Albert Wendt

Tok-Tok im Eulengrund


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manchmal Eulen auf ihm saßen. Der Eulenschlot ragte trotzig aus den Kletterpflanzen empor, die ihn schon zur Hälfte erobert hatten. Außen kletterten Geißblatt und wilde Rosen und innen kletterten Carlito und Elle Endstelle.

      „Warte, Carlito, ich muss dir etwas ganz Wichtiges sagen.“

      „Weiter, Elle, sag’s beim Klettern.“

      „Ich habe gehört, dass Jungs manchmal ohnmächtig werden, wenn sie zum ersten Mal so etwas Schönes sehen.“

      „Richtig bewusstlos, meinst du? Schwarz vor Augen, weggetreten?“

      „Ja, Carlito, das kommt oft vor. Eigentlich fast immer. Man sieht das Schöne an den Mädchen, oben und unten, dann flimmert es und schon ist es dunkel im Kopf und man ist weggetreten.“

      „Und Abflug in die Tiefe.“

      „Und Peng! Und Matsch.“

      „Ach, das ist es wert“, sagte Carlito, verharrte aber auf seiner Sprosse.

      „Schon. Aber …“

      „Na, dann weiter.“

      „Aber geht’s nicht auch anders, ohne Peng und Matsch?“

      „Gut. Ich gucke zuerst, ganz allein, und du bleibst dicht unter mir. Wenn ich ohnmächtig werde, dann fängst du mich auf.“

      „Ohnmächtige sind ungeheuer schwer, fast so schwer wie Besoffene. Ich müsste mich dann entscheiden, stürzen wir beide ab, oder nur einer von uns. Carlito, mein Freund, ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dann vielleicht doch entscheiden werde, nicht mit dir zusammen abzustürzen.“

      „Ach, Elle, wenn du diese Art Freund bist, dann … dann …“

      „Dann ist es wohl besser, wir klettern wieder runter.“

      „Jammerlappen.“

      „Verzeih mir.“

      „Nein.“

      „Au, meine Hand. Nicht so schnell. Ich kann nun mal nicht gut klettern. Bin doch kein Affe.“

      Carlito und Elle Endstelle krochen durch das Labyrinth der Züge und Feuerluken der schon lange erkalteten Heizanlage ins Freie. Verdreckt und verkühlt hockten die beiden in der Frühlingssonne. Verdreckt und verkühlt war auch Carlitos Laune.

      „Schöne Pleite.“

      „Pleite, aber am Leben.“

      „Feiglingsleben ist halb tot.“

      „Halb tot ist besser als ganz tot.“

      „Nein.“

      „Mach mich nicht fertig, Carlito. Ich habe Verzeihung gesagt.“

      „Schon gut. Verziehen. Du bist nun mal, wie du bist.“

      So entschlossen sich Carlito und Elle Endstelle schließlich, einen Aussichtsturm zu bauen mit einer Plattform, auf der zwei ohnmächtige Jungs bequem liegen konnten, ohne abzustürzen. Der Turm sollte oben auf dem „Klinkergebirge“ stehen, dem höchsten Trümmerhaufen des Geländes. Sie schleppten Paletten hinauf auf den Ziegelschutt. Diese stabilen Holzplatten lagen verstreut im Gelände. Aber – habt ihr schon mal eine erdfeuchte, angefaulte Palette auf einen Trümmerhaufen geschleppt? Niemand im Normalzustand kann so etwas schaffen. Carlitos und Elles Zustand machte es dennoch möglich.

      „Die Kinder müssen vom Gelände verschwinden“, sagte nachdenklich eine alte Frau, die in dieser Wildnis vor einem noch recht gut erhaltenen Gemäuer saß und Sperlinge fütterte. Neben ihr standen zwei junge Frauen und reichten Brotstückchen.

      „Wir sollten ihnen Angst machen, ehrwürdige Tok-Tok, vielleicht mit etwas Hexen-Spektakel“, schlug eine der jungen Frauen vor. Sie war zierlich und hatte eine Rose im Haar.

      Die alte Frau, die mit ehrwürdige Tok-Tok angeredet wurde, schüttelte den Kopf.

      „Nein, nein, mein Kind, wir sollten uns nicht als Hexen verdächtig machen. Das ist nicht gut. Hexen kann man sich nähern, man kann sie sogar fassen, fesseln und wegschleppen. Feenzauber ist besser. Feen sind nicht recht greifbar, man wagt sich nicht zu nah heran. Feen kann man auch nicht quälen und verbrennen. Es gibt das Wort Hexenjagd, das Wort Feenjagd gibt es nicht.“

      Die ehrwürdige Tok-Tok überlegte. „Nein, mein Kind, ich fürchte, jeder Hokuspokus, auch Feenwunder, weckt nur Neugierde und lockt eher noch mehr Kinder an. Wir brauchen etwas Plumpes, Einfaches, das Kinder abschreckt.“

      Die Frauen schwiegen. Die Sperlinge lärmten. Die Bienen summten in den blühenden Sträuchern.

      „Wir brauchen, ehrwürdige Tok-Tok, eine lebendige Vogelscheuche für Kinder, wir brauchen eine Kinderscheuche“, sagte die zierliche junge Frau.

      „Das übernehme ich“, rief lebhaft die andere, eine sehr runde junge Frau. „Ich verjage sie mit dem Besen.“

      „Nein, mein Glühwürmchen“, widersprach die alte Dame.

      „Als Kinderschreck bist du viel zu schön. Wir brauchen etwas ganz Abscheuliches, etwas unsäglich Hässliches, wir brauchen eine Art von Ungeheuer.“

      „Wir brauchen einen Mann“, sagte die Zierliche.

      „Rose hat recht. Wir brauchen einen Berg von einem Mann“, sagte die alte, ehrwürdige Tok-Tok. „Wir brauchen ein Scheusal von einem Mann, einen zottigen Raufbold brauchen wir.“

      „Und er muss grimmig brüllen und grunzen. So: Uuuu! Und sich dabei mit den Fäusten auf die Brust trommeln“, stimmte begeistert die runde junge Frau zu. Die Sperlinge flogen auf, die Frauen lachten, dann summten wieder Bienen und Gedanken, und die Spatzen kamen zurück.

      „So etwas muss es doch geben“, sagte die Alte. „So ein fürchterliches Dings muss doch irgendwo aufzutreiben sein.“

      „Du warst lange nicht in der Stadt, ehrwürdige Tok-Tok“, sagte die mit Rose angesprochene junge Frau. „Die Männer sind jetzt alle schmal, glatt und sehr nett. Männer zum Fürchten, die gibt’s nicht mehr. Ich, jedenfalls, ich kenne keinen.“

      Die ehrwürdige Tok-Tok betrachtete liebevoll lächelnd die zierliche junge Frau.

      „Rose, du Schöne, du kleine Schlange, du Lügnerin, da war ein Zögern, ein Flackern im Auge. Du hast in deinen weiblichen Tiefen so einen Unhold versteckt, willst ihn aber nicht hergeben. Rück ihn raus.“

      „Nun ja, es ist lange her. Auf der Universität hatte ich mal einen schüchternen Verehrer. Er war Kraftsportler, ein Ringkämpfer, zwei Zentner, zwei Meter, stark behaart, nur auf dem Kopf nicht – eher kahl. Äußerlich passt er, innerlich nicht. Er ist ein Kindskopf. Er schreibt jetzt, so hörte ich, Kinderbücher.“

      „Aber hässlich, wenigstens, ist er doch?“

      „Naja, nicht ganz so hässlich wie Quasimodo, der Glöckner von Notre-Dame, aber doch stark mit Muskeln verbeult, auf den Beulen wuchert dunkles Kraut.“

      „Ach“, sagte fröhlich die ehrwürdige Alte, „hole mir das Muskeldings erst einmal her. Ich schau es mir an. Geh, Rosalinde, mein Honigtöpfchen, und locke mir diesen Bären in die Falle.“

      Tok! Tok! Der Stock der alten Dame stieß zweimal auf den Boden. Die Sperlinge flogen nicht auf, sie kannten das schon. Rose verschwand im Haus und machte sich stadtfein.

      Habt ihr, Kinder, …

      Verzeiht, liebe Jugendliche und Erwachsene, diese Anrede. Nehmt sie als Hochachtung. Ich finde keine höhere. Also, habt ihr, Kinder, schon einmal eine Frau betrachtet, die in der Wildnis wohnt und sich für die große Stadt fein macht? Himmel, was treibt die doch für einen Aufwand. Nun, das ist verständlich. In der Wildnis sehen nur ein paar Augen auf sie, in der Stadt aber sind es Tausende. Weil das hier eine Geschichte ist, in der viel von klugen und dummen Augen geredet wird, wollen wir unsere Augen staunend aufreißen und Rose bei ihren weiblichen Künsten beobachten.

      Rose begann mit ihrem Prachthaar. Sie rieb sich sorgfältig Gänseschmalz