meinst Urte?« fragte Veronika.
»Du sagst Urte zu ihr? Modernes kleines Mädchen! Ja, ich meine Urte. Sie wird sich sehr ängstigen.«
»Fährst du denn nicht wieder zurück?« fragte Veronika, unsicher geworden.
»Das hatte ich heute eigentlich nicht mehr vor. Was machen wir denn nun?«
Veronika war im Grunde sehr froh. Morgen würde Tante Anni bestimmt wieder weg sein. Aber Urte mußte natürlich Bescheid wissen! »Onkel, wenn wir aussteigen, kannst du dann nicht telefonieren? Tante Eckstein hat ein Telefon.«
»Gute Idee! Du bist ein intelligentes Kind«, meinte H.G.B. anerkennend, und Veronika bekam immer mehr Oberwasser. »Onkel, kann ich denn bei dir schlafen?«
Hans-Günther lachte sie an. »Du darfst! Hoffentlich kommen wir beide klar. Kannst du dich denn schon allein ausziehen und waschen?«
»Klar, kann ich alles!« Plötzlich fiel ihr der Goldhamster ein. Vor Schreck hielt sie sich die Hand vor den Mund.
»Was ist?« fragte der Mann erschrocken.
»Der Goldhamster! Ich habe ihn draußen stehengelassen! Ob er Angst hat allein im Dunkeln?«
»Du läßt deinen Hamster im Stich, nur weil du Autofahren willst?« fragte H.G.B. vorwurfsvoll.
Veronika nagte verlegen an ihrer Unterlippe. Sie überlegte krampfhaft, ob sie erzählen sollte, warum sie sich im Auto versteckt hatte. Ihre Vorsicht siegte.
Nach etwa einer Stunde stiegen sie aus. An der Hand des Mannes ging Veronika durch eine Glastür in eine Halle, die ganz aus Marmor war. Dann fuhren sie mit einem Fahrstuhl und betraten eine Wohnung. Veronika hielt vor Staunen den Atem an. Das Wohnzimmer war riesig und hatte Fenster, die bis zur Erde reichten. Es begann schon zu dunkeln, und tief unter sich sah Veronika viele kleine Lichtpunkte.
»Als ob da unten Sterne sind!« sagte sie begeistert.
»Ja, da hast du gar nicht unrecht. Aber jetzt gehst du Hände waschen, und ich werde telefonieren. Dann essen wir zusammen Abendbrot.« H.G.B. schob das Kind ins Badezimmer.
Er wählte die Nummer des »Oberen Felsenkellers«, aber das Besetztzeichen ertönte. »Pech! Na, hat auch bis nach dem Abendessen Zeit«, murmelte er und begab sich in die Küche.
Als das kleine Mädchen erschien, hatte er schon ein paar Brote belegt. Er drückte Ika eine Flasche Orangensprudel in die Hand, und sie gingen wieder in den Wohnraum.
Ika sah interessiert zu, wie der Mann den Tisch deckte.
»Onkel, hast du denn gar keine Frau? Wohnst du hier ganz allein?« wollte sie wissen.
»Ja, stell dir nur vor, ganz allein.«
»Bist du darüber traurig?«
»Weißt du, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Aber wenn du mich so fragst – ein kleines Mädchen wie dich möchte ich schon haben.«
Ika war begeistert. Sie sprang auf und umarmte den Mann. »Au fein! Dann darf ich hierbleiben?«
Hans-Günther wurde es ganz weich ums Herz, als er die kleinen Ärmchen spürte, die sich um seinen Hals schlangen. Um die Rührung abzuschütteln, fragte er: »Was würde deine Mami dazu sagen? Ich meine Urte?«
Veronika wurde nachdenklich. Einerseits fühlte sie sich hier sehr sicher, andererseits hatte sie schon Sehnsucht nach Urte.
»Kannst du Urte nicht auch brauchen?« fragte sie schließlich und machte ein ernstes Gesicht.
Ebenso ernst fragte der Mann: »Glaubst du denn, daß Urte für immer bei mir bleiben möchte?«
»Bestimmt! Urte ist immer so traurig. Sie mag gar nicht gern allein sein. Keiner möchte gern allein sein!«
Veronika sagte es mit ziemlichem Nachdruck.
»Das ist ein wahres Wort, Ika!« Er erhob sich. »Ich muß noch einmal telefonieren.« Während H.G.B. die Nummer wählte, sah er, daß das kleine Mädchen müde mit den Augenlidern klappte, sich auf der schwarzen Ledercouch ausstreckte und in Sekundenschnelle eingeschlummert war.
Endlich bekam er Urte an den Apparat. »Urte, du bist sicher um Ika besorgt. Sie ist bei mir.«
»Ach!« Nichts weiter.
»Urte, bist du verärgert? Glaube mir, ich kann nichts dafür. Sie hatte sich im Wagen versteckt und ich bemerkte sie erst kurz vor München. Sie ist jetzt sehr müde und schläft bereits auf der Couch. Was sie sich bloß dabei gedacht hat, sich bei mir im Wagen zu verstecken?«
»Die Erklärung ist ganz einfach. Eine Kindergärtnerin war hier, die Ika ins Heim holen wollte.«
»Ach, sie lebt sonst in einem Heim? Das arme Ding!«
»Ich kann sie leider nicht zu mir nehmen. Schließlich muß ich meine Brötchen selbst verdienen. Aber Frau Eckstein würde sie eventuell behalten.«
»Am besten wäre es«, sagte Hans-Günther, »wenn Ika in einer richtigen Familie leben würde.«
»Wie besorgt du bist!«
Klang das nicht ironisch?
»Urte, ich kann verstehen, daß dir das Problem zu schaffen macht. Ich wüßte vielleicht einen Ausweg.«
»So?«
»Ja, aber den verrate ich dir besser mündlich! Ika ist von der Idee jedenfalls sehr angetan.«
»Das ist allerdings wichtig.«
»Du bist so seltsam, Urte. Natürlich ist das wichtig! Mir ist es sehr wichtig!«
»Wie edel du bist!«
»Also, mit dir ist am Telefon nichts anzufangen! Wir reden morgen darüber.«
»Warum nicht jetzt? Aber du bist sicher nicht allein.«
»Nein, Ika schläft im Zimmer. Aber das ist nicht der Grund. Ich habe das Gefühl, du begreifst nicht, was ich meine.«
»O doch, ich begreife sehr gut! Du hast ein Herz für Waisenkinder! Man sollte es nicht glauben!«
Urte biß sich auf die Lippen, nachdem ihr diese Worte entschlüpft waren. Dann legte sie rasch auf. Sie hatte den beißenden Spott nicht unterdrücken können. Der Mann wurde ihr immer rätselhafter. Bei solchen Typen, die Frauen wie süßes Konfekt vernaschen, sollte man nicht glauben, daß sie sich um Waisenkinder sorgen!
Urte seufzte. Der alte Gelehrte hatte sicher recht. Ein guter Kern steckte bestimmt in seinem Sohn.
Eine heiße Welle, gemischt aus Scham und Zorn, schäumte in Urte auf, als sie plötzlich wieder das Bild am Fluß vor ihrem geistigen Auge sah.
Hastig eilte sie in die Gaststube, um der Wirtin zu erzählen, wo Veronika steckte.
»Kinder haben doch einen guten Instinkt«, lächelte die Wirtin. »Ika wußte also einen Retter zu finden!«
Urte winkte müde ab. »Ach, das ist natürlich keine Lösung!«
»Sicher nicht! Aber erst einmal ist Zeit gewonnen! Das ist für Ika schon viel wert, denn Kinder denken nicht in die Zukunft.«
»Wenn man doch auch so leben könnte – nicht an die Zukunft denken! Aber wenn man es mal versucht, muß man bestimmt in Kürze dafür bezahlen. Manchmal frage ich mich: Lohnt sich das alles?«
»Wenn man Sie so reden hört! Das ganze Leben liegt doch noch vor Ihnen! Man könnte meinen, Sie hätten Liebeskummer!«
Urte fühlte sich ertappt. Sie wandte sich rasch ab. »Ich gehe noch ein bißchen spazieren. Gute Nacht.«
Der laue Nachtwind war weich und zärtlich. Heiße Sehnsucht wallte in Urte auf. Aber die Welle zerbrach an den scharfen Kanten des Schmerzes.
Mit raschen Schritten eilte das Mädchen dahin, als könnte sie allen Empfindungen entfliehen.
Der