jeder Brücke nachsehen, jede speckige Steppdecke anheben und Rosalinde ohne Ekel auf den Arm nehmen und nach Hause tragen.“
Entschlossen trat ich aus dem Haus. Neben der Haustür lehnte ein alter Mann an der Wand. Die Kapuze einer Sportjacke, wie sie junge Leute tragen, hatte er tief über Stirn und Augen gezogen, und unter dem Arm trug er ein großes, rundes Brot.
„Sie wartet“, murmelte der Alte sanft vorwurfsvoll.
„Wer wartet?“, stotterte ich.
„Rosalinde, die du suchst, sie heißt jetzt Rose-Rad-ab“, antwortete ruhig der Alte. „Ich führe dich zu ihr.“ Dann schwieg der Alte und lief vor mir her zur Haltestelle.
„Du hast leere Hände“, sagte der Alte leise. „Das ist nicht gut. Ich habe niemals leere Hände, ich trage immer ein Brot bei mir, wenn ich zu Bedürftigen gehe.“
Die Straßenbahn kam. Wir stiegen ein. Wir fuhren lange. Wir fuhren aus der Stadt heraus. Wir fuhren bis zur Endstelle. Der Alte, immer noch schweigend, führte mich an einem Gasthof vorbei auf ein mächtiges Eisentor zu. Es war ein Fabriktor aus dem vorigen Jahrhundert, vom Alter verbogen und mit rostigen Ketten verschlossen. „Eisenwerke Pross und Co“, stand oben, in gut erhaltenen Buchstaben, handgeschmiedet.
Der Alte blieb stehen.
„Stillgelegt! Was für ein gutes, genaues Wort. Stillgelegt!“
Er schwieg, stand da und lauschte.
„Es ist sehr, sehr still. Eine stille Fabrik.“
„Ja“, sagte ich etwas verlegen.
„Hier war mal viel Krach“, sagte der Alte.
„Ja, das haben Eisenwerke so an sich“, sagte ich, schon etwas ungeduldig.
„Jetzt ist es still“, sagte der Alte und bewegte sich immer noch nicht. „Die Fabrik produziert in aller Stille weiter.“
„Aha!“
„Wird wohl Eulen produzieren, denn Eulengrund nennen die Leute nun die stille Fabrik.“
„Und Rosalinde?“, versuchte ich, den Alten weiter zu drängen.
„Ja, ja, der alte Eisenkönig, dieser Pross, der war etwas wunderlich. Er trug einen öligen Zahnkranz als Krone.“
Der Alte sah unter seinem Kapuzenrand spöttisch hervor. „Jeder hat sein Zeichen. Pross hatte seinen Zahnkranz, ich habe mein Brot und du, Poet, lässt ein Buch aus deiner Jackentasche ragen.“
Der Alte kannte also meinen Beruf. Und mit dem Berufszeichen hatte er recht, ich trug stets ein dickes Notizbuch bei mir.
„Und Rosalinde?“, drängte ich wieder.
„Rosalinde? Ja, Rosalinde hat ein Rad ab. Darum heißt sie Rose-Rad-ab.“
Der Alte mit der Mönchskapuze zeigte auf die rostigen Gitterstäbe des Tores. Darauf waren Reste verblichener Warnschilder.
Verboten, Einsturzgefahr, Privatgelände …
Ein nagelneues Schild überdeckte die alten Schilder:
Sozialprojekt – Hochherzige Brüder e.V.
„Dort wohnt sie“, sagte er. „Hier entlang!“
Neben dem Tor führte ein Trampelpfad über einen niedergetretenen Maschendraht in die Wildnis. Neben dem Pfad lagen leere Schnapsflaschen, glitzernde Verpackungen von Naschzeug, Fetzen bunter Zeitungen und widerliche Zigarettenschachteln.
Goldmarie sprang in den Brunnen und landete auf einer himmlischen Wiese, Alice fiel in ein Kaninchenloch und schwebte hinab in ein Wunderland, Robinson Crusoe wurde auf eine einsame Insel gespült und blieb dort achtundzwanzig Jahre, ich schritt durch Müll über zerfetzten Maschendraht in einen Dornenwald.
Der Alte, das Gesicht unter der Kapuze verborgen, mit seinem Brot unterm Arm, führte mich auf einem mit Kraut bewachsenen Weg. Unter der kargen Erdschicht spürte ich das Pflaster einer Straße. Wir kamen zu den Resten eines kleinen Bahnhofs. Das Bahnhäuschen war ein massiver Bau aus geschwärzten Klinkern. Die Schienen waren mit Bauschutt eingeebnet. Vor dem Bahnhaus fiel eine behagliche Bank auf, mit einem reinlichen Platz davor.
„Frauenhaus!“, sagte der Kapuzenmann. „Betreten verboten.“
Am Bahnhäuschen klebte auf vier Stahlsäulen ein Kasten mit Fenstern auf allen vier Seiten.
„Ehemaliges Schaltwerk“, sagte der Alte wie ein Reiseführer.
Die Fensterscheiben des Schaltwerkes waren vom Alter stumpf und milchig und dicht mit Lumpen verhangen.
„Betreten sehr streng verboten.“
Sehr streng also! Ich sah noch einmal hoch und entdeckte ein bläuliches Flackern an den Lappen. Es dämmerte schon. Ich konnte die Anlage neben dem Bahnhof nur undeutlich erkennen. Ich sah einige Mauerreste von Gebäuden, innerhalb dieser Quadrate waren Gärten angelegt.
„Das war mal die Buchhaltung“, erklärte der Alte, „jetzt wächst hier Gemüse. Viel ist noch nicht da, nur Salat, Kresse und Radieschen. Betreten erlaubt.“
Daneben waren die Mauern mit Draht und Brettern erhöht. Es schien ein Tiergehege zu sein.
„Das war mal die Werkskantine, jetzt wohnt hier eine Ziege. Betreten verboten, Lebensgefahr!“
Der Alte führte mich am Bahnhof vorbei, einen sehr schmalen, heftig gewundenen Pfad entlang. Dieser enge Gang mit seinen dichten Seitenwänden aus Dornengestrüpp, Schrott und Steinen erinnerte an ein Labyrinth, aus dem man nicht entweichen konnte. Etwa hundert Schritte vom alten Bahnhof entfernt, öffnete sich die Enge zu einer erfreulichen Lichtung. Dahinter stand, wie ein Waldhaus aus alten Zeiten, eine schiefe Blechhütte.
Auf die Flügeltüren am Giebel war grob „Zum Kopfstand“ gepinselt. Darunter konnte man noch einige Buchstaben aus dem Wort „Bauarbeiterhotel“ entziffern. Es gab keine Fenster. Zur Belüftung waren in die Seitenwände fünf handgroße Löcher ins Blech geschnitten. Aus den Löchern, die an Bullaugen erinnerten, kam warmes Licht. Schilfgras, Wilde Möhre und Rainfarn wuchsen an der Blechwand. In der Abenddämmerung sah die Hütte wie ein Schiff aus, das in grünen Wellen schaukelt. Der rechte Türflügel war in die Erde gesunken, der linke war einen Spalt offen. Das gleiche warme Licht der Bullaugen schimmerte durch den Spalt.
„Tritt ein, du wirst erwartet.“
3.Kapitel
Drei Frauen im „Kopfstand“
Drei Frauen saßen im Laternenlicht feierlich wie ein hohes Gericht im engen Raum. Vor ihnen stand ein leerer Stuhl. Wortlos wurde ich auf diesen Platz gewiesen. Ich setzte mich zögernd und ahmte die Haltung der Frauen nach. Wir saßen so nah beieinander, dass meine Knie fast die Knie der Frauen berührten.
Eine zierliche junge Frau saß mit gesenktem Kopf neben einer würdigen alten Dame, deren schlanke Hände auf dem Griff eines Stockes lagen. Die dritte Frau war stark gerundet und hatte ein fröhliches Mondgesicht. Dann hob die zierliche junge Frau den Kopf und ich erkannte Rosalinde. Und sie war … Wie soll ich’s euch nur beschreiben? Ich sage einfach: Sie war das Gegenteil von verwahrlost.
Die Frauen schwiegen und betrachteten mich aufmerksam. Dann richtete sich die alte Dame in einer Weise auf, wie ich es bisher nur auf Gemälden der alten Meister gesehen hatte.
„Wir wollen hier in den Fabrikruinen ungestört leben“, sagte sie und schwieg wieder. „Die braven Bürger aus der braven Siedlung nebenan kann man sich leicht vom Leibe halten“, fuhr die alte Dame fort. „Ein paar leere Schnapsflaschen im Grase, nächtelang Fernsehgeflimmer an der Gardine, schon die übliche Verwahrlosung schreckt sie ab. Die Kinder aus dieser Siedlung aber sind nun mal keine braven Bürger, sie kommen näher und näher und stören unser stilles Leben.“
Wieder schwieg die Alte und musterte mich eindringlich.