Charles Dickens

Klein-Doritt


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      Dabei schüttelte sie sich und schlief wieder ein.

      »Wir gingen dahin«, sagte Klein-Dorrit mit einem Blick auf ihr Mündel, »weil ich bisweilen aus eigner Anschauung wissen möchte, daß meine Schwester nichts Unrechtes tut, und sie mit eignen Augen dort sehen möchte, wenn es weder sie noch ihr Oheim wissen. Nur selten kann ich das tun, weil ich, wenn ich nicht außer dem Hause arbeite, bei meinem Vater bin, und selbst wenn ich außer dem Hause arbeite, ich nach Hause zu ihm eile. Aber ich gebe heute nacht vor, daß ich in einer Gesellschaft gewesen sei.«

      Als sie ängstlich zagend dieses Bekenntnis machte, erhob sie ihre Augen zu seinem Gesicht und las in seinem Ausdruck so deutlich, daß sie antwortete:

      »O nein, gewiß nicht! Ich war nie in meinem Leben in einer Gesellschaft.« Sie hielt einen Augenblick inne, während er sie aufmerksam ansah, und sagte dann: »Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes dabei. Ich hätte nie etwas nützen können, wenn ich mir nicht eine Lüge erlaubt.«

      Sie fürchtete, er möchte sie im stillen tadeln, daß sie so darauf erpicht sei, für sie zu denken, zu überlegen und über ihnen zu wachen, ohne daß sie es wußten oder ihr dankten, vielleicht sogar, während sie wegen eingebildeter Vernachlässigung ihr Vorwürfe machten. Aber woran er wirklich dachte, das war die schwache Gestalt mit dem starken Willen, die dünnen zerrissenen Schuhe, die unzureichende Kleidung und der Vorwand der Erholung und des Vergnügens. Er fragte, wo die vorgebliche Gesellschaft sei? An einem Orte, wo sie arbeite, antwortete Klein-Dorrit errötend. Sie habe wenig davon gesprochen: nur ein paar Worte, um ihren Vater zu beruhigen. Ihr Vater glaube nicht, daß es eine große Gesellschaft sei – er könne dessen wirklich versichert sein. Sie blickte dabei einen Augenblick auf den Schal, den sie trug.

      »Es ist die erste Nacht«, sagte Klein-Dorrit, »die ich außer dem Hause zubringe. Und London sieht so groß, so trübselig und so schmutzig aus.« In Klein-Dorrits Augen war seine Größe unter dem schwarzen Himmel schrecklich. Ein Schauer überrieselte sie, als sie diese Worte sagte.

      »Aber das ist es nicht«, fügte sie mit der ihr eigentümlichen Fassung hinzu, »womit ich Sie bemühen wollte, Sir. Meine Schwester hat eine Freundin gefunden, eine Dame, von der sie mir erzählte; es machte mich unruhig, deshalb zunächst ging ich von Hause weg. Und da wir nun einmal fort waren und (absichtlich) an Ihrer Wohnung vorüberkamen und Licht im Fenster sahen –«

      Nicht zum ersten Male. Nein, nicht zum ersten Male. In Klein-Dorrits Auge war die Außenseite dieses Fensters ein ferner Stern in andern Nächten als diese. Sie hatte sich außerordentlich angestrengt und abgemüht, zu ihm aufzublicken und zu staunen über den ernsten, braunen Mann, der von so ferne kam und als Freund und Beschützer zu ihr gesprochen.

      »Es sind drei Dinge«, sagte Klein-Dorrit, »die ich mir zu sagen vornahm, falls Sie allein wären und ich heraufkäme. Erstens, was ich zu sagen versuchte, aber nicht kann – nicht soll –«

      »Still, still! Das ist abgemacht. Wir wollen zum Zweiten übergehen«, sagte Clennam, ihre Aufregung weglächelnd, indem er die Flamme auf sie scheinen ließ und Wein und Kuchen und Obst vor ihr auf den Tisch setzte.

      »Ich denke«, sagte Klein-Dorrit – »das Zweite ist, Sir, – ich denke, Mrs. Clennam muß mein Geheimnis entdeckt haben und muß wissen, woher ich komme und wohin ich gehe. Wo ich wohne, meine ich.«

      »Wirklich?« versetzte Clennam lebhaft. Er fragte sie nach kurzer Überlegung, warum sie dies vermute. »Ich denke«, antwortete Klein-Dorrit, »Mr. Flintwinch muß mich beobachtet haben.«

      Und warum, fragte Clennam, indem er seine Augen auf das Feuer richtete, seine Brauen zusammenzog und wieder überlegte, warum sie das vermute?

      »Ich bin ihm zweimal begegnet. Beide Male in der Nähe meiner Wohnung. Beide Male bei Nacht, wenn ich nach Hause ging. Beide Male dachte ich (ich kann mich jedoch leicht darin täuschen), daß es kaum ausgesehen, als ob er mir durch Zufall begegnete.«

      »Sagte er etwas?«

      »Nein, er nickte bloß und neigte den Kopf auf die Seite.«

      »Der Teufel hole diesen Kopf!« dachte Clennam, noch immer in das Feuer blickend: »er hängt stets zur Seite.«

      Er stand auf, um sie zu nötigen, etwas Wein über ihre Lippen zu bringen und etwas Speise zu berühren – es war sehr schwierig, denn sie war so ängstlich und scheu – und dann sagte er, wieder nachdenkend:

      »Ist meine Mutter irgendwie verändert gegen Sie?«

      »O keineswegs. Sie ist ganz wie zuvor. Ich war ungewiß, ob ich ihr nicht lieber meine Geschichte erzählen sollte. Ich war ungewiß, ob ich – ich meine, ob Sie es gerne sähen, wenn ich sie ihr erzählte. Ich hätte gern gewußt", sagte Klein-Dorrit, indem sie ihn bittend ansah und ihre Augen immer mehr von ihm abwendete, je mehr er sie anblickte, »ob Sie mir andeuten wollten, was ich tun sollte.«

      »Klein-Dorrit«, sagte Clennam, und dieses Wort hatte bereits begonnen, die Stelle von hundert freundlichen Worten zu vertreten, je nach dem verschiedenen Tone und der Verbindung, in der es ausgesprochen wurde, »tun Sie nichts. Ich werde mit meiner alten Freundin Mrs. Affery sprechen. Tun Sie nichts, Klein-Dorrit – als sich mit solchen Mitteln erfrischen, wie sie hier vorhanden sind. Ich bitte Sie, tun Sie das.«

      »Ich danke, ich bin nicht hungrig. Und nicht«, sagte Klein-Dorrit, als er ihr sanft das Glas zuschob, »auch nicht durstig. Vielleicht hat Maggy zu etwas Appetit.«

      »Nun, wir wollen Sie gleich für alles, was da ist, Taschen finden lassen«, sagte Clennam, »aber ehe wir sie aufwecken, ist noch etwas Drittes zu sagen.«

      »Ja, aber Sie werden nicht beleidigt sein, Sir?«

      »Ich verspreche Ihnen das ohne Rückhalt.«

      »Es wird seltsam klingen. Ich weiß kaum, wie ich es sagen soll. Halten Sie es nicht für unvernünftig oder undankbar von mir«, sagte Klein-Dorrit mit wiederkehrender und wachsender Aufregung.

      »Nein, nein, nein. Ich weiß gewiß, es wird recht und natürlich sein. Ich fürchte nicht, daß ich es falsch auffassen werde, was es auch sein mag.«

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      Arthur Clennam bei seiner Mutter.

      »Ich danke. Sie werden wieder zu uns kommen und meinen Vater besuchen?«

      »Ja.«

      »Sie waren so gut und aufmerksam, meinem Vater ein Billett zu schreiben, daß Sie morgen kommen würden?«

      »O, das ist nicht der Rede wert. Allerdings.«

      »Können Sie ahnen«, sagte Klein-Dorrit, die kleinen Hände fest ineinander faltend und ihn mit dem ganzen Seelenernst, der aus ihren Augen sprach, ansehend, »um was ich Sie jetzt ersuchen will?«

      »Ich glaube wohl, aber ich kann mich täuschen.«

      »Nein, Sie täuschen sich nicht«, sagte Klein-Dorrit, ihren Kopf schüttelnd. »Wenn wir es gar so sehr bedürften, daß wir nicht ohne dasselbe existieren könnten, so lassen Sie mich darum bitten.«

      »Gern – gern.«

      »Ermutigen Sie ihn nicht zu dieser Bitte. Verstehen Sie ihn nicht, wenn er bittet. Geben Sie es ihm nicht. Ersparen Sie ihm das, und Sie werden besser von ihm zu denken imstande sein!«

      Clennam sagte, freilich nicht sehr ehrlich, als er Tränen in ihren besorgten Augen glänzen sah, – ihr Wunsch solle ihm heilig sein.

      »Sie wissen nicht, was er ist«, sagte sie, »Sie wissen nicht, was er wirklich ist. Wie sollten Sie auch, mein Gott, Sie, der ihn ganz plötzlich sieht, und nicht nach und nach wie ich. Sie waren so gut gegen uns, so zart, so wahrhaft gut, daß ich ihn in Ihren Augen besser als in irgendeines andern dastehen sehen möchte. Und ich kann es nicht ertragen, zu denken«, sagte Klein-Dorrit, ihre Tränen mit den Händen bedeckend, »daß Sie ihn nur in den Augenblicken seiner Entwürdigung sehen sollten!«

      »Bitte«,