Odysseus kehrte aus Chrysa zurück und erzählte, wie er das Mädchen dem Vater übergeben habe. Sie hatten das Sühneopfer dargebracht und der Priester hatte zu Phöbos Apollon gebetet, dass er die Seuche von den Achaiern nehme.
Der Gott mit dem silbernen Bogen schien zufrieden zu sein: Im Lager der Achaier starb von dem Tage an niemand mehr an der Pest. –
Endlich, am zwölften Abend, erfuhr Thetis, dass die olympischen Götter zurückgekehrt waren.
Kaum stieg am nächsten Tage Eos, die Göttin der Morgenröte, am Himmel empor, da machte sich die Nymphe auf, um Zeus Kronion zu suchen. Sie fand ihn nicht in dem Palast mit den goldenen Säulen, wo die anderen Götter versammelt waren.
Da stieg sie hinauf zum höchsten Gipfel des Olympos. Dort saß er einsam und sah keineswegs wohlgelaunt aus. Seine Stirn war umwölkt und die dunklen Brauen waren grimmig zusammengezogen.
Wieder einmal, wie schon oft, dachte er mit Missbehagen an diesen elenden Krieg um Troja, der kein Ende nehmen wollte. Und das Übel war, dass er, der oberste der Götter, selber noch nicht einmal wusste, wem er den Sieg verleihen sollte – den Troern oder den Achaiern. Auch ärgerte es ihn, dass sich Phöbos Apollon, Hera und Pallas Athene immer einmengten, ohne sich um seinen Willen zu kümmern.
Thetis betrachtete ihn von ferne. Wehe mir!, dachte sie. Er scheint nicht fröhlich! Aber ich mag nicht unverrichteter Dinge zu Achilleus zurückkehren! Also will ich es wagen!
Sie nahm allen Mut zusammen und trat vor ihn hin. »Vater der Götter und Menschen«, sagte sie hastig, »willst du mir eine Bitte erfüllen? Nur du allein kannst es! Agamemnon hat meinen Sohn tödlich beleidigt! Nun bitte ich dich, verleihe den Troern so lange den Sieg, bis der Atride begreift, dass nur Achilleus die Achaier vor dem Untergang retten kann! Dann wird er ihm seine Ehre und das Mägdlein Brisëis wiedergeben, das er ihm genommen hat!«
Zeus fuhr so heftig auf, dass sie erschrocken verstummte. »Bist du auch noch gekommen, um mir von diesem Krieg zu reden?«, schrie er. »Ist es nicht genug, dass er immerfort Zwietracht stiftet zwischen mir und Hera und den übrigen Göttern? Du solltest lieber schleunigst wieder ins Meer hinabtauchen, denn wenn Hera dich sieht, wird sie sogleich argwöhnen, ich bespreche mit anderen Unsterblichen Geheimnisse, die ich vor ihr, meiner Gemahlin, der obersten der Göttinnen, verberge.« Plötzlich schien er sich zu besinnen. »Allerdings«, sagte er nachdenklich, »du hast mich einmal davor bewahrt, zum Gespött aller Bewohner des Olympos zu werden! Das will ich dir nicht vergessen. Deine Bitte ist also gewährt. Du weißt, wenn ich mein Haupt neige, so bedeutet dies ein unwiderrufliches Versprechen!«
Und er neigte sein mächtiges Haupt. Durch die Flanken des Berges ging ein Beben.
Frohen Muts begab sich Thetis hinab auf die Erde.
Zeus aber ging mit gewaltigen Schritten zu seinem Palast, wo ihn die anderen Götter erwarteten.
Hera empfing ihn sogleich mit spottenden Worten. »Ei, mein erhabener Gemahl, du beredest deine Pläne gewiss lieber mit dieser Nymphe Thetis, die doch nur eine der Geringsten unter den Unsterblichen ist, als mit mir? Hat sie dich etwa beschwatzt, den Troern beizustehen und die Achaier zu verderben?«
Aber Zeus Kronion hatte an diesem Morgen nicht viel Geduld. »Gib gut acht«, sagte er grimmig, »du wirst von mir immer erfahren, was ich dir mitteilen will und was du begreifen kannst – mehr nicht! Und nun schweig und setze dich an deinen Platz, damit ich dich nicht meine Macht fühlen lasse!«
Da erschrak sie und sah sich um, ob nicht jemand ihr beistünde. Aber ihr Sohn Hephaistos, der Gott des Feuers und der Schmiede, der just mit einem Krug voll Nektar und einem Becher durch den Saal hinkte, sagte verdrießlich: »Ich bitte dich, Mutter, reize den Vater nicht! Du weißt wohl, er hat die Macht, uns alle von unseren Thronen zu fegen. Ich kenne seinen Zorn nur allzu gut! Denke daran, was geschah, als ich einmal gegen ihn aufbegehrte! Er ergriff mich an der Ferse und schleuderte mich ins Leere hinaus. Ich flog einen ganzen Tag hindurch und bei sinkender Sonne stürzte ich auf die Insel Lemnos hinab. Ich atmete kaum noch. Aber die Sintier hoben mich auf und pflegten mich gesund. Das Hinken freilich ist mir geblieben!«, fügte er mürrisch hinzu, während er den Becher füllte und ihn seiner Mutter reichte.
»Da nimm! Kredenze ihn Zeus Kronion und sei freundlich! Man kann wahrhaftig auf dem hohen Olympos nicht mehr mit Genuss ein köstliches Mahl verzehren, seit dieser Krieg drunten tobt. Denn immer streitet ihr euch um einen jener Sterblichen.«
Er hinkte emsig weiter von einem zum andern und schenkte jedem ein. Und er sah so wunderlich dabei aus mit seinem hässlichen mürrischen Gesicht und seinen krummen Beinen, dass die Götter mit einem Male alle laut zu lachen begannen.
2 Götter und Menschen schliefen längst; allein in Zeus Kronions Augen wollte kein Schlummer kommen. Ihm bereitete das Versprechen, das er Thetis gegeben hatte, große Sorgen. Halten musste er es; aber wie?
Endlich schien es ihm, er habe einen Ausweg gefunden. »Ich will Agamemnon einen Traum senden«, beschloss er. »Der Atride weiß, dass Träume von mir kommen, und wird danach handeln!«
Er rief eines der Nachtgesichte herbei, durch die er zuweilen den Sterblichen seinen Willen kundzutun pflegte.
»Begib dich zu Agamemnon«, befahl er, »und sage ihm, die Zeit sei gekommen, Troja von der Erde zu vertilgen. Hera, welche die Achaier liebt, habe die Götter überredet, ihnen beizustehen, und über Priamos’ Stadt sei schon das Unheil verhängt.«
Der Traum glitt fort durch die Dunkelheit, hinab zum Lager der Achaier.
Er schlüpfte in Agamemnons Zelt und redete ihn an: »Wach auf, Atride, es ist nicht Zeit zu schlafen! Die Götter haben Trojas Untergang beschlossen. Beeile dich, die günstige Stunde zu nützen, und lass das Heer sich zur Schlacht rüsten!«
Agamemnon fuhr auf und der Traum verschwand. Aber er hatte so eindringlich geredet, dass der König keinen Augenblick zauderte. Er sprang vom Lager, legte eilig das Untergewand an, band die Sohlen mit den goldgeflochtenen Riemen an die Füße und hängte sich das Schwert über die Schulter. Während er sich den Mantel umwarf und das Zepter ergriff, rief er nach den Herolden.
Gleich darauf schollen ihre Stimmen allenthalben durch die Dämmerung und riefen die Heerführer und die Krieger zur Versammlung an den Strand.
Ein dumpfes Brausen von Tausend und Abertausend Stimmen erhob sich im Lager, die Krieger kamen aus den Zelten gerannt, Fragen schwirrten durcheinander, niemand wusste, was der Aufruf zu bedeuten hatte.
In Scharen eilten die Achaier hinab zum Ufer. Agamemnon hatte mit Nestor und den anderen Fürsten ein Schiff bestiegen; er wollte zuerst allein mit ihnen reden, denn ihm waren unterdessen allerlei Zweifel gekommen. »Ich brauche euren Rat«, sagte er und erzählte hastig seinen Traum. »Ich weiß, dass Zeus die Träume sendet«, fügte er hinzu, »aber ich weiß auch, dass das Heer dieses endlosen Krieges längst überdrüssig ist und nach Heimkehr verlangt. Wie nun, wenn die Achaier nicht mehr kämpfen wollen?« Er hielt inne und sein Gesicht wurde finster. »Und da ist noch etwas«, fuhr er widerwillig fort, »ihr wisst, dass Achilleus geschworen hat, an keinem Kampf mehr teilzunehmen. Nicht etwa, dass ich glaube, er würde die Schlacht entscheiden – nein, gewiss nicht! Aber er und Patrokolos und die Myrmidonen – nun, sie verstehen zu kämpfen!« Er schwieg und wartete. Aber keiner der Fürsten sagte ein Wort.
Agamemnon biss die Zähne zusammen. Sie zürnten ihm um Achilleus’ willen, er hatte es immer gewusst! Schnell redete er weiter. »Ich muss wissen, was ich von den Achaiern zu erwarten habe, versteht ihr? So will ich sie prüfen! Ich werde ihnen sagen, dass ich keine Hoffnung mehr habe, Troja zu erobern. Und dann werde ich sie fragen, ob sie heimkehren wollen! Was meint ihr?«
Diesmal antwortete Nestor: »Dein Plan ist gut, aber was gedenkst du zu tun, wenn sie alle nach Heimkehr schreien?«
»Dann müsst ihr sie zum Bleiben überreden!«, sagte Agamemnon entschlossen. »Denn dieser Krieg muss ein Ende nehmen. Ich will Zeus das größte Opfer bringen, das die Erde je gesehen hat, wenn er die Sonne dieses Tages nicht untergehen lässt, ehe die