Auguste Lechner

Die Abenteuer des Odysseus


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segeln, so war alsbald der heulende Sturm wieder da und jagte sie zurück.

      So fuhren sie neun Tage lang. Sie wussten längst nicht mehr, wo sie waren. Sie hatten kein Wasser mehr und ihre Vorräte gingen zu Ende.

      Da tauchte am zehnten Morgen eine ferne Küste aus dem Dunst auf und sie ruderten eilig darauf zu, begierig zu erfahren, was für ein Land es etwa sein mochte.

      Aber sie betraten ein fremdes Gestade, das keiner von ihnen je gesehen hatte. Keine menschliche Siedlung war da, kein lebendes Wesen zeigte sich, nur hohes Gras und Buschwerk bedeckten den Boden. So schöpften sie Wasser aus dem kleinen Fluss, den sie fanden, und aßen von ihren letzten Vorräten. Dann rief Odysseus zwei von seinen Männern zu sich und sagte: »Geht landeinwärts und erkundet, was für Menschen hier leben, wovon sie sich ernähren und ob sie freundlich oder böse sind. Aber bleibt nicht allzu lange fort, denn wir wollen bald weitersegeln!«

      Sie machten sich auf den Weg, und als sie zwischen den Büschen verschwunden waren, winkte Odysseus einen dritten herbei und befahl: »Du folgst ihnen als Herold, und wenn du etwas gewahr wirst, was dir nicht gefällt oder was dich gefährlich dünkt, dann lauf so schnell du kannst, hierher zurück und bringe mir Botschaft!«

      Als auch der Herold gegangen war, streckten sich die Zurückgebliebenen am Strand aus, um zu schlafen.

      Odysseus aber wartete. Er war unruhig, als drohe ihnen eine Gefahr, obgleich alles ringsum ganz still und friedlich schien. Manchmal wehte ein unsäglich süßer Duft von irgendwoher wie von Blumen, die er nicht kannte.

      Der Himmel war blau und die Wellen schlugen sanft an den Strand.

      Aber die Sonne stieg immer höher, die Zeit verging und die Männer kamen noch immer nicht zurück.

      Als es Mittag wurde, weckte Odysseus einige von den Schläfern. Sie nahmen ihre Schwerter und folgten behutsam den Spuren der Kundschafter, jeden Augenblick bereit zu kämpfen.

      Aber es gab keinen Kampf. Und sie brauchten auch nicht lange nach den verschwundenen Gefährten zu suchen. Denn als sie ein lichtes Gehölz durchquert hatten, kamen sie auf eine Wiese hinaus, da saß eine Schar von Männern, friedlich und waffenlos, und mitten unter ihnen saßen die beiden Kundschafter und der Herold.

      Verwundert gingen sie näher. Die fremden Männer betrachteten sie freundlich, sie schienen weder erstaunt noch erschrocken, obgleich die Achaier mit gezogenen Schwertern kamen. Ihre Gesichter sahen so glücklich und zufrieden aus, dass Odysseus sie hätte beneiden können. Als ihn aber jetzt seine drei Kundschafter ebenso glücklich anlächelten, packte ihn Zorn.

      Ehe er jedoch den Mund zu einer wütenden Rede öffnen konnte, sah er etwas. Viele von den Männern hielten Früchte in den Händen, seltsame, fremdartige Früchte, die er nicht kannte, und manchmal führten sie eine zum Mund und aßen davon.

      Und – bei allen Göttern! – da saßen auch seine Kundschafter und verzehrten die gleichen Früchte und sahen aus, als gäbe es nichts Schöneres auf Erden! Ihn aber und ihre Gefährten mussten sie wohl völlig vergessen haben, so gleichmütig blickten sie herüber. Was war denn nur mit ihnen geschehen?

      Plötzlich kam ihm eine schreckliche Erkenntnis: Sie befanden sich auf der Insel der Lotophagen, wo die Menschen Lotosfrüchte essen! Er hatte oft davon erzählen gehört. Wer einmal von der süßen Frucht gekostet hat, der vergisst Heimat und Freunde und alles, was ihm aufgetragen ist, und wünscht nichts mehr, als für immer zu bleiben und die zauberhafte Speise zu genießen.

      Ja, so war es. Und nun hatten die Kundschafter davon gegessen und wussten nicht mehr, wozu sie ausgesandt worden waren, und der Herold hatte vergessen, dass er seinem Herrn Botschaft bringen sollte.

      »Kommt!«, sagte Odysseus finster zu den drei Abgesandten und stieß sein Schwert in die Scheide zurück. »Wir wollen schleunigst fort von hier, ehe noch andere von den Unseren Lotos kosten und der Heimkehr vergessen!«

      Aber sie wollten nicht fort. Sie jammerten und flehten ihn an, sie hierzulassen.

      Da winkte er den Männern, die mit ihm gekommen waren. Mit Gewalt mussten sie ihre unglückseligen Gefährten zu den Schiffen schleppen und sie an den Ruderbänken festbinden, damit sie nicht sogleich wieder entflohen, um zu den Lotophagen zurückzukehren.

      Odysseus atmete auf, als die Kiele sich wieder dem Meer zudrehten. Abermals waren sie einer Gefahr entronnen.

      Doch Ithaka war weit und die Götter zürnten den Achaiern. – Mit schlaffen Segeln ruderten sie weiter durch das endlose graue Gewässer und Odysseus fragte sich sorgenvoll, ob es ihm wohl gelingen würde, alle seine Gefährten sicher heimzubringen.

      Sie hatten jetzt kein Fleisch mehr und nur noch wenig Gerstenmehl für Brote. Zwar war noch Wein in den Schläuchen, aber der Wasservorrat ging schnell zur Neige, und wenn sie nicht bald an ein gastliches Ufer gelangten, würden Hunger und Durst auf den Schiffen Einzug halten.

      Aber in der nächsten Nacht kamen sie ganz nahe an einer Küste vorbei. Sie fuhren eine Weile daran entlang und wagten nicht zu landen: Denn die Nacht war mondlos und die Sterne verbargen sich hinter den Wolken. Dann tauchte seitwärts eine kleine ebene Insel auf, durch einen breiten Meeresarm von der Küste getrennt. Da tat sich ein Hafen auf mit flachem Strand, wo lange ruhige Wogen die Schiffe sanft ans Ufer trugen, ehe die Männer noch recht wussten, wie es zugegangen war. Aber es schien ihnen nach all den erlittenen Drangsalen ein großes Glück. Sie sprangen fröhlich an Land und beschlossen, schlafend den Morgen zu erwarten, um dann zu erkunden, wo sie sich befanden.

      Es sollte sich sehr schnell erweisen, dass es kein großes Glück für sie war, sondern ein schreckliches Unheil: Denn vor ihnen, jenseits der Wasserstraße, lag das Land der Kyklopen.

      Sie waren ein Volk von einäugigen Riesen, wild und ruhelos, eher gewaltigen Ungeheuern ähnlich als menschlichen Wesen, und man erzählte sich schaudernd, sie verzehrten Menschenfleisch. Sie kannten weder Sitte noch Gesetz und verachteten die Götter. Jeder für sich hausten sie mit Weib und Kindern in Höhlen auf den Gipfeln der Berge und keiner kümmerte sich um den andern. Sie pflügten nicht, sie säten weder Weizen noch Gerste und pflanzten keine Reben.

      Sie bauten auch keine Schiffe, um übers Meer zu anderen Ländern zu fahren. Sie ruderten nicht einmal mit einem einfachen Floß über den Meeresarm auf die kleine bewaldete Insel. Die hatte noch nie ein Menschenfuß betreten, nur zahllose wilde Ziegen bevölkerten sie.

      Als die Achaier am Morgen erwachten, begannen sie sogleich, das Eiland zu durchstreifen. Sie fanden alsbald eine Quelle mit herrlichem Wasser, und als sie in den Wald eindrangen, jagten sie Scharen von wilden Ziegen auf, die mit Gemecker vor ihnen flohen. Da frohlockten sie und liefen zurück zu den Schiffen, Pfeile und Bogen und die leichten Jagdspeere zu holen, und dann erlegten sie eine große Menge der wohlgenährten Tiere. Es gab Fleisch in Hülle und Fülle. Auf jedes der zwölf Schiffe verteilten sie neun Ziegen, die übrigen schlachteten und brieten sie sogleich am Strande. In den Schläuchen war noch genügend Wein und so begann ein langes fröhliches Mahl, das dauerte, bis die Sonne sank.

      Nur manchmal hielten sie plötzlich im Trinken und Schmausen inne und ihr Lachen verstummte jäh. Beunruhigt horchten sie hinüber zu dem bergigen Land jenseits der Wasserstraße, von dem diese grässlichen, wilden Stimmen herüberschollen, die nicht mehr menschlich klangen und ihnen einen kalten Schauder über den Rücken jagten.

      »Beim Hades! Das Gebrüll lässt einem das Blut in den Adern stocken!«, murmelte einer und griff schleunigst wieder zum Becher. Odysseus hatte längst aufgehört zu trinken. Schweigsam saß er da und beobachtete, wie drüben da und dort Rauch von den Gipfeln der bewaldeten Berge aufstieg. Er hörte die Stimmen von Rindern, Schafen und Ziegen und dazwischen wieder diese wilden Rufe, die ihm keine Ruhe ließen.

      Als die Nacht kam, wurde es still. Auch die Achaier legten sich, einer nach dem andern, zum Schlafen nieder, satt und müde vom Wein.

      Ich muss wissen, wer da drüben haust, dachte Odysseus, während er sich in seinen Mantel wickelte. Morgen früh will ich hinüberfahren. –

      Als die erste Morgenröte am Himmel emporstieg, rief Odysseus die Männer zusammen.

      »Hört