Auguste Lechner

Die Abenteuer des Odysseus


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So fahre heim nach Ithaka, wenn du dich danach sehnst – und wenn dies dein Schicksal ist«, fügte sie ungewiss hinzu.

      Plötzlich wandte sie sich zu ihm zurück. »Aber du kennst ja weder die Himmelsrichtung noch die Pfade des Meeres, denen du folgen musst. Dieses Eiland liegt weit von allen bewohnten Küsten entfernt und andere Schiffe kommen hier niemals vorüber. Es gibt einen einzigen Ausweg für dich, wenn du nicht von Neuem in die Irre fahren willst: Du musst zum Reich des Hades hinabsteigen! Dort wirst du unter den anderen Toten die Seele des blinden Sehers Teiresias finden. Er ist der Einzige unter den Abgeschiedenen, dem die schreckliche Persephoneia die Sinne der Lebenden nicht genommen hat: Alle anderen sind dort drunten nichts mehr als flatternde Schatten.«

      Odysseus hatte mit Grausen zugehört. »Wie soll ich als Lebender zu den Toten hinabsteigen?«, stöhnte er. »Kein Mensch ist je in einem Schiff zum Reiche des Hades gefahren! Und wer vermöchte mir wohl, den Weg zu weisen?«

      »Sorge dich nicht darum!«, sagte Kirke. »Richte den Mast auf und setze die Segel und dann lass das Schiff steuerlos treiben, wohin der Nordwind es treibt. So wirst du an die Grenzen des Okeanos kommen, wo an einem öden Strande Persephoneias Hain sich hinzieht: Nur hohe schwarze Pappeln wachsen dort und Erlen und Weiden, die keine Frucht tragen. Dort lege dein Schiff an und begib dich zum Haus des Hades. Du wirst an einen Felsen kommen, wo der Kokytos und der Pyriphlegeton, die Ströme des Totenreiches, sich in den Acheron ergießen. Geh ganz nahe heran, höhle am Fuße des Felsens eine Grube aus, eine Elle im Geviert, und gieße ringsum das Opfer für die Toten: Honig, Wein und Wasser, bestreut mit weißem Mehl. Auch musst du den Schatten geloben, daheim in Ithaka ein junges Rind für sie alle zu opfern und der Seele des Teiresias noch ein Schaf gesondert.

      Wenn du dies alles versprochen hast, so schlachte einen Widder und ein Schaf, beide fleckenlos schwarz, und lass ihr Blut in die Grube fließen: Dann werden alsbald die Schatten der Toten herbeikommen und von dem Blut zu trinken begehren: Denn dies verleiht ihnen für eine kurze Frist wieder menschliche Sinne. Aber erlaube es ihnen nicht, ehe du nicht Teiresias gesehen und befragt hast. Er wird dir sogleich erscheinen und dir verkünden, ob die Götter dir die Heimkehr vergönnen, welchen Weg du wählen sollst in der endlosen Weite des Meeres und welches Geschick in deinem Hause auf dich wartet.«

      So sprach Kirke und Odysseus fragte sich bekümmert, ob es ihm wohl gelingen mochte, alles richtig zu vollbringen, was sie ihm riet.

      Als das Schiff zur Fahrt gerüstet war, nahmen sie Abschied.

      Kirke stand am Tor; sie trug ein schimmerndes Gewand mit einem gestickten Gürtel und ein silberner Schleier verhüllte ihr Haupt.

      Sie schien den Männern schöner denn je. Aber sie sah sehr traurig aus.

      Während Odysseus mit den anderen zum Strand hinabging, dachte er sorgenvoll an die vielen Dinge, die ihm aufgetragen waren, damit er nichts davon vergäße. »Das Blut eines Widders und eines Schafes, beide fleckenlos schwarz«, fiel ihm plötzlich ein. Ja, aber er besaß weder Widder noch Schaf! Woher sollte er sie nehmen? Aber als sie zum Schiff kamen, waren da ein Widder und ein Schaf angebunden, beide fleckenlos schwarz. Kirke hatte die Tiere gebracht, ohne dass es jemand gewahr wurde.

      Unsichtbar glitt sie jetzt an den Männern vorüber. Denn auch dies vermögen die Unsterblichen: zu kommen und zu gehen, ohne dass Menschen sie sehen.

      Odysseus blickte sich um. »Es ist ein Glück, dass ich diesmal keinen meiner Gefährten verloren habe«, sagte er zu sich. Aber er irrte sich.

      Einer fehlte: und das war Elpenor.

      Elpenor war der jüngste unter den Männern, weder sonderlich tapfer im Kampf noch allzu reich mit Verstand gesegnet.

      Er hatte beim Mahl viel Wein getrunken und davon war er müde geworden. So stieg er auf das Dach des Hauses, wo es kühl war, und schlief alsbald ein. Niemand vermisste ihn. Nach langer Zeit weckte ihn der Lärm des Aufbruches. Er schrak empor, und von Wein und Schlaf benommen, vergaß er, die breite Treppe hinabzusteigen, sondern rannte geradewegs über den Rand des Daches hinaus und stürzte in die Tiefe. Da brach sich der Arme das Genick und seine Seele fuhr zum Hades. –

      Ehe sie zu Schiff gingen, rief Odysseus noch einmal die Gefährten zu sich. Fast hatte er Angst davor, ihnen zu sagen, was sie doch wissen mussten.

      »Freunde«, sprach er, »ihr glaubt, wir fahren jetzt heim nach Achaia! Aber es ist nicht wahr. Wir müssen hinab zum Reich des Hades, um den Seher Teiresias über die Reise und unser künftiges Schicksal zu befragen. Sonst werden wir abermals in die Irre fahren und die Heimat nie wiedersehen!«

      Da begannen sie, zu jammern und zu wehklagen, setzten sich in den Staub und rauften ihre Haare; denn es graute ihnen vor dem Totenreich, das noch nie ein Mensch im Leben gesehen hatte. Aber sie wussten, da half kein Weinen und Klagen, da es ihnen nun einmal bestimmt war. So zogen sie das Schiff ins Wasser, richteten den Mastbaum auf und setzten die Segel. Dann saßen sie schweigend und bekümmert auf dem Deck und warteten und alsbald erhob sich ein starker, stetiger Nordwind und trieb das Schiff schnell vor sich her.

      Den ganzen Tag lief es so durch die graue Salzflut. Als die Sonne unterging, kamen sie an die Grenze des Okeanos. Vor ihnen am Strand lag die Stadt der Kimmerier in düsterem Schatten. Niemals besuchte Helios, der leuchtende Gott, dieses Land, stets umhüllen es Nebel und schreckliche Nacht.

      Da legten sie am Ufer an, nahmen die Schafe mit sich und gingen am Hain der Persephoneia entlang bis zu dem Felsen, den Kirke beschrieben hatte.

      Odysseus zog sein Schwert und höhlte eine Grube aus, und während sie die Götter des Totenreiches anriefen, gossen sie ringsum das Opfer für die Abgeschiedenen aus: Honig, Wein und Wasser, mit weißem Mehl bestreut.

      »Und wenn ich glücklich heimgekehrt bin nach Ithaka, will ich das schönste junge Rind meiner Herden opfern und der Seele des Teiresias noch ein Schaf gesondert«, beendete Odysseus seine Gebete.

      Dann schnitt er den Schafen die Kehle durch und ließ das Blut in die Grube fließen.

      Da begann es, ringsum aus der Tiefe aufzusteigen, ein schauriges Gewimmel von Schatten drängte sich laut heulend und schreiend heran: Krieger, Frauen, Greise und Jünglinge …

      Den Männern stockte das Herz vor Entsetzen. »Oh, ihr Götter, was ist das?«, murmelte Odysseus mit zusammengebissenen Zähnen und streckte hastig sein Schwert über die Grube: Denn schon beugten sich die Schatten der Toten begierig hinab, um zu trinken. Davor aber hatte ihn Kirke gewarnt.

      Sie wichen auch alsbald wieder mit Geheul zurück. Nur einer blieb jenseits der Grube stehen und blickte traurig herüber.

      Odysseus fuhr in die Höhe. »Elpenor!«, schrie er. »Wie kommst du hier herab zu den schrecklichen Schatten? Warst du schneller zu Fuß als wir mit dem Schiff?«

      Da erzählte Elpenor schluchzend, wie der Wein sein Verderben gewesen war, wie er vom Dach gestürzt und gestorben war und wie sein Leichnam unbegraben und unbeweint im Haus der Kirke liege. »Und nun bitte ich dich«, fuhr er betrübt fort, »lasst mich nicht so liegen, sondern wenn ihr zurückkehrt nach Aia, verbrennt mich samt allen meinen Waffen. Errichtet mir auch ein Grabmal am Gestade und pflanzt das Ruder darauf, das ich im Leben geführt habe, damit späte Enkel noch von mir Unglückseligem Kunde erhalten!«

      Mitleidig versprach ihm Odysseus alles, was er begehrte, und Elpenor begab sich getröstet zurück zu den anderen Schatten.

      Jetzt trat lautlosen Schrittes eine Frau an die Grube heran. Sie blickte Odysseus nicht an und wollte trinken, doch das Schwert hinderte sie.

      Da wandte sie sich traurig ab.

      Odysseus starrte sie an und etwas erschien ihm schrecklich vertraut an der schattenhaften Gestalt. Und dann ergriff ihn ein jäher Schmerz: Er erkannte, dass es seine Mutter war.

      Er wollte sie rufen, aber in diesem Augenblick stieg die Seele des thebanischen Sehers Teiresias aus der Tiefe empor.

      Er redete Odysseus sogleich an. »Unglücklicher, warum hast du das Licht der Sonne verlassen und was suchst du hier lebend unter den Toten? Gib die Grube frei und stecke dein Schwert ein, edler Odysseus, damit ich vom Blut trinke