heimkehrte, erschlug mich Aigisthos, der meine Gattin Klytaimnestra zur Frau genommen und mein Erbe in der Herrschaft angetreten hatte. Und während ich ahnungslos und voll Freude mich dem heimischen Gestade näherte, hatten der Verräter Aigisthos und das arglistige Weib schon meinen Tod beschlossen!«
»Wehe!«, sprach Odysseus voll Entsetzen. »Wahrhaftig, Zeus hat die Atriden mit ränkesüchtigen Frauen heimgesucht! Um Helenas willen sind viele Männer vor den Mauern Trojas gestorben und Klytaimnestra scheute sich nicht, den eigenen Gatten zu töten!« »Niemand sollte einer Frau trauen!«, sagte Agamemnon düster. »Zwar du, Odysseus, magst ruhig sein: Denn Penelope ist rechtschaffen und klug. Und wenn du eines Tages heimkehrst, wird sie dich mit deinem Sohne erwarten. Mir aber vergönnte Klytaimnestra nicht, Orestes zu sehen, der indessen zum Jüngling herangewachsen war. Sage mir«, fuhr er fort, »hast du etwas über meinen Sohn gehört? Ich weiß, er muss am Leben sein, denn noch weilt er nicht hier unter den Schatten. Vielleicht hat ihn Menelaos, mein Bruder, in sein Haus nach Sparta genommen! Oder er lebt in Orchomenos oder Pylos!«
»Ich weiß nichts von Orestes«, antwortete Odysseus bedrückt, »denn ich habe das Gestade Achaias nicht betreten, seit ich von Troja ausfuhr.«
Da ging der Schatten Agamemnons traurig von dannen und seine Krieger folgten ihm.
Währenddessen war Achilleus, der Pelide, aus dem Dunkel getreten. »Odysseus!«, rief er sogleich, nachdem er getrunken hatte. »Wagst du es sogar, herab zur Tiefe zu steigen, wo sonst nur die Schatten der Toten sinnlos taumeln? Bei den Göttern, eine größere Kühnheit kann es nicht geben!«
»Ich bin nicht aus freiem Willen gekommen«, sagte Odysseus. »Ich musste Teiresias um Heimkehr und Schicksal befragen: Denn seit wir Troja verließen, irren wir elend umher! Du aber, Achilleus, bist glücklich zu preisen unter den Männern aller Zeiten! Früher, als du noch lebtest, ehrten dich die Achaier wie einen der Götter und nun bist du ein mächtiger Herrscher hier unter den Schatten!«
»Versuche nicht, mich über meinen Tod zu trösten!«, fuhr Achilleus auf. »Ich sage dir, lieber möchte ich als armer Knecht im Licht der Sonne leben und schwere Arbeit tun als hier die ganze Schar verblichener Toter beherrschen! Aber nun gib mir Kunde von den Lebenden droben! Was weißt du von Neoptolemos, meinem Sohn, der nun wohl längst im Rat der Männer sitzt und das Schwert führt? Hast du auch von meinem Vater Peleus gehört? Ist er noch geehrt als König der Myrmidonen oder wagt man es, ihn zu missachten, weil das Alter ihn überkommen hat und ich nicht mehr da bin ihn zu schützen?«
Odysseus seufzte. Wie sollte er dies alles wissen? Aber die Toten warteten so sehnsüchtig auf Kunde von den Lebenden!
»Ich habe nichts von Peleus gehört«, entgegnete er geduldig. »Von deinem Sohne aber kann ich dir vieles sagen. Als du nicht mehr da warst, habe ich Neoptolemos selbst in meinem Schiff von Skyros geholt und er kämpfte mit uns gegen die Troer und war einer der Tapfersten. Er saß auch mit den Besten von uns im hölzernen Pferd und ich hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten, dass er in seinem stürmischen Mut nicht zu früh das Versteck verließ, ehe unsere Gefährten draußen vor den Mauern bereit waren. Dann fiel Troja und Neoptolemos fuhr wie die andern mit reicher Beute heimwärts, unverwundet und gerühmt wie wenige unserer Krieger!«
Als Achilleus dies gehört hatte, eilte er freudenvoll fort, mit großen Schritten hinab zur Asphodeloswiese, wo die bleichen Blumen des Totenreiches blühen.
Andere Schatten kamen und tranken und bestürmten Odysseus mit Fragen. Aber er wusste nicht viel und so gingen sie traurig wieder fort.
Zuletzt trat ein stattlicher Krieger an die Grube heran: Seine Haltung war stolz und in seinem schönen Gesicht lag düsterer Zorn.
»Ajax der Große!«, murmelten die Männer. Nach Achilleus gab es keinen gewaltigeren Kämpfer unter den Achaiern als ihn.
Odysseus hatte Ajax längst erkannt. Einmal, vor Troja, hatten sie Streit miteinander um die berühmten Waffen des toten Achilleus. Sie wurden zuletzt Odysseus zugesprochen und Ajax stürzte sich vor wahnsinniger Wut in sein Schwert. So fuhr seine Seele zum Hades.
Ajax hob den Kopf, als er getrunken hatte. Er erblickte Odysseus und in seinen Augen loderte es auf.
Aber Odysseus sagte schnell: »Grollst du mir immer noch, Ajax, wegen dieser Waffen, die doch nur mit dem Fluch der Götter behaftet waren? Denn Achilleus fiel und auch du bist ihretwegen gestorben. Tritt näher und höre mich an! Es war nicht meine Schuld, dass ich die Waffen erhielt!«
Aber Ajax sprach kein Wort. Finster wandte er sich ab und war alsbald im Gewimmel der Schatten verschwunden.
Jetzt begannen die Gefährten, Odysseus zu bedrängen.
Eurylochos packte ihn am Arm und schüttelte ihn. »Ich bleibe keinen Augenblick länger hier!«, sagte er heiser. »Ich habe es satt, verstehst du? Allenthalben streicht und huscht es vorüber, da weint es, dort seufzt es, und wo ich die Augen hinwende, wimmelt es von Schatten! Ich sage dir, mir schwindelt schon davon! Wenn du noch nicht genug Schatten gesehen hast, so bleibe meinetwegen hier! Wir gehen zum Schiff und fahren schleunigst über den Okeanos zurück. Und, bei allen Göttern, ich will froh sein, wenn ich wieder Sonnenlicht sehe statt dieser grausigen grauen Nacht!«
»Ja, wahrhaftig!«, murrten die anderen. »Kommt, wir wollen fort!
Wir werden noch lange genug hier sein, wenn wir erst gestorben sind!« Und sie begannen, eilig den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren.
Odysseus folgte ihnen langsam: Er wäre gern noch geblieben, um die alten Helden zu sehen und von ihren Schicksalen zu hören.
Zur Linken tat sich jetzt das Tor zu einem düsteren Saale auf, darin saß ein Mann mit einem goldenen Stab in der Hand und hielt Gericht über die Schatten der Toten, die seinen Thron umdrängten. Das war Minos, der Totenrichter, der im Leben über die Insel Kreta geherrscht hatte.
Nun lag die Asphodeloswiese vor ihnen. Da trieb ein Riese mit einer ehernen Keule ein Rudel Wild vor sich her: Orion, der gewaltige Jäger, der es gewagt hatte, sich mit Artemis in den Künsten der Jagd zu messen. Die Göttin aber hatte ihn mit ihren nie fehlenden Pfeilen getötet.
Nach einer Weile sahen sie ein wenig seitwärts einen Teich. Ein Mann stand darin und das Wasser reichte ihm bis ans Kinn. Er lechzte vor Durst, aber er konnte nicht trinken: Denn sooft er sich bückte, wich das Wasser zurück und versiegte und um seine Füße breitete sich trockene schwarze Erde aus. Über seinem Haupte aber hingen die Zweige der herrlichsten Obstbäume herab. Sie waren voll von Früchten: Äpfeln, Birnen, Feigen und saftigen grünen Oliven. Streckte der Greis aber die Hand danach aus, so kam augenblicklich ein Windstoß und schnellte die Zweige hoch in die Luft. Der Greis war Tantalos, der eine furchtbare Freveltat begangen hatte, um die Allwissenheit der Götter zu prüfen. Dafür büßte er ewig und der Fluch der Götter lag auf seinem ganzen Geschlecht, dem auch die Atriden Menelaos und Agamemnon entstammten.
Die Achaier eilten an ihm vorüber, abgewandten Gesichts: Denn es war schrecklich, seine Qual anzusehen, und niemand vermochte, ihm zu helfen.
Sie kamen jetzt an einem Berg vorüber, da sahen sie Sisyphos. Er wälzte einen Felsblock vor sich den Hang hinauf, sein Körper troff vor Schweiß und er arbeitete keuchend mit Händen und Füßen, bis er fast auf dem Gipfel war. Aber jedes Mal, wenn er meinte, nun brauche er den Stein nur noch über den Grat zu wälzen, überschlug sich der tückische Felsen und rollte wieder den Hang hinab zur Wiese. Und Sisyphos begann, stöhnend vor Verzweiflung, von Neuem sein vergebliches Bemühen. Er war im Leben schlau und gewinnsüchtig und gründete die reiche Stadt Korinth, die aber kein Wasser hatte. So verriet Sisyphos, als Zeus die Tochter des Flussgottes Asopos entführte, dem Vater ihr Versteck und erhielt zum Dank dafür eine starke Quelle. Der grimmige Zeus aber sandte ihm Thanatos, den Tod. Doch Sisyphos überwand und fesselte ihn, sodass auf der Welt niemand mehr starb, bis Ares, der Kriegsgott, den Tod befreite. Nun musste Sisyphos zum Hades hinab. Aber er überlistete selbst den Totengott, kehrte wieder auf die Erde zurück und starb erst im hohen Alter. Da ereilte ihn die Strafe der Götter.
Allmählich näherten sich die Achaier der Grenze des Totenreiches. Dort kam ihnen Herakles entgegen, der gewaltigste Held der Vorzeit.