Charles Dickens

Klein-Doritt


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mögliche versucht, mich von dieser Bitte abzuhalten; ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht. Als ich aber gewiß wußte, daß Sie wiederkommen würden, nahm ich mir vor, mit Ihnen zu sprechen. Nicht weil ich mich seiner schämte«, sie trocknete rasch ihre Tränen, »sondern weil ich ihn besser kenne als irgend jemand und ihn liebe und stolz auf ihn bin.«

      Von dieser Last befreit, trieb es Klein-Dorrit zu gehen. Da Maggy wieder ganz wach war und aus der Ferne über das Obst und die Kuchen im Vorgeschmack des Genusses schmatzend hinstarrte, bereitete ihr Clennam die beste Erquickung, die in seiner Macht stand: er schenkte ihr ein Glas Wein ein, das sie in einer Reihe von lauter Schlücken austrank, und bei jedem ihre Hand auf die Luftröhre legte, während sie beinahe atemlos und mit weit hervorstehenden Augen sagte: »O wie köstlich! Ach! es ist wie im Hospital.« Als sie den Wein ausgetrunken und ihre Lobsprüche beendet hatte, hieß er sie ihren Korb (sie war nie ohne ihren Korb) mit allen Eßwaren auf dem Tisch zu füllen und zusehen, daß kein

      Brocken übrigbleibe. Die Freude, mit der Maggy dies tat, und die Freude, mit der ihr Mütterchen Maggy vergnügt sah, war die beste Wendung, die das Gespräch unter solchen Umständen nehmen konnte.

      »Aber die Tore werden längst geschlossen sein«, sagte Clennam, plötzlich auf diesen Gedanken verfallend. »Wo gehen Sie hin?«

      »Ich gehe nach Maggys Wohnung«, antwortete Klein-Dorrit. »Ich bin dort ganz gut aufgehoben, ganz sicher.«

      »Ich muß Sie dahin begleiten«, sagte Clennam. »Ich kann Sie nicht allein gehen lassen.«

      »Bitte, lassen Sie uns allein gehen. Bitte!« sagte Klein-Dorrit.

      Sie bat mit solchem Ernst, daß Clennam zu zartfühlend war, sich ihr aufzudrängen; um so mehr, als er klug genug war einzusehen, daß Maggys Wohnung von der geringsten Art sein müsse. »Komm, Maggy«, sagte Klein-Dorrit freundlich, »wir werden schon fortkommen. Wir kennen den Weg zu dieser Zeit, nicht wahr, Maggy?«

      »Ja, ja, Mütterchen, wir kennen den Weg«, kicherte Maggy, und sie gingen fort. Klein-Dorrit kehrte sich an der Tür um und sagte: »Gott segne Sie!« Sie sagte es sehr leise, aber – wer weiß – sie wurde vielleicht so gut oben im Himmel vernommen wie ein ganzer Kirchenchor.

      Arthur Clennam ließ sie erst um die Ecke der Straße gehen, ehe er in einiger Entfernung folgte; auch nicht in der mindesten Absicht, zum zweiten Male in die Privatangelegenheiten Klein-Dorrits einzugreifen; sondern um sich selbst die Beruhigung zu verschaffen, sie sicher zu wissen, was der Fall war, sobald er sie in der Nachbarschaft sah, an die sie gewöhnt war. Sie erschien ihm so klein, so zerbrechlich und machtlos gegen das schwarze, neblige Wetter, während sie in dem schwankenden Schatten ihres Mündels einherging, daß ihm in seiner Teilnahme und seiner Gewohnheit, sie als ein von der übrigen rauhen Welt abgesondertes Kind zu betrachten, zu Mut war, als wenn er sich glücklich fühlen würde, sie in seine Arme zu nehmen und bis an das Ende ihrer Wanderung zu tragen.

      Mit der Zeit kamen sie nach der Hauptstraße, wo das Marschallgefängnis lag; da sah er sie ihre Schritte verlangsamen und bald in eine Nebenstraße einbiegen. Er blieb stehen; denn er fühlte, daß er kein Recht hatte weiterzugehen, und verließ sie langsamen Schrittes. Er hatte nicht den geringsten Verdacht, sie könnten riskieren, obdachlos bis zum Morgen umherirren zu müssen; er hatte keine Idee von der Wahrheit, bis lange, lange später.

      »Aber«, sagte Klein-Dorrit, als sie vor einem armseligen Haus ganz in der Dunkelheit stille hielten und lauschend keinen Ton vernahmen, »das ist ja eine sehr hübsche Wohnung für dich, Maggy, wir dürfen die Leute nicht belästigen. Deshalb wollen wir nur zweimal klopfen und nicht sehr laut; und wenn wir sie dadurch nicht aufwecken, müssen wir eben bis Tagesanbruch auf der Straße umhergehen.«

      Klein-Dorrit klopfte einmal mit bescheidener Hand und horchte. Dann klopfte sie noch einmal mit bescheidener Hand und horchte. Alles blieb ruhig und still. »Maggy, wir müssen uns schon drein fügen, meine Liebe. Wir müssen geduldig sein und bis zu Tagesanbruch warten.«

      Es war eine kalte, dunkle Nacht, und ein feuchter Wind blies, als sie wieder auf die Hauptstraße kamen und die Glocken halb zwei schlagen hörten. »Nur noch fünf und eine halbe Stunde, und wir können nach Hause kommen«, sagte Klein-Dorrit. Von Hause zu sprechen und zu gehen und danach zu sehen, war eine natürliche Folge. Sie gingen nach dem geschlossenen Tor und sahen durch das Schlüsselloch in den Hof. »Ich hoffe, er schläft gesund«, sagte Klein-Dorrit, einen der Riegel küssend, »und vermißt mich hoffentlich nicht.« Die Pforte war ihnen so vertraut wie eine Freundin, daß sie Maggys Korb in eine Ecke stellten, damit er als Sitz diene. So ruhten sie dicht aneinander gedrängt dort einige Zeit aus. Während die Straße leer und still war, fürchtete sich Klein-Dorrit nicht; wenn sie jedoch in einiger Entfernung einen Schritt hörte oder einen sich unter den Straßenlaternen hinbewegenden Schatten sah, fuhr sie auf und flüsterte ihrem Kind zu: »Maggy, ich sehe jemanden. Komm fort!« Maggy erwachte dann mehr oder weniger verdrießlich, und sie gingen eine Zeitlang umher und kamen dann zurück.

      Solange das Essen eine Neuigkeit und eine Unterhaltung war, ging es mit Maggy ganz gut. Als diese Periode jedoch vorüber war, klagte sie über die Kälte und schauerte und winselte. »Es wird bald vorüber sein, liebes Kind!« sagte Klein-Dorrit geduldig.

      »O, das ist alles ganz gut für dich, Mütterchen«, versetzte Maggy, »aber ich bin ein armes Ding, nur zehn Jahre alt.« Endlich, als in der Stille der Nacht die Straße vollkommen ruhig war, legte Klein-Dorrit Maggys schweres Haupt an ihre Brust und wiegte sie in den Schlaf. So saß sie am Tore, einsam und allein, und blickte zu den Sternen empor und sah die Wolken in wilder Flucht über sie hinziehen – das war der Tanz bei Klein-Dorrits Gesellschaft.

      »Wenn es wirklich eine Gesellschaft wäre!« sagte sie plötzlich, als sie so dasaß. »Wenn es hell und warm und schön wäre und es unser Haus wäre, und mein armer, lieber Vater wäre der Herr und nie hinter diesen Mauern gewesen. Und wenn Mr. Clennam einer von unsern Gästen wäre, und wir tanzten zu entzückender Musik und wären alle so heiter und vergnügt wie nur immer möglich! Ich möchte wissen –« Es eröffnete sich ihr eine solche Reihe von Dingen, die sie hätte wissen mögen, daß sie ganz in Gedanken verloren zu den Sternen aufblickte, bis Maggy wieder unruhig wurde und aufstehen und gehen wollte.

      Es wurde drei Uhr und halb vier Uhr, und sie waren über die London-Brücke gegangen. Sie hatten das Rauschen des Stromes gehört, der sich an den Hindernissen brach; hatten mit Schauer durch den dunkeln Nebel auf den Strom hinabgeschaut; hatten kleine Streifen des Wassers blitzen sehen, die das Licht der Brückenlaternen spiegelten, die wie Dämonenaugen leuchteten und die Schuld und das Elend mit furchtbarem Zauber in die Tiefe zogen. Sie waren unheimlich erschrocken an obdachlosen Menschen vorübergegangen, die zusammengekauert in Winkeln lagen. Sie waren Betrunkenen entflohen. Sie waren zurückgetreten, wenn sie Männer an sich vorüberschleichen, sich an Straßenecken zuwinken, zuflüstern oder andere in voller Flucht davoneilen sahen. Indessen tat der Wegweiser und Führer, Klein-Dorrit, glücklich in ihrer jugendlichen Erscheinung, als ob sie sich an Maggy hielte und sich auf sie stützte, und mehr als einmal hatte eine Stimme aus einem Haufen lärmenden und herumstreichenden Volks auf ihrem Wege den übrigen zugerufen, man solle »die Frau und das Kind vorbeigehen lassen!«

      So waren die Frau und das Kind vorübergegangen und weitergegangen, und fünf Uhr hatte es von den Türmen geschlagen. Sie gingen langsam in der Richtung nach Osten, bereits nach dem ersten blassen Streifen Tageslicht blickend, als eine Frau hinter ihnen drein kam.

      »Was tut Ihr mit dem Kinde?« sagte sie zu Maggy.

      Sie war jung – viel zu jung, um hier zu sein, der Himmel weiß es! – und weder häßlich noch leichtsinnig aussehend. Sie sprach grob, aber mit keiner von Hause aus groben Stimme; es war sogar etwas Melodisches in deren Klang.

      »Was tut Ihr mit Euch selbst hier?« versetzte Maggy in Ermanglung einer bessern Antwort.

      »Könnt Ihr's nicht sehen, ohne daß ich Euch's sage?«

      »Ich weiß nicht, ob ich's kann«, sagte Maggy.

      »Ich bringe mich selber um. Nun habe ich Euch geantwortet, jetzt antwortet mir. Was tut Ihr mit dem Kinde?«

      Das