Hera, Zeus Kronions Gemahlin, hinab auf die Erde und sah das Elend, das Apollon über die Achaier gebracht hatte, denen sie selber zugetan war. Und sie beschloss, ihnen zu helfen.
Achilleus ist der Liebling der Krieger: So will ich mich seiner bedienen!, dachte sie und lenkte sein Herz und seine Gedanken nach ihrem Wunsch.
So kam es, dass am zehnten Tage Achilleus eine Volksversammlung berief und zu den Fürsten und den Kriegern sprach: »Mir scheint, die Götter wollen uns verderben, denn Krieg und Seuche bezwingen selbst das stärkste Heer! So rate ich: Lasst uns heimkehren, sofern wir dem Tode entrinnen! Wir wollen aber zuvor noch den Seher befragen! Vielleicht, dass er uns sagen kann, welcher Gott uns so schrecklich zürnt und wie wir ihn etwa versöhnen können!«
Er winkte Kalchas, dem berühmten Vogelschauer, dem Apollon die Gabe verliehen hatte, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges aus dem Flug der Vögel und anderen Zeichen der Götter zu deuten.
Aber Kalchas schien nicht froh über den Auftrag. Er sah sehr besorgt aus, als er zu reden begann. »Edler Pelide, ehe ich euch die Wahrheit verkünde, sollst du mir etwas versprechen. Ich fürchte, mein Spruch wird einem Mächtigen unter euch nicht gefallen. Darum schwöre mir, dass du mich beschützen wirst: denn der schwächere Mann ist verloren, wenn ihm ein Stärkerer zürnt.«
»Du sollst keine Sorge haben!«, antwortete Achilleus. »Solange ich lebe, wird dir niemand ein Haar krümmen – und wäre es selbst König Agamemnon, dem dein Spruch missfällt!«, fügte er hinzu, wobei leichter Spott in seinen hellen Augen aufblitzte.
Kalchas amtete auf. »So hört mich an! Phöbos Apollon zürnt den Achaiern, weil Agamemnon seinem Priester die Tochter verweigert und ihn mit harten Worten fortgewiesen hat. Nicht eher wird das Verderben von uns genommen, ehe das Mägdlein ohne Entgelt dem Vater zurückgegeben ist und dem zürnenden Gott eine Sühnehekatombe dargebracht wird.«
Die Männer blickten einander betroffen an, als der Seher schwieg. Da und dort erhob sich Gemurmel.
Dann sprang Agamemnon auf. Seine dunklen Augen loderten vor Zorn. »Ei freilich, du Unglücksseher!«, schrie er. »Wie könnte es anders sein, als dass du mir die Schuld aufbürdest! Hast du mir etwa je Gutes geweissagt? Aber – mag es sein! Ich will nicht, dass die Achaier mich vorwurfsvoll ansehen! Darum gebe ich das Mägdlein zurück – jedoch stelle ich eine Bedingung. Es wäre ungerecht, stünde ich dann allein ohne Siegespreis da, während die übrigen Fürsten ihre schöne Beute behalten dürfen. So will ich mir eines der anderen Mägdlein auswählen, die euch als Ehrengabe zugesprochen sind!« Er schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich langsam Achilleus zu und sah ihm gerade in die Augen. »Vielleicht werde ich sogar das deinige für mich nehmen, edler Pelide«, fuhr er fort, als sei ihm dieser Gedanke eben erst gekommen. »Ich habe gehört, Brisëis sei ebenso schön wie das Töchterlein des Priesters. Ja, wahrhaftig, ich glaube, ich werde meine Herolde senden und sie aus deinem Zelt holen lassen!«
Achilleus war kaum merklich aufgefahren; nur sein sonnengebräuntes Gesicht hatte ein wenig Farbe verloren. Als er sprach, klang seine Stimme ganz ruhig, aber es lag ein warnender Ton darin. »Du weißt, dass es nicht Sitte und eine Beleidigung ist, einem Krieger sein Ehrengeschenk fortzunehmen, König Agamemnon! Es würde dir und mir zur Schande gereichen, darum kann ich nicht glauben, dass du es tun wirst. Oder ist deine Habgier wirklich so groß? So will ich dir etwas sagen, Atride! Warte, bis wir Troja eingenommen haben, dann sollst du von den Schätzen des Priamos dreimal so viel erhalten wie wir alle. Genügt dir das nicht?«
Agamemnon warf ihm einen hinterhältigen Blick zu. »Darüber wollen wir später reden! Jetzt aber macht ein Schiff bereit und lasst die Tiere für das Sühneopfer bringen. Ich selbst hole das Mägdlein und einer von euch mag es nach Chrysa zum Vater geleiten. Vielleicht willst du es tun, Achilleus, damit du sicher sein kannst, dass ich mein Wort halte? Und gewiss gedenkst du, dich bei Phöbos Apollon in Gunst zu setzen, indem du ihm mit eigenen Händen das Opfer bringst!«, fügte er mit offenem Hohn hinzu.
»Hüte deine Zunge, König!«, rief Achilleus zornig. »Es steht dir nicht an zu spotten, denn nur deinetwegen und um deines Bruders willen bin ich hergekommen, weil Menelaos es nicht verstand, seine Gattin zu hüten, und dann nach Rache schrie. Die Troer haben mir nichts getan! Weder haben sie mir Rosse geraubt noch meine Städte zerstört oder meine Äcker verwüstet. Zwischen ihrem Land und dem meinigen liegen ja Meere und Gebirge. Jetzt aber höre mir gut zu, Atride! Ich habe es satt, für dich Städte zu erobern und dir die Beute zu Füßen zu legen, um mich dann von dir verhöhnen zu lassen! Ich werde nicht um Brisëis kämpfen, weder mit dir noch mit irgendjemandem sonst. Nein, ich werde heimkehren in das Land der Myrmidonen. Dann magst du nach mir rufen, wenn deine Krieger vom Kampfe ermattet sind, damit ich ihnen Mut einflöße. Aber ich werde nicht mehr da sein!«
Agamemnon erschrak. Er wusste, was diese Drohung bedeutete, obgleich er es sich selbst kaum einzugestehen mochte. Aber er hatte es hundertmal zähneknirschend mit ansehen müssen: Wenn die Achaier mutlos und der endlosen Kämpfe müde waren und kaum noch Widerstand zu leisten wussten – da brauchte Achilleus nur zu erscheinen, auf seinem Kampfwagen mit den zwei weißen Hengsten, in der silbernen Rüstung und dem funkelnden Helm und mit diesem hellen Haar, das im Winde flog – da war es, als erwachten die müden Krieger. – Und, bei den Göttern, ich glaube, sie würden mit Achilleus selbst in die Finsternis des Hades hinabsteigen, dachte Agamemnon erbittert. Laut aber sagte er: »Deine Überheblichkeit kennt wahrhaftig keine Grenzen! Überschätze dich nur nicht zu sehr! Ich werde dich gewiss nicht bitten zu bleiben, wenn du gehen willst! Damit du jedoch endlich lernst, dich einem zu beugen, der höher steht als du, gebe ich jetzt sogleich Befehl, Brisëis aus deinem Zelte zu holen und in das meinige zu bringen!«
Da packte Achilleus ein entsetzlicher Zorn.
Seine Hand zuckte nach dem Schwert. Aber – er vermochte es nicht herauszuziehen! Denn in diesem Augenblick fühlte er, dass jemand hinter ihn getreten war und mit hartem Griff in sein Haar fasste. Langsam, als sei sein Nacken steif, wandte er den Kopf.
Es war eine seltsam undeutliche, fast schattenhafte Gestalt – aber als er in ihre schrecklich leuchtenden Augen blickte, wusste er sogleich, dass Pallas Athene vor ihm stand. Er wusste auch, dass niemand sie sehen konnte außer ihm: Denn dies war den Unsterblichen eigen. Seine Mutter, die Meernymphe Thetis, hatte es ihm erzählt.
»Wozu bist du gekommen, Göttin?«, murmelte er. »Willst du sehen, wie ich den Atriden erschlage?«
»Ich bin gekommen, deinen Zorn zu besänftigen«, antwortete sie.
»Du wirst ihn nicht töten: denn dies ist nicht sein Schicksal. Gehorche den Göttern, Achilleus!«
Dann war sie fort.
Achilleus atmete tief auf und stieß das Schwert in die Scheide zurück. Er ergriff das goldene Zepter, das neben ihm auf dem Sitz lag, und trat auf Agamemnon zu. »Ich will dir einen Eid schwören, Atride«, sagte er kalt. »So wenig wie dieses Zepter jemals Blätter und Zweige treiben wird, so wenig werde ich jemals wieder für dich kämpfen – selbst wenn die Achaier scharenweise von dem schrecklichen Hektor und den anderen troischen Helden erschlagen werden. Dann wird der Gram dir die Seele zerfressen – mich aber wird es nicht kümmern.«
Achilleus irrte sich: Eines Tages würde der gleiche Gram auch seine Seele zerfressen. Aber das wusste er zu dieser Stunde noch nicht, in der nur der Zorn Macht über ihn hatte.
Er warf Agamemnon das Zepter vor die Füße und wandte sich zum Gehen.
Aber da trat ihm Nestor in den Weg. Er hatte zwei Generationen überlebt und das Alter hatte ihn Weisheit gelehrt. Wie kein anderer besaß er die Gabe der Beredsamkeit.
»Wehe, was tut ihr?«, sagte er sehr ernst. »Wie werden die Troer frohlocken, wenn sie erfahren, dass die achaischen Fürsten Streit miteinander haben! Ich bin so alt, dass ihr mir wohl erlauben mögt, euch einen Rat zu geben. Du, Atride, sollst Achilleus das Mägdlein nicht fortnehmen, denn du weißt selbst, wie viele Siege die Achaier ihm zu verdanken haben. Du aber, Achilleus, denke daran, dass Agamemnon der König des größten achaischen Reiches ist und dass ihr ihn darum zum Oberbefehlshaber des Heeres gewählt habt. Wir alle schulden ihm Achtung!«
»Du