Charles Dickens

Klein-Doritt


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er etwas Wasser«, sagte er umherblickend. (Ein Dutzend guter Menschen eilte fort, um welches zu holen.) »Sind Sie schwer verletzt, mein Freund?« fragte er den Mann auf der Tragbahre italienisch. »Ja, Sir; ja, ja, ja. Mein Bein, mein Bein. Aber es freut mich, die alte Musik zu hören, obgleich ich sehr schlimm daran bin.« »Sie sind ein Reisender? Da ist Wasser! Ich will Ihnen welches geben.« Sie hatten die Tragbahre auf einen Haufen Pflastersteine gestellt. Sie stand ziemlich hoch vom Boden ab, und wenn man sie etwas senkte, konnte er den Kopf leicht mit der einen Hand heben und das Glas mit der andern an die Lippen halten. Es war ein kleiner, muskulöser, brauner Mann mit schwarzem Haar, weißen Zähnen und Ohrringen in den Ohren. Wie es schien, ein lebhaftes Gesicht. »So recht. Sie sind Reisender?« »Ja, Herr.« »Fremd in dieser Stadt?« »Gewiß, ganz und gar. Ich kam heute an diesem unglückseligen Abend hier an.« »Woher?« »Von Marseille.«

      »Was sie sagen! Ich gleichfalls! Ich bin beinahe so fremd wie Sie, obgleich ich hier geboren bin; vor kurzem erst kam auch ich aus Marseille. Fassen Sie Mut!« Das Gesicht sah ihn so bittend an, als er nach dem Abwischen aufstand und den Mantel, der die vor Schmerzen sich windende Gestalt bedeckte, wieder über ihn legte. »Ich werde Sie nicht verlassen, bis man besser für Sie gesorgt hat. Mut! Sie werden sich in einer halben Stunde schon weit besser befinden!«

      »Ach! Altro! Altro!« rief der arme, kleine Mann in einem etwas ungläubigen Ton; und als sie ihn aufnahmen, ließ er seine rechte Hand herabhängen, um seinen Zeigefinger verneinend zu drehen.

      Arthur Clennam wandte sich um, und neben der Tragbahre hergehend und bisweilen ein ermutigendes Wort sprechend, begleitete er ihn bis zu dem nahen St.-Bartholomäus-Hospital. Niemand von der Menge als die Träger und er wurden eingelassen; der kranke Mann wurde mit kalter, wissenschaftlicher Art auf einen Tisch gelegt und sorgfältig von einem Chirurgen untersucht, der so nahe zur Hand und so bereit zu erscheinen war, wie das Übel selbst. »Er versteht kaum ein Wort Englisch«, sagte Clennam, »ist er schwer verletzt?«

      »Wir wollen alles zuvor genau nachsehen«, sagte der Chirurg, seine Untersuchung mit geschäftsmäßigem Vergnügen fortsetzend, »ehe wir unsre Meinung aussprechen.«

      Nachdem er das Bein mit einem Finger und zwei Fingern, mit einer Hand und zwei Händen oben und unten, rechts und links, in dieser Richtung und in jener Richtung betastet und über die wichtigen Punkte beifällige Bemerkungen gegen einen andern Herrn gemacht, der hinzugekommen, klopfte der Chirurg dem Patienten zuletzt auf die Schulter und sagte: »Es ist nicht gefährlich. Er wird bald wieder gut gehen. Es ist ein ziemlich schwieriger Fall, aber er soll sich diesmal nicht von seinem Bein trennen müssen.« Clennam verdolmetschte diese Worte dem Patienten, der voll Dankbarkeit war und in seiner ausdrucksvollen Weise mehrere Male die Hand des Dolmetschers und des Chirurgen küßte.

      »Es ist vermutlich eine schwere Verletzung«, sagte Clennam.

      »Ja, ja«, antwortete der Chirurg, mit dem bedächtigen Vergnügen eines Künstlers, der das Werk auf seiner Staffelei betrachtet. »Ja, allerdings. Es ist ein komplizierter Knochenbruch über dem Knie und eine Ausrenkung weiter unten. Beide sind von wundervoller Art.« Er gab dem Patienten einen freundlichen Schlag auf die Schulter, als wenn er wirklich fühlte, daß es ein guter Mensch sei und aller Empfehlung wert, da er sein Bein in einer für die Wissenschaft so interessanten Weise gebrochen.

      »Er spricht französisch?« sagte der Chirurg.

      »O ja, er spricht französisch.«

      »So wird er sich hier nicht verlassen fühlen. – Sie werden nur, wie ein mutiger Bursche, etwas Schmerzen zu ertragen haben, mein Freund, und können dankbar sein, daß alles so gut geht, wie es geht«, fügte er in dieser Sprache hinzu; »bald werden Sie wieder zum Erstaunen aller gehen können. Aber nun laßt uns sehen, ob es sonst nichts gibt und wie unsere Rippen beschaffen sind.«

      Es gab sonst nichts, und unsere Rippen waren gesund. Clennam blieb, bis alles, was geschehen konnte, pünktlich und sorgfältig geschehen war – der arme verspätete Wanderer in einem fremden Land bat ihn eindringlich um diese Gunst –, und weilte am dem Bett, in das dieser beizeiten gebracht worden, bis er in einen leichten Schlaf fiel. Dann schrieb er einige Worte für ihn auf seine Karte mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen, und bat sie ihm zu übergeben, wenn er erwachte.

      Alle diese Vorgänge dauerten so lange, daß es elf Uhr schlug, als er das Hospital verließ. Er hatte für den Augenblick eine Wohnung in Covent-Garden gemietet und schlug den nächsten Weg nach diesem Quartier durch Snow Hill und Holbornstreet ein.

      Nach der Besorgnis und Teilnahme, die sein letztes Abenteuer hervorgerufen, wieder mit sich allein, versank er natürlich in träumendes Sinnen. Er konnte aber begreiflicherweise nicht zehn Minuten nachdenklich dahinschlendern, ohne daß ihm Flora einfiel. Sie erinnerte ihn notwendig an sein Leben mit all seinem Mißgeschick und seinem geringen Glück.

      Als er in seine Wohnung kam, setzte er sich vor das erlöschende Feuer, wie er an dem Fenster in seinem alten Zimmer gestanden und hinausgeschaut auf den geschwärzten Wald von Kaminen, und richtete seinen Blick auf die dunkle Reihe von Ereignissen, durch die er bis zu dieser Stufe seines Lebens gekommen war. Das war so lang, so leer, so kahl. Keine Kindheit, keine Jugend, mit Ausnahme einer Erinnerung; und die einzige Erinnerung hatte sich gerade heute als eine Torheit erwiesen.

      Es war ein Unglück für ihn, so unbedeutend es auch für einen andern gewesen sein möchte. Denn, während all das, was hart und streng in seiner Erinnerung war, sich als Wirklichkeit erwies – für Blick und Berührung hart blieb und nichts von seiner schrecklichen Widerlichkeit verlor –, sollte die einzige süßere Erinnerung seines Lebens nicht dieselbe Probe bestehen und zerfließen. Er hatte dies in der letzten Nacht vorausgesehen, als er mit wachen Augen geträumt; aber er hatte es damals nicht gefühlt; jetzt jedoch hatte er es gefühlt.

      Er war in solcher Weise ein Träumer; denn er war ein Mann, der einen in seiner Natur tief gewurzelten Glauben besaß, einen Glauben an alles Edle und Gute, das seinem Leben gemangelt. In Kargheit und hartem Verkehr aufgewachsen, hatte dieser Glaube ihn gerettet, daß er ein Mann von ehrenhafter Gesinnung und freigebiger Hand wurde. In Kälte und Strenge aufgewachsen, hatte dieser Glaube ihn gerettet, daß er ein warmes und teilnehmendes Herz behielt. Er war in einem Glaubensbekenntnis aufgewachsen, das zu finster war, um es in seinem Verfahren zu verfolgen, wie dadurch der Spruch, daß der Mensch nach dem Bilde seines Schöpfers geschaffen, in das Gegenteil davon verwandelt wurde, nämlich daß dieser Schöpfer nach dem Bilde eines verirrten Menschen geschaffen worden wäre. Vor diesem finstern Wähnen hatte ihn jener Glaube gerettet, so daß er nicht verdammte, sondern in Demut hilfsbereit war und Hoffnung und Liebe sich bewahrte.

      Und dieser Glaube schützte ihn auch vor der winselnden Schwäche und grausamen Selbstsucht, zu meinen, weil solch ein Glück oder solch eine Kraft nicht in seinen kleinen Lebensweg gekommen oder für ihn gearbeitet habe, deshalb liege es auch nicht in dem großen Plane; sondern wenn es einmal erscheine, sei es auf die niedrigsten Elemente zurückzuführen. Er besaß einen schwergetäuschten Geist, aber einen Geist, zu fest und zu gesund für solch ungesunde Luft. Während seine Seele ihn selbst im Dunkel ließ, konnte sie ans Licht kommen, und er sah es auf andere scheinen und heilsam wirken.

      Deshalb saß er vor seinem erlöschenden Feuer, traurig an den Weg denkend, den er bis zu dieser Nacht zurückgelegt, ohne jedoch Gift auf den Weg zu streuen, auf dem andere dahin gelangt waren. Daß ihm so viel fehlgeschlagen, und daß er in seinem Alter so weit um sich her nach einem Stabe blicken sollte, der ihn auf seinem Wege des nunmehr abwärts führenden Lebens stützen und ihn erheitern könnte, war ein gerechter Schmerz. Er blickte nach dem Feuer, dessen Flamme erlosch, dessen letzte Glut erstarb, dessen Asche grau und zu Staub wurde, und dachte: »Wie bald wird auch mit mir diese Wandlung vorgehen und ich dahin sein!«

      Die Rundschau seines Lebens glich dem Herabsteigen an einem grünen Baume mit Blüten und Früchten, dessen Äste verdorren und abfallen, während man sich an ihm herabläßt.

      »Von dem unglücklichen Druck meiner frühesten Jugend, durch das strenge und lieblose spätere Leben im elterlichen Hause, meinen Weggang, mein langes Exil, meine Heimkehr, meiner Mutter Willkommen, meinen Verkehr mit ihr seit jener Zeit, bis zu dem heutigen Nachmittag mit der armen Flora«, sagte Arthur Clennam,