gegen uns!«
Polyphem nahm den Napf und trank begierig. Sogleich begann sein Auge zu funkeln.
»He, Fremdling, was ist das für ein Wein?«, brüllte er. »Gib mir noch mehr davon, er schmeckt wie Nektar und Ambrosia!«
Odysseus füllte das Gefäß zum zweiten und dann zum dritten Male. Mit kalter Wut im Herzen sah er zu, wie der Unhold den Wein in seinen unersättlichen Schlund goss.
Aber der Wein war süß und stark und alt und umnebelte im Handumdrehen die Sinne des Riesen.
»Sage mir deinen Namen, Fremdling!«, grölte Polyphem. »Ich will dich mit einer Gabe erfreuen zum Dank für diesen Wein!«
Odysseus blickte zu dem unförmigen Schädel hinauf, der hoch über ihm hin und her schwankte, und seine gewohnte Vorsicht warnte ihn. Nein, er würde dem Scheusal nicht erzählen, dass er der König von Ithaka war!
»Ich heiße Niemand!«, antwortete er schnell. »Niemand nannten mich Vater und Mutter, Niemand nennen mich auch meine Gefährten!«
»So höre zu, Niemand!«, schrie Polyphem. »Ich will dich zuletzt von allen deinen Freunden verzehren! Das ist mein Gastgeschenk für dich!«
Damit ließ er sich auf sein Lager zurückfallen und begann alsbald, laut zu schnarchen.
Odysseus wartete eine Weile, bis er sicher war, dass der Unhold fest schlief. Dann holte er den Pfahl unter dem Mist hervor und winkte den Gefährten.
Lautlos schlichen sie zurück zum Lager des Riesen. Odysseus richtete die Spitze genau auf das geschlossene Auge. Dann stießen sie zu.
Polyphem fuhr empor mit einem so fürchterlichen Gebrüll, dass sich vor Schrecken ihre Haare sträubten. Sie stoben nach allen Seiten auseinander in die äußersten Winkel der Höhle.
Polyphem riss sich den Pfahl aus dem Auge und schleuderte ihn weit von sich. Brüllend lief er durch die Höhle und fuhr mit den Armen blitzschnell herum, um seine Gefangenen zu finden.
Aber da er nichts mehr sehen konnte, entwischten sie ihm leicht und er griff nur in die Wolle der Schafe und in das zottige Fell der Ziegen.
Als er niemand fand, begann er mit lautem Geschrei die anderen Kyklopen zu rufen und seine gewaltige Stimme drang durch die Felsspalten ins Freie.
Da rannten die Kyklopen von überall herbei, standen verwundert draußen vor der Höhle und fragten: »Was schreist du so, Polyphemos, und weckst uns aus dem Schlummer? Sind etwa Räuber gekommen, die deine Schafe von dannen treiben? Oder will jemand mit List oder Gewalt dich ermorden?«
»Niemand!«, brüllte Polyphem. »Niemand ist hier! Niemand will mich töten!«
»Wenn dir also niemand etwas zuleide tut«, schrien sie zurück, »so musst du die Schmerzen, die Zeus dir schickt, eben ertragen: Denn dagegen gibt es kein Mittel. Aber vielleicht hilft dir dein Vater, der Meerbeherrscher Poseidon, wenn du ihn bittest!«
Damit gingen sie wieder fort in ihre Höhlen und die Gefangenen, die voll Schrecken alles mit angehört hatten, atmeten auf. Odysseus aber lachte das Herz im Leibe, weil sein falscher Name die Kyklopen so getäuscht hatte.
Die Nacht verstrich, im Osten stieg Eos, die Morgenröte, am Himmel empor und ein Schein ihres rosigen Lichtes fiel in die Höhle. Die Herde begann zu erwachen und auch Polyphem erhob sich stöhnend. Er tappte durch den Gang hinaus und stieß den Felsblock zur Seite. Dann setzte er sich unter dem Tore nieder und breitete die Arme aus, damit niemand unbemerkt an ihm vorüberkäme.
Odysseus nickte grimmig, als er es sah. Ja, das hatte er befürchtet! Aber es sollte dem Unhold nichts nützen: Sie würden dennoch entkommen.
Er hatte sich während der Nacht einen schlauen Plan ausgedacht und jetzt machten sie sich eilig daran, ihn auszuführen.
Sie nahmen dünne Weidenruten vom Lager des Riesen und flochten starke biegsame Seile daraus. Dann suchten sie die stärksten Widder mit der dicksten Wolle aus der Herde und banden je drei von ihnen zusammen, sodass sie nebeneinandergehen mussten. Unter dem mittleren aber band Odysseus immer einen seiner Gefährten fest. In dem dichten Vlies versanken die Weidenruten und man konnte sie nicht mehr fühlen, wenn man über den Rücken der Tiere strich. Zu beiden Seiten aber schritten die anderen Widder und Polyphem würde nicht merken, dass der mittlere einen Mann trug.
Unterdessen war es hell geworden und Widder und Böcke drängten ins Freie, denn es war die Stunde, zu der sie sonst auf die Weide getrieben wurden. Schafe und Ziegen blieben in der Höhle zurück und warteten blökend, dass sie gemolken würden: Denn ihre Euter strotzten von Milch.
Polyphem betastete die Rücken der Tiere, die an ihm vorüberkamen, und er fühlte, wie ihr raues Fell seine Haut streifte. Nein, keiner von den Fremden konnte ihm entrinnen und sie sollten noch bitter büßen, was sie ihm angetan hatten!
Er ahnte nicht, dass er schon um seine Rache betrogen war und dass die Tiere seine Feinde, einen nach dem andern, an ihm vorbei ins Freie trugen!
Odysseus war allein in der Höhle zurückgeblieben, mitten unter blökenden Schafen und meckernden Ziegen. Und die Götter mochten wissen, ob es ihm gelingen würde zu entkommen: Denn ihm half nun niemand mehr.
Aber er hatte den stärksten Widder drinnen festgebunden und zurückbehalten, der sonst stets der Herde vorauszugehen pflegte. Es war ein riesiges Tier, viel größer als die anderen, und das schwärzliche Fell hing ihm lang und zottig an Brust und Bauch hinab. Dieser Widder musste ihn retten!
Jetzt band er ihn los, packte ihn im Genick, ließ sich geschickt unter seinen Bauch gleiten und krallte beide Hände in die dicke Wolle. Da hing er, zog die Beine an den Leib und flehte die Götter an, sie möchten seinen Armen so lange Kraft verleihen, bis er draußen war.
Schwerfällig schritt das Tier dem Ausgang zu, schüttelte unmutig den Kopf und blökte zornig über die ungewohnte Last.
Ja, und dann, gerade als er bei Polyphem angelangt war, blieb er stehen! Der Riese erkannte ihn sogleich an der Größe, als er ihm über den Rücken strich.
»Was ist mit dir, mein guter Widder?«, sagte er verwundert. »Du pflegst doch sonst als Erster vor der Herde zu gehen, heute aber bist du der Letzte! Bist du krank oder grämst du dich um das Auge deines Herrn? Oh, hättest du doch Vernunft und Sprache wie ich, so könntest du mir sagen, wo sich dieser elende Niemand mit seinen Gesellen verbirgt und wohin er mir immer ausweicht! Dann gelänge es mir bald, ihn zu fangen, und ich könnte schreckliche Rache an ihm nehmen und so mein verlorenes Auge leichter verschmerzen!«
Odysseus trat kalter Schweiß auf die Stirn, als er das hörte. Er wagte nicht zu atmen und vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Zugleich fühlte er, dass seine Arme allmählich erlahmten. Wenn der Widder nur noch eine ganz kleine Weile stehen blieb, musste er ihn loslassen und dann … Da ging er endlich und Odysseus hätte vor Erleichterung beinahe laut geseufzt.
Ein Stück von der Höhle entfernt ließ er sich zu Boden fallen und lief eilig, seine Gefährten zu erlösen: Es war hohe Zeit, denn allenthalben trachteten die zusammengebundenen Widder sich ihrer Fesseln und ihrer Last auf die unsanfteste Weise zu entledigen.
»Wir wollen schleunigst zu Schiff gehen, ehe neues Unheil über uns kommt!«, sagte Odysseus und sie trieben die Tiere vor sich her zum Ufer hinab, wo das Schiff noch unter dem überhängenden Felsen lag und die Gefährten sie voll Freude begrüßten.
Freilich brachen sie alsbald in lauten Jammer aus, als sie erfuhren, dass sechs der Ihrigen tot waren.
Aber Odysseus verwies es ihnen streng. »Es ist keine Zeit zu klagen!«, sprach er. »Bringt die Tiere ins Schiff und dann setzt euch sogleich an die Ruder! Mich gelüstet es nicht, noch einen Augenblick länger in diesem Lande zu bleiben.«
Als sie aber etwa in der Mitte der Wasserstraße waren, just so weit, wie eine menschliche Stimme reicht, sah Odysseus den Riesen drüben auf dem Gipfel des Berges hoch über seiner Höhle sitzen. Da packte ihn noch einmal fürchterlicher Zorn über alles, was geschehen war.
Er gebot den Ruderern