kann abgeholfen werden! Was fangen wir heute abend an?«
»Ganz egal. Laß uns ein Stück spazierengehen, vielleicht zur Engelsburg hinauf.
»Ja, mein Mädchen«, sagte Hans-Günther zärtlich. »Das ist eine Burg, die zu dir paßt. Laß uns gehen.«
Sie stiegen den Berg hinauf. Das tiefe Taubertal lag bereits im Schatten. Der Abendwind flüsterte zärtlich in den dünnen Zweigen der Birken.
Hans-Günther und Urte gingen schweigend und eng aneinandergeschmiegt.
»Da sind wir schon«, sagte Urte nach einer Weile.
»Ja, aber, wo ist die Burg?«
»Eine richtige Burg gibt es gar nicht. Das alles hier nennt sich so.«
Hans-Günther sah sich um und entdeckte eine kleine verborgene Waldlichtung jenseits des Weges. Er zog Urte mit sich. Schweigend saßen sie minutenlang nebeneinander – und dann nahm der warme trockene Grasteppich sie auf.
Aus den dunklen Bäumen rieselte die Abenddämmerung auf sie nieder, hüllte sie ein wie ein weiches Tuch.
Urte sah das Gesicht des Mannes über sich. Seine Augen waren schwarze schimmernde Opale. Sie erzitterte unter seinen Händen, die brennende Zärtlichkeit verströmten, und sein Mund berührte wie eine Flaumfeder ihr Gesicht.
Am Nachthimmel blühte der erste Stern auf und dorthin entschwebte das Mädchen. Sie spürte die Weite des Alls und die Schwerelosigkeit des unendlichen Raumes.
Sie klammerte sich an den Mann, um ihn mitzunehmen. Immer schneller wurde der Flug zu den Sternen, immer größer die Seligkeit. Und dann kam der Sturz in die Nacht.
Urte fand sich in den Armen des Geliebten wieder. Seine Hände bewahrten sie vor dem Schmerz des Aufpralls, vor der Leere und der Einsamkeit.
Eine große Liebe war Wirklichkeit geworden. Urte wußte jetzt, daß sie nie zuvor von der Liebe berührt worden war.
Sie waren so erfüllt voneinander, daß sie das Wort fürchteten, das die Stimmung zerreißen würde.
Schweigend blickten sie in den samtschwarzen Nachthimmel. Brillanten und Sternenstaub. Zeugen der Geburt ihrer Liebe…
*
Als Urte am nächsten Morgen aus dem Fenster sah, dämmerte ein trüber Tag herauf. Dunkle Wolkenberge türmten sich über der Stadtsilhouette drohend wie Ungeheuer.
Urte nahm sich vor, ihre herrliche Stimmung dadurch nicht verderben zu lassen. Der Zauber des vergangenen Abends wirkte noch nach. Urte konnte nicht glauben, daß der Mann, mit dem sie jene Stunden verlebt hatte, ein oberflächlicher Mensch war – wie der alte Professor behauptete.
»Heute abend!« flüsterte sie. »Heute abend ist er wieder bei mir!«
Da Veronika ausgiebig mit ihrem Goldhamster beschäftigt war, bummelte Urte nach dem Frühstück ziellos über die Bogenbrücke.
Ihre Gedanken beschäftigten sich ausschließlich und ununterbrochen mit Hans-Günther. Ihre Blicke schweiften währenddessen über den Fluß, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.
Die Wolkendecke war inzwischen aufgerissen. Es bildeten sich Lichtinseln, die das Wasser aufblitzen ließen und den hellen Sand am Ufer golden färbten.
Plötzlich stockte Urtes Herzschlag.
In der Lichtinsel, wie von einem riesigen Scheinwerfer angestrahlt, stand das schwarz-rote Mädchen mit den Eisaugen.
Toska von Tersky trug einen winzigen Bikini und reckte ihre schönen schlanken Arme in aufreizender Pose gen Himmel.
Urte spürte dasselbe große Unbehagen wie an jenem Abend im Hotel Eisenhut. Sie rief sich energisch selbst zur Ordnung und sagte halblaut: »Na, wenn schon!«
Doch bevor sie sich zum Weitergehen zwang, warf sie noch einmal einen Blick zum Fluß hinunter, und jetzt war sie unfähig, sich zu rühren.
Denn aus den Büschen trat ein Mann, und dieser Mann war Hans-Günther Buss! Er näherte sich der Schwarzroten mit zielstrebigen Schritten und faßte nach ihren erhobenen Armen. Das Mädchen lehnte sich an ihn, nein, sie rankte sich an ihm empor wie eine Schlingpflanze, schmiegte die Arme um den Nacken des Mannes und küßte ihn.
Urte glaubte, der Kuß müsse ihn töten. Sie schloß die Augen und begann blind den Weg zurückzulaufen. Als sie die Lider wieder hob, verschwamm ihr Blick.
Diesmal gab es keine Ausrede! Diesmal war es bestimmt kein dienstliches Techtelmechtel!
Urte stürmte den Weg bergan und gelangte zur Engelsburg. Als sie keuchend stehenblieb, erkannte sie die Stelle, an der sie am Vorabend mit Hans-Günther gesessen hatte. Sie ließ sich fallen, als sei alle Kraft aus ihr gewichen.
Hier hatte sie erst vor ein paar Stunden die große Seligkeit erlebt, und jetzt zerfetzte sie der Schmerz.
Sie krallte ihre Hände in das trockene Gras. Ihre Schultern bebten, als schüttele sie ein Sturm. Hinter den geschlossenen Lidern sah sie das Bild am Fluß. Es war in ihre Netzhaut eingebrannt: Die schwarzrote Schlange und der geliebte Mann!
Der Schmerz verebbte in kleinen Wellen, und dann war nur noch eine dumpfe Gefühllosigkeit in dem Mädchen. Sie lag leblos wie eine Scheintote und ließ einfach die Zeit vergehen. Sie war nicht fähig, einen endgültigen Entschluß zu fassen.
*
Zur gleichen Zeit stoppte vor dem Gasthaus ein Auto.
Veronika spielte gerade mit dem Spitz. Der Goldhamster stand in seinem Käfig neben ihr.
Als sich die Tür des Wagens öffnete, blickte das kleine Mädchen kaum auf. Doch dann war in seinem Blick ein Erkennen – und dann nackte Panik.
»Tante Anni!« flüsterte Veronika und stand unbeweglich wie eine Puppe.
»Veronika, du bist es also tatsächlich! Was machst du uns nur für Kummer!« Die Kindergärtnerin aus dem Heim »Alpenblick« ging mit raschen energischen Schritten auf das Kind zu. Sie streckte die Hand aus. Veronika griff danach und machte automatisch ihren Knicks.
»Ich bin gekommen, um dich zu holen, Ika! Aber ich muß natürlich zuerst mit der Wirtin sprechen. Ist sie da?«
Veronika brachte kein Wort über die Lippen. Sie nickte stumm und wies auf das Haus.
»Lauf nicht fort!« mahnte die Kindergärtnerin. »Wir fahren gleich ab!« Sie betrat die Gaststube. Wenige Augenblicke später erschien die Wirtin. »Grüß Gott.«
»Grüß Gott. Ich bin gekommen, um Veronika abzuholen. Ich bin Kindergärtnerin im Haus ›Alpenblick‹.«
»Na, das ist aber eine Überraschung. Da muß ich mich erst einmal setzen.« Die Wirtin sank auf den nächsten Stuhl. »Darum also Ikas Abneigung gegen das Kinderheim! Die Kleine kam in Panik, wenn wir sagten, daß sie vielleicht in ein Heim müßte.«
»Sie haben das Kind sicher sehr verwöhnt«, bemerkte die Kindergärtnerin kühl.
»Ika hat von einer Tante Anni erzählt. Aber viel mehr brachten wir aus ihr nicht heraus. Wir haben immer herumgerätselt, wo sie wohl hergekommen ist.«
»Sehen Sie, Frau Eckstein, das ist auch der Grund, warum Veronika nicht in eine private Pflegestelle vermittelt werden kann. Sie ist ein bißchen…, na, sagen wir einmal, sie ist ein bißchen zurückgeblieben.« Die Kindergärtnerin sah die Wirtin bedeutungsvoll an. »Sie verstehen, was ich meine?«
»Sie meinen, die Kleine ist ein bißchen blöd?« fragte die Wirtin empört. »Davon ist mir aber bisher noch nichts aufgefallen!«
»So? Aber mit fünf Jahren müßte ein Kind die notwendigen Antworten über seine Herkunft eigentlich machen können!«
Der Wirtin kam ein Gedanke. »Wenn ich mir vorstelle, wieviel Angst das Kind vor dem Heim hatte, möchte ich beinahe glauben, daß sie absichtlich nichts gesagt hat!«
Die Kindergärtnerin richtete