nur ein trügerisches Gebilde, das Persephoneia mir sendet zu meiner Pein?«

      »Oh, mein geliebter Sohn«, sprach sie und ihm schien, dass sie jetzt weinte, »du Unseligster unter den Lebenden, nein, ich bin kein Trugbild! Denn das ist das Schicksal der Menschen nach ihrem Tode: Fleisch, Gebein und Sehnen vernichtet die Gewalt der lodernden Flamme, wenn der Geist vom Leibe geschieden ist. Körperlos fliegt die Seele zu den Schatten der Tiefe und Menschenhände vermögen sie nicht mehr zu erreichen und zu halten. Aber nun eile zurück zum Licht, mein Kind!«

      Im nächsten Augenblick war sie verschwunden, er wusste nicht, wie. Odysseus wandte sich zurück zu den Gefährten, die ihn mit aufgerissenen Augen und bleichen Gesichtern umstanden.

      Da taten sie ihm leid und er öffnete schon den Mund, um ihnen zu sagen: »Kommt, wir wollen schleunigst fort von hier!«

      Aber jetzt näherte sich eine Schar Frauen und drängte sich um die Grube. Da lockte es ihn zu erfahren, wer sie waren, und zu hören, was sie erzählen würden, wenn sie vom Blute getrunken hatten.

      Als Erste trat Tyro heran, die Geliebte Poseidons, und rühmte sich stolz ihrer vielen Söhne.

      Nach ihr kam Antiope, deren Zwillingssöhne Amphion und Zethos einst das siebentorige Theben erbauten.

      Alkmene erschien, die Gemahlin Amphitrions und Mutter des löwenherzigen Helden Herakles.

      Zögernd nur trank Jokaste, die unselige Mutter des unseligen Ödipus, und sie vermochte vor Gram kaum zu sprechen: Denn entsetzlich war die Freveltat ihres Sohnes.

      Erhobenen Hauptes schritt Iphimedeia einher. Sie hatte im Leben wenig Ehrfurcht vor den Unsterblichen. Ihre Söhne Otos und Ephialtes waren nach Orion die Stärksten und Schönsten unter den Menschen. Sie drohten den Göttern schon, als sie noch Knaben waren: Eines Tages würden sie auf den hohen Olympos den Berg Ossa türmen und auf den Ossa den waldigen Gipfel des Pelion, um so in den Himmel zu steigen. Aber Apollo tötete sie beide mit schnellen Pfeilen, ehe noch der erste Flaum an ihren Wangen spross.

      Anmutig neigte sich jetzt die schöne Ariadne, die Tochter des Königs Minos von Kreta. Sie erzählte, wie Theseus sie nach Athen führen wollte, wie aber Artemis es verwehrte und sie hinab zum Reich der Schatten sandte, ohne Erbarmen mit ihrer blühenden Jugend.

      Noch andere Frauen kamen, die Gemahlinnen der alten Helden und ihre Mütter und Töchter.

      Aber plötzlich schienen sie zu erschrecken, als habe aus der Tiefe Persephoneia sie gerufen. Sie flohen nach allen Seiten auseinander und verschwanden im Dunkel.

      Verwundert starrten Odysseus und die Gefährten in den verödeten Raum. »Wehe uns!«, stieß einer hervor. »Ich wollte, wir…« Er brach ab, weil ihm seine eigene Stimme schauerlich fremd erschien in der sausenden Stille. So schwiegen sie wieder und warteten, was nun wohl geschehen mochte.

      Alsbald bevölkerte sich auch die graue Öde vor ihnen abermals mit schattenhaften Gestalten, die wie aus weiter Ferne herankamen.

      Es war eine Schar von Kriegern, unterschieden sie allmählich, und ihnen voran schritt ein Held mit königlicher Würde, aber gebeugt von Gram oder Wunden.

      Die Achaier schrien laut auf, als sie ihn erkannten: Denn es war Agamemnon, der König von Argos, in dessen Gefolge sie einst gegen Troja gezogen waren.

      Odysseus sprang vor: Er mochte es nicht glauben.

      »Agamemnon!«, sagte er stockend. »Bist du es wirklich, Agamemnon, Sohn des Atreus?« Der Schatten des Königs hatte sich zur Grube hinabgebeugt und getrunken. Jetzt streckte er Odysseus die Hände entgegen und Tränen traten in seine Augen. Aber sie vermochten einander nicht zu erreichen, der Lebende und der Abgeschiedene.

      »Sag mir«, begann Odysseus wieder, »wie hat der Tod dich bezwungen, seit uns der Sturm vor Trojas Küste nach allen vier Winden auseinandertrieb? Hat dich Poseidon auf dem Meere getötet oder fremde Männer auf dem Land, denen du die Herden wegtriebst und die Frauen raubtest? Oder bist du beim Kampf um