jammerte der, „es waren jetzt schon viele Menschen hier, aber keiner hat mich mitgenommen. Mal war ich zu klein, meine Äste waren zu wenige oder zu viele oder nicht symmetrisch genug. Ein Ehepaar hat mich sogar als verkrüppelt beschimpft. Das tat ganz schön weh. Dabei bin ich doch eigentlich wunderbar gemacht. So langsam glaube ich aber selber nicht mehr daran. Es muss doch jemanden geben, der mich kaufen will.“
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Julius, „jetzt helfe ich dir. Es wäre doch gelacht, wenn wir dir kein Heim bis Heiligabend besorgen könnten.“ Aber so sehr sich Julius auch abmühte, Tanni ins rechte Licht zu setzen, immer hatten die Menschen etwas auszusetzen.
Schließlich war der Heilige Abend gekommen und Tanni war immer noch da. Mittlerweile war Julius fast genauso verzweifelt wie Tanni. Und da hörte Tanni auch noch den Verkäufer murmeln: „Den werde ich bestimmt auf den Müll werfen müssen.“
Das konnte doch nicht sein. Am Heiligen Abend sollte er auf dem Müll landen? Resigniert beobachteten Julius und Tanni, wie immer weniger Leute vorbeikamen. Der Verkäufer begann einzupacken.
Aber da kam noch ein Mädchen angerannt und schaute sich um. Es war Marie. Sie war so spät dran, weil sie sich das Geld für den Baum beim Blockflötenspiel in der Innenstadt gerade erst verdient hatte. Ihre Familie war arm und einen Tannenbaum konnte sie sich nicht leisten. Aber Marie wollte so gerne auch mal einen Tannenbaum haben – so wie ihre Freundinnen. Und so hatte sie, immer wenn sie Zeit hatte, in der Innenstadt Blockflöte gespielt. Von ihren ersten Einnahmen hatte sie sich heimlich Schmuck für den Baum gekauft. Heute hatte sie gespielt, um einen Baum kaufen zu können. Ihre Eltern würden staunen, wenn sie mit dem Baum vor der Tür stand. Hoffentlich würde das Geld reichen. Dann könnten sie richtig Weihnachten feiern, auch mit Baum.
Ihre Eltern hatten zwar gesagt, dass ein Baum nicht wichtig sei, solange sie als Familie trotzdem feierten. Schließlich war es ja eine Geburtstagsfeier. Das Geburtstagskind würde keinen Baum dazu brauchen. Aber es wäre trotzdem schöner, fand Marie.
Und so hielt sie dem Verkäufer ihre erspielten Münzen hin. „Welchen Baum kann ich dafür bekommen?“
Tanni und Julius witterten ihre letzte Chance. Enttäuscht sahen sie aber, dass der Verkäufer auf die Ecke mit den großen, tollen Tannenbäumen zeigte. Marie hatte viel Geld erspielt, weil die Menschen an Heiligabend besonders großzügig waren. Daher hätte sich Marie einen großen Baum leisten können. Da fiel ihr Blick aber auf Tanni.
„Ist der auch zu verkaufen?“, fragte sie.
„Ja, aber was willst du denn mit dem?“
„Er ist nur so groß, dass ich ihn selbst nach Hause tragen kann. Ansonsten ist er perfekt. Ich habe nicht viel Weihnachtsbaumschmuck und so ist es nicht schlimm, dass er nur wenige Äste hat. Ein wenig schief ist er auch, dass passt perfekt zu den schiefen Wänden bei uns zu Hause. Er ist schön, weil er so ist, wie er ist. Den nehme ich.“
„Weißt du was?“, sagte der Verkäufer. „Heute ist Heiligabend. Ich schenke dir den Baum, dann kannst du auf dem Heimweg von deinem Geld vielleicht noch eine schöne Spitze für ihn kaufen.“
Da strahlten Tanni und Julius. Gut, dass Julius noch ein wenig von seinem Engelstaub zurückgehalten und rechtzeitig Tanni damit bestreut hatte, damit Marie ein Funkeln sehen und Tanni so entdecken konnte.
Die Freude war groß, als Marie mit dem Baum und der Spitze zu Hause ankam und auch noch ihre anderen Schätze hervorholte. Alle freuten sich über den nicht perfekten Baum. Sie schmückten ihn gemeinsam, saßen dann lange beisammen und sangen Weihnachtslieder für das Geburtstagskind. Auch Tanni strahlte dank des Engelstaubes so, dass sie keine Kerzen brauchten.
Julius flog wieder in den Himmel. Im Auftragsbüro wartete der Chef auf ihn. „Gut gemacht, Julius. Du hast nicht aufgegeben, als es aussichtslos erschien.“
„Ja, und ich habe Tanni und ihre Familie glücklich gemacht. Auftrag erfüllt!“
„Ja, und auch ich hatte eine Überraschung versprochen. Schau morgen noch mal nach Maries Familie!“
Und so war Julius am nächsten Weihnachtstag noch mal auf der Erde. Tanni freute sich sehr, ihn zu sehen. Aber Tanni hatte sich verändert. Über Nacht hatte er sich in einen Baum aus purem Gold verwandelt. Da staunte die Familie nicht schlecht. Fortan waren ihre Geldprobleme kein Thema mehr. Auch viele andere Menschen konnten sich freuen. Ihren neuen Reichtum behielt Maries Familie nämlich nicht für sich, sondern unterstützte damit die Obdachlosenarbeit ihrer Kirchengemeinde.
Zufrieden lehnte sich der Chef zurück. Es hatte die richtige Familie getroffen. Auch mit mehr Geld waren sie noch in der Lage, hinter die Fassade zu blicken und das Gute nicht nur in Tannenbäumen, sondern auch in Menschen zu sehen.
Angelika Beul: 1971 im Ruhrgebiet geboren, bis heute dort lebend.
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Das Weihnachtswunder
der fleißige Briefträger kann nicht mehr
ihm fällt das Laufen so furchtbar schwer
doch er hat einen Schatz und sie braucht Geld
bringt sie doch im Winter das Kind zur Welt
er müht sich weiter die Straßen entlang
mit schmerzenden Beinen – danach wird er krank
trotzdem trägt er noch die Weihnachtspost aus
die Liebste liegt längst schon im Krankenhaus
ein Freund ruft ihm zu, das Baby sei da
vor Freude singt er wie ein Engel so klar
die Töne schweben über die Stadt
bis auch ein Agent sie vernommen hat
ein Vertrag wird daraufhin gemacht
dass der stolze Vater nur noch lacht
ab jetzt nie mehr diese Schlepperei
die Zeit als Zusteller ist vorbei
stattdessen reist er von Konzert zu Konzert
mit Frau und Kind, das ist es ihm wert
er dankt in Liedern für sein großes Glück
das Weihnachtswunder ist wirklich zurück
Regina Berger geboren 1961 in Hagen (Westfalen), studierte in Münster und schloss nach dem 1. Staatsexamen Lehramt noch einen pädagogischen Studiengang an. Sie arbeitet seither als Dipl.-Sozialpädagogin und lebt seit 27 Jahren im grünen, hügeligen Wuppertal. Sie ist Mitglied im Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in Wien.
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Bens Wunschzettel, Weihnachten und Karneval
„Wie, haben wir denn schon wieder Weihnachten? Ich finde, Weihnachten kommt immer so plötzlich“, meinte der Vater, als Ben ihm seinen Wunschzettel vorlegte.
„Aber, Paps, Weihnachten ist immer am 25. Dezember, das weiß jedes Kind. Du weißt doch auch immer, wann Karneval ist und das ist nicht immer am gleichen Tag. Und da sagst du nie, es kommt immer so plötzlich.“
„Ben, du kannst doch Weihnachten und Karneval nicht miteinander vergleichen. Weihnachten ist mit das höchste Fest der Christen und Karneval eben Karneval.“
„Toll, Papa, das war aber gerade eine super Erklärung. Für dich ist Karneval immer das höchste Fest. Schon an Weiberfastnacht ziehst du die bescheuerte rote Perücke auf und erst am Aschermittwoch wieder ab.“
„Ben, wie kommst du jetzt auf Karneval? Hier geht es um deine Wunschliste zu Weihnachten und nicht um meine Pappnase im Karneval. Was soll das, das sind doch zweierlei Schuh.“
„Dass Karneval