Mädchen wird rot. Melusine hat ein schlechtes Gewissen. „Jetzt freue ich mich aber“, sagt sie laut, „du bist ja ein richtiger Weihnachtsengel, Anna!“
Wilma spielt weiter. Sie hat nur das Notenblatt im Auge. Melusine weiß, dass Wilma ihre Worte gehört hat, weil man die Ohren nicht verschließen noch abwenden kann. So zu tun, als könne man es, das ist Wilmas übliche Reaktion auf Melusine Wortattacken. Nicht immer hat Wilma dabei die Flöte zu Hilfe. Jetzt spielt die musikalische Wilma eine Melodie, die Melusine auch nicht kennt. Die Töne steigen und fallen in komplizierten Harmonien. Was ist das, ein Lied? Sie fragt nicht laut, da sie im Moment sowieso keine Antwort erhalten würde. Wilma musiziert weiter.
Melusine hat Anna auf den Schoß genommen und führt sanft die kleine Hand mit dem dicken, roten Stift. Sie malen beide zusammen einen Apfel. Als Wilma die Flötenmelodie das dritte Mal wiederholt, ist der rote Apfel fertig und Melusine malt einen grünen Tannenzweig mit geübten Strichen dazu. Jetzt weiß sie es. Wilma hat ein fröhliches Lied gespielt, das mehr als eine Strophe hat. Anna klatscht in die Hände: „Schööön! Schenk’ ich Mama!“ Sie hält das Blatt mit dem bunten Bild hoch. Melusine greift nach dem Blatt auf Wilmas Notenständer. Sie liest den Text, nicht die Noten. Es ist Latein. So viel weiß sie schon, auch wenn sie die Sprache erst ein halbes Jahr lernt: „In dulci jubilo, nun singet und seid froh …“ Gut, dass auch deutsche Wörter dabei sind.
„Ich habe gelogen“, sagt Melusine laut.
„Nicht ganz,“ meint Wilma, „manchmal, glaube ich, hast du so schlechte Laune, dass du die ganze Welt schwarz anmalen willst und dann ist deine Laune gleich wieder vorbei. Bloß die schwarzen Flecken, die bleiben …“ Wilma spricht nicht weiter. Sie nimmt Melusine das Notenblatt aus der Hand.
„Es tut mir auch leid!“, sagt Melusine sehr leise.
„Das nützt nichts!“ Wilmas Stimme ist scharf und kalt. Ihr Blick fliegt zu Anna, die sich gerade bemüht, mit großen Buchstaben ihren Namen auf das Apfelbild zu schreiben. Das große N steht seitenverkehrt neben dem A.
„Soll ich dir helfen?“, fragt Melusine. Anna nickt und Melusine schreibt das nächste N richtig. Sie korrigiert den Spiegelbuchstaben nicht, sondern fragt nur ihre Freundin Wilma: „Anna wird das doch später selbst merken, oder?“ Nun lächelt Wilma: „Anna hat noch viel Zeit!“
Melusine denkt nach. Sie freut sich nicht auf Weihnachten, weil sie im Moment überhaupt nichts freut. Alles hasst sie, alles langweilt sie. Sie weiß nicht einmal, was sie sich wünscht. Und niemand fragt sie. Die Eltern sind fürchterlich beschäftigt oder das Haus ist leer. Bei Wilma ist es nie langweilig, zu ihr kann Melusine fast immer kommen. Warum lässt sie dann ihre schlechte Laune an ihrer besten Freundin aus? Weil die gerade da ist! Anna ist ja selten dabei … und die ist noch so klein!
Während des Nachdenkens hat Melusine ein Schiff für Anna gefaltet. Anna fährt mit dem Papierschiff über eingebildete Flüsse auf dem Teppich. Melusine zeichnet eine Flusslandschaft und singt wieder mit, als Wilma anstimmt: „Es kommt ein Schiff geladen …“ Irgendwann fehlt Melusine der Text. Eigentlich hat Melusine ein gutes Gedächtnis. Wilma reicht ihr das Blatt mit Noten und Text: „Üben, üben, üben! Bald ist Weihnachten.“
„Danke! Vielleicht gelingt es mir, wenn ich mein Gedächtnis trainiere, auch dran zu denken, dir nicht immer die Laune zu verderben!“, sagt Melusine zu ihrer Freundin und beugt sich über das bedruckte Papier.
Ganz heimlich freut sie sich jetzt doch! Die alten Lieder sind wie Märchen. Vielleicht kann Melusine ja zu Hause in den leeren Haus auch singen, so laut, dass es schallt?!
Xenia Cosmann lebt in Berlin und München, hat Geschichte und Philosophie studiert und in Museen, Bibliotheken oder Archiven gearbeitet. Sie schreibt Lyrik, Kurzprosa und Romane, Arbeiten, die sich häufig an Kinder und „an das Kind in der Frau“ richten. Sie hat bereits in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht.
*
Ein Glitzern in der Nacht
Der Wald lag still und schneebedeckt unter ihr im Tal. Kaum ein Laut war zu hören, nur das leise Rascheln des fallenden Schnees. Sterne funkelten am Himmel in dieser frostkalten Nacht, und die junge Frau mit dem goldenen Haar hüllte sich noch etwas tiefer in ihren glitzernden Umhang. Dann blickte sie auf und lächelte. Ein fernes Klingen, ein leises Rauschen ertönte am Nachthimmel. Ein Licht näherte sich ihr, und sie machte sich bereit. Ein großer leuchtender Schlitten, gezogen von Rentieren, kam aus der Luft herabgesaust, landete elegant neben der jungen Frau. Diese schien jedoch völlig unbeeindruckt von diesem Wunder. Sie hob nur eine Augenbraue an und musterte den großen alten Mann auf dem Schlitten.
„Du kommst spät! Selbst ich friere mittlerweile!“, sagte sie mahnend. Aber ihre blauen Augen blitzten vor Humor. Der alte freundliche Mann lachte, stieg von dem Schlitten, um die Frau in das Gefährt zu geleiten. Sein langer weißgrauer Bart war mit Eis verkrustet und er versuchte, die winzigen Eisklümpchen herauszuzupfen.
„Du hättest mir ja auch entgegenkommen können“, grummelte er mit tiefer Stimme.
Sie lachte ein glockenhelles, schönes Lachen, welches das Herz berührt. Dann zog sie mit einem Ruck den Umhang von sich und erstrahlte in ihrer ganzen wunderschönen Gestalt. Flügel, weiß, wie der Schnee am Boden, entfalteten sich hinter ihrem Rücken. Ein Glühen schien sie einzuhüllen, und sie atmete tief die klare kalte Luft ein. Dann warf sie ihr goldenes Haar zurück, reichte dem Mann ihren Umhang und stieg leichtfüßig in den Schlitten. „Weißt du, wenn man länger hier auf der Erde ist, dann wird man wirklich ein klein wenig menschlich. Ich habe nämlich tatsächlich angefangen zu frieren.“
„Ist das so“, brummelte der Mann und zog sich die Kapuze seines roten Mantels über. Die Rentiere wurden unruhig, Schnee fiel nun in dicken weißen Flocken vom Himmel, und die Glöckchen am Schlitten klingelten leise in der Nacht, als die Tiere sich schüttelten und mit ihren Hufen aufstampften. Der Mann mit dem roten Mantel und dem weißgrauen Bart schenkte seiner Begleiterin ein Lächeln, stieg neben ihr auf seinen Schlitten und ergriff die Zügel. Er schnaufte, als eine glitzernde Feder eines ihrer Flügel ihn an der Nase kitzelte. Er nieste so laut, dass die Rentiere sich erschrocken umschauten. „Könntest du vielleicht deine Flügel ein ganz klein wenig einklappen? So kann ich nicht fliegen!“
„Ja, ja“, sagte sie und ihre Flügel erhoben sich gerade zum Himmel, sodass sie ihn nicht mehr kitzeln konnten. „Also, guter Weihnachtsmann, fahren wir?“
„Ja ... obwohl ... Wo sind eigentlich die Geschenke?“, fragte er auf einmal verwirrt. „Ich meine, mit einem Sack bist du ja nie gekommen, aber ...
„Sie sind in dem Umhang versteckt.“
„In dem Umhang?!“ Er warf einen Blick auf das glitzernde Etwas, das zwischen ihnen lag. „Und wo sind sie?“
Sie lachte nur fröhlich. „Du wirst schon sehen.“
„Gott lässt sich wirklich jedes Jahr etwas Neues einfallen. Ein Umhang!“ Er kicherte leise in seinen Bart hinein. „Also los. Heja!“ Er schnalzte mit den Zügeln, und die Rentiere setzten sich augenblicklich in Bewegung. Sie rannten eine kurze Weile über den Schnee, dann erhob sich das Gefährt gen Himmel. Innerhalb weniger Sekunden machte der Schlitten Halt über einem Haus. „So, Christkind, dann machen wir uns an die Arbeit, was?“
Die junge Frau nickte mit geheimnisvollem Lächeln. Der Weihnachtsmann ging zum Kamin und kletterte, in Anbetracht seines Alters, geschickt hinauf ... und war plötzlich verschwunden. Das Christkind ging zu einem der beleuchteten Fenster. Es legte die Hand an das Glas der Fensterscheibe und stand plötzlich in dem Zimmer, wo ein großer bunter Weihnachtsbaum fast den halben Raum einnahm. Von Ferne hörte man Kirchenglocken läuten, leises Kichern kam aus dem Nebenraum, und man hörte, wie wohl ein Kind versuchte, durch das kleine Schlüsselloch zu linsen.
Das Christkind lächelte nur, huschte zu dem Weihnachtsbaum und breitete seinen Umhang am Boden aus. Dort, wo es sein schönes Gewand auseinanderfaltete, lagen plötzlich Pakete, schön verpackt, mit bunten Schleifen darauf.
Der Weihnachtsmann