in die Hand und betrachtete ihn aufmerksam. »Sieht beinahe wie lebendig aus, nicht?«
»Na, siehst du. Er ist doch niedlich, nicht wahr?«
»Ich will ihn mal sprechen hören!«
»Aber mitten in der Nacht schläfst du doch immer.«
»Kannst du mich nicht mal wecken?«
»Weißt du, ich bin jetzt selbst immer sehr müde und schlafe wie ein Murmeltier.«
»Und Tiere?« wollte Veronika wissen. »Können die auch sprechen?«
»Einmal im Jahr, in der Christnacht, können auch Tiere sprechen.«
Veronikas Augen leuchteten. »Wenn ich vielleicht mal einen richtigen Goldhamster bekomme, bleibe ich am Heiligen Abend bis Mitternacht auf. Oder bis zum Morgen, wenn es sein muß. Es muß schön sein, wenn Tiere reden können. Schade, nur einmal im ganzen Jahr.«
»Sie sprechen auch sonst. Die Menschen begreifen es manchmal nur nicht.«
»Wie denn, wie sprechen sie denn?«
»Zum Beispiel mit den Augen. Wenn dich Teddy ansieht, weißt du doch oftmals genau, was er von dir will, oder?«
Veronika lachte laut auf. »Wenn ich was zu essen habe, bettelt er!«
»Und wenn du mit ihm spielen sollst, merkst du es auch.«
»Ja, genau!« Veronika nickte begeistert. »Aber ganz kleine Tiere, Käfer und solche, die versteht man nicht!«
»Heute morgen sah ich einen Käfer, der sagte zu mir: Es ist sehr mühselig, diesen steilen Berg zu erklettern. – Und eine Schnecke sagte: Ich muß durch eine große Sandwüste, hoffentlich schaffe ich das.«
»Och!« machte Veronika erstaunt und ungläubig.
»Ich habe dem Käfer den Stock aus dem Weg geräumt, den er für einen Berg hielt, und die Schnecke über den Weg getragen, sonst wäre sie sicher überfahren worden. Was meinst du, wie sich die beiden gefreut haben!«
»Die können doch nicht lachen!« erwiderte Veronika sachlich und ein bißchen verächtlich.
»Nein, aber der Käfer war ganz verdutzt und die Schnecke streckte ihre Fühler aus, nachdem ich sie ins feuchte Gras gesetzt hatte, und fühlte sich so richtig behaglich.«
»Ach so!« Veronika sann noch einen Augenblick lang nach. »Man muß sie nur beobachten, dann merkt man, was sie sagen wollen, nicht? – Ich habe Hunger!« erklärte sie dann unvermittelt.
»Das ist ein gutes Zeichen für deine Genesung. Ich weiß gar nicht, ob wir schon etwas bekommen können. Es ist noch früh am Morgen. Ich werde nachsehen.«
Veronika nickte nur, und als Urte die Tür hinter sich schloß, hörte sie noch: »Heute nacht muß du mit mir sprechen, Goldtier, sonst bin ich dir böse!«
Nach dem Frühstück unternahmen Urte und das kleine Mädchen einen langen Spaziergang. Es war ein herrlicher Sonnentag. Federwölkchen standen hoch im Blau und ein leichter Wind wehte.
Als sie sich an einem Hang ins Gras streckten, schlummerte das Kind ein. Urte aber dachte an den kommenden Tag und bekam Herzklopfen. Sie war glücklich bei dem Gedanken an Hans-Günther, und doch spürte sie eine deutliche Unsicherheit. Es war alles viel zu schnell gegangen! Urte fühlte sich überrumpelt. Dabei hatte sie immer wieder das Empfinden, als ob sie den Mann schon seit einer kleinen Ewigkeit kannte.
Nach dem Mittagsschlaf im Gasthaus schlug Veronika vor: »Komm doch mit zu Opa!«
»Meinst du nicht, daß wir ihn stören?« fragte Urte unsicher.
»Nööö, der läßt sich nicht stören. Wenn er nicht sprechen will, dann merkt er gar nicht, daß Besuch da ist.«
»Du hast ja anscheinend schon deine Erfahrungen gesammelt«, lächelte Urte. »Versuchen wir es mal.« Sie hoffte, mit dem Professor über seinen Sohn sprechen zu können. Der Tag ohne Hans-Günther kam ihr endlos vor.
Sie fanden den alten Gelehrten im romantischen Garten des Schlößchens. Völlig in sich versunken starrte er auf eine der großen gelben Blüten der Kaiserkrone. Veronika lief auf ihn zu und umschlang seine Knie.
»Opa«, sagte sie nur.
Der Professor schaute auf sie hinunter, als erwache er. »Ah, du bist es, Goldtöchterchen. Na, wieder ganz gesund?«
Veronika nickte. »Urte ist mitgekommen.«
Jetzt erst entdeckte der alte Herr das Mädchen, das sich nur zögernd näherte.
»Wir stören Sie vielleicht, Herr Professor.«
Sie reichten sich die Hände.
»Nein, nein, Sie stören nicht. Ich ging in den Garten, um ein wenig zu ruhen. Aber es gelingt mir nur selten. Auf Schritt und Tritt begegne ich ihr – der Schönheit der Natur.« Er bog die große gelbe Blüte ein wenig zur Seite. »Schauen Sie, darin wohnt ein winziger schwarzer Käfer. Für ihn gibt es sicher nur diese goldene Welt mit dem blauen, unendlich fernen Himmel.«
»Sicher fühlt er sich sehr glücklich«, meinte Urte nachdenklich. »Wie glücklich müßten erst wir Menschen sein, da uns diese Vielfalt an Farben, Formen und Düften geschenkt wurde.«
»Ja, das ist wahr. Aber oft sieht der Mensch vor lauter Kummer die Schönheit nicht mehr. Und doch ist mir die Natur immer eine große Trösterin gewesen.«
»In der Natur besinnt man sich am schnellsten wieder auf den Schöpfer«, sagte Urte, während sie neben dem alten Gelehrten zum Steintisch schlenderte.
Ein gütiges Lächeln verklärte das Gesicht des alten Mannes.
Sie setzten sich auf die Bank, die noch Sonnenwärme ausstrahlte, obwohl sie bereits im Schatten lag.
Der Himmel verdunkelte sich und ein Windstoß fuhr durch die Baumwipfel. Schon fielen dicke Tropfen klatschend auf den Steintisch.
Veronika stürmte herbei.
»Es donnert!« flüsterte sie furchtsam.
»Hast du etwa Angst?« fragte der Professor.
Veronika schwieg eine Weile. Schließlich fragte sie: »Du etwa nicht?«
»Nein!« lachte Professor Buss. »Ich habe keine Angst. Ich finde ein Gewitter wunderbar!«
Veronika starrte ihn ungläubig an.
Sie waren währenddessen ins Schlößchen gegangen, die schmale Treppe emporgestiegen und ins Studierzimmer gelangt.
Zaghaft trat Veronika ans Fenster. Als der erste Blitz aufleuchtete, zuckte sie furchtsam zusammen, und als der Donner über den Himmel polterte, verbarg sie ihr Gesicht schnell in Urtes Rockfalten.
»Ach, das bißchen Krach!« lächelte der alte Gelehrte. »Wenn du eine Tüte aufbläst und sie durch Draufschlagen zerplatzen läßt, dann freust du dich doch auch?«
Veronika schielte vorsichtig zu ihm hinüber und nickte. »Na siehst du, etwas anderes ist der Donner auch nicht. Du mußt dir vorstellen, daß der Blitz eine große aufgeblasene Tüte zerreißt.«
Veronika ging tatsächlich wieder ans Fenster.
Der Regen rauschte wie ein Sturzbach hernieder. Es war still in dem kleinen Raum. Nur der Regen prasselte gegen die Scheiben. Der Gelehrte kramte gedankenverloren in seinen Papieren. Urte spürte, daß er sie und das Kind im Augenblick vergessen hatte.
Das Trommeln des Regens wurde leiser und hörte schließlich ganz auf. So schnell wie es gekommen war, verschwand das Gewitter. Nur noch in der Ferne grollte es dumpf.
Ein Sonnenstrahl verirrte sich ins Zimmer.
»Ich glaube, wir können gehen«, sagte Urte und schob das Kind vor sich her.
Der Professor saß an seinem Arbeitstisch – in seiner Welt, in der Welt der Schönheit.
»Wiederseh’n,