Roshani Chokshi

Die silbernen Schlangen (Bd. 2)


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oder Kräuterzweige.

      »Merkwürdig. Ich dachte, wir würden auf Parvati und Ischtar, Freya und Isis treffen … aber diese Göttinnen hier … sie wirken alle so austauschbar.«

      »Erspar uns die Kunstvorlesung, mon cher«, bat Hypnos. »Konzentrieren wir uns darauf, wo die Tezcat-Brille stecken könnte.«

      »Im Inneren einer der Göttinnen«, schlug Zofia vor.

      Enrique musterte die Sammlung. »Eher nicht. Ich weiß doch, wie die Geheimverstecke des Gefallenen Hauses funktionieren. Dahinter steckt immer irgendein Rätsel. Und die Mitglieder hätten nichts konstruiert, was die Zerstörung ihres Besitzes zur Folge hätte.«

      »Kälte ist die Ausgangslage«, murmelte Zofia.

      »Ich w-würde sagen, das ist re-l-lativ of-fensichtlich, ma ch-chère«, antwortete Hypnos mit klappernden Zähnen.

      »Verändern wir also diesen Faktor. Fügen Wärme hinzu.«

      Zofia schälte sich aus ihrem Sakko und riss mit einem Ruck das Futter heraus.

      Hypnos schrie auf. »Das ist Seide!«

      »Nicht ganz – das ist Soie de Chardonnet«, verbesserte Zofia und zog ein Streichholz hinter ihrem Ohr hervor. »Eine hoch entzündliche künstliche Seide, die im Mai auf der Weltausstellung präsentiert wurde. Eignet sich nicht für die Massenproduktion. Aber hervorragend für Fackeln.«

      Sie entzündete das Hölzchen und hielt es an den Stoff, der sofort aufloderte. Die Luft wurde merklich wärmer. Doch weder an den Wänden noch in den Mienen der Statuen tat sich etwas. Die Chardonnet-Seide brannte wie Zunder, sie würde nicht lange reichen. Eher würde Zofia sich verletzen.

      »Zofia, ich glaube, du hast dich getäuscht. Vermutlich bringt Hitze nichts.«

      »Da wäre ich mir nicht so sicher …« Hypnos nahm Enriques Gesicht in die Hände und neigte es sanft in Richtung Boden. Die dünne Schicht Reif auf dem Marmor taute, und etwas Silbriges kam darunter zum Vorschein, wie Buchstaben. »Vielleicht«, fuhr Hypnos fort, »hättet ihr euch den Göttinnen einfach zu Füßen werfen sollen.«

      »Natürlich«, erwiderte Enrique und sank auf die Knie. »Der Boden.«

      Zofia hielt ihre Fackel tiefer und allmählich fügten die Lettern sich zu einem rätselhaften Satz zusammen:

      LIEBEVOLL VERSIEGELTE LIPPEN

      ZEUGEN VON GEHEIMNISSEN

      EINST BEKANNT

      Séverin

       Séverin hatte sieben Väter, aber nur einen Bruder.

       Sein vierter und ihm liebster Vater war Maßlosigkeit. Maßlosigkeit war ein freundlicher Mann mit vielen Schulden – was es gefährlich machte, ihn zu lieben. Tristan zählte stets die Minuten, die er fort war – aus Angst, er könnte sie verlassen –, ganz gleich, was Séverin auch tat, um ihn zu beruhigen. Nach Maßlosigkeits Beerdigung fand Séverin einen dreckverschmierten Brief unter seinem Schreibtisch.

      Meine kleinen Goldgruben, es tut mir außerordentlich leid, aber ich werde mein Amt als euer Vormund nicht länger ausüben können. Ich habe um die Hand einer reizenden reichen Witwe angehalten, die nicht wünscht, Kinder um sich zu haben.

       Séverin hielt den Brief fest umklammert. Wenn Maßlosigkeit bald heiraten wollte, warum hatte er sich dann mit Rattengift das Leben genommen? Ein Gift, das nur im Gewächshaus aufbewahrt wurde, um Schädlinge fernzuhalten. In einem Gewächshaus, das Maßlosigkeit so gut wie nie betrat, Tristan hingegen liebte.

      »Du hast ja noch mich«, hatte Tristan bei der Beerdigung gesagt.

      Ja, dachte Séverin. Aber war sein kleiner Bruder wirklich die Person, die er vorgegeben hatte zu sein?

      WÄHREND DIE TROIKA durch die Straßen von Sankt Petersburg rumpelte, holte Séverin Tristans Taschenmesser hervor. Eine schimmernde Ader mit Goliaths betäubendem Gift verlief entlang der Schneide. Wenn er das Messer berührte, bildete er sich ein, über weiche Federn zu streichen, über Rückstände von Tristans Gewalttaten. Doch dann erinnerte er sich an Tristans breites Grinsen und seine klugen Witze. Es passte einfach nicht zusammen. Wie konnte jemand so viel Liebe und zugleich so viel Finsternis in seinem Herzen tragen?

      Die Troika kam zum Stehen. Durch die zugezogenen Samtvorhänge vernahm er Gelächter, Violinenklänge und das glockenhelle Klirren von Gläsern.

      »Wir haben soeben das Mariinskij-Theater erreicht, Monsieur Montagnet-Alarie«, schallte es vom Kutschbock her.

      Séverin steckte das Messer in eine Innentasche seines Sakkos. Sie war mit Stahl ausgekleidet, damit er sich nicht aus Versehen verletzte. Bevor er ausstieg, schloss er die Augen und rief sich das Bild von Roux-Joubert in den Katakomben ins Gedächtnis. Ihm tropfte Ichor von den Lippen, das goldene Blut der Götter. Und Séverin spürte abermals, wie die schwarzen Federn aus seinem Rücken sprossen, die Flügel sich an seine Schultern schmiegten, wie ihm Hörner wuchsen. Und er spürte diesen unverkennbaren Rausch der Unbesiegbarkeit. Der Göttlichkeit. Ob gut oder schlecht, kümmerte ihn nicht. Er wollte mehr davon.

      Im Inneren des Mariinskij-Theaters stolzierte die ruhmreiche Elite Sankt Petersburgs auf und ab und vertrieb sich die Zeit vor Beginn der Aufführung. Am Eingang drehte sich eine geschmiedete Eisskulptur langsam um sich selbst. Sie sah aus wie Snegurotschka, das Schneemädchen aus den russischen Märchen. Das Kleid mit den Eissternen und Kristallperlen funkelte im Licht und erzeugte Frostmuster auf dem roten Teppichboden. Frauen trugen Kokoschniks mit Goldapplikationen und Schwanenfedern und kicherten hinter vorgehaltenen blassen Händen. Ambradüfte vermischten sich mit Tabakrauch und Salz, gelegentlich versetzt mit einem metallischen Hauch von Schnee. Zwei Frauen in Pelzen aus Hermelin und Zobel gingen an ihm vorüber. Er schnappte Fetzen ihres Geschwätzes auf.

      »Ist das der Hotelier aus Paris?«, wisperte die eine. »Wo er wohl sitzen wird?«

      »Starr ihn nicht so an, Jekaterina«, ereiferte sich die andere. »Gerüchten zufolge wärmt ihm heute Nacht irgend so eine Cabaret-Diva oder Kurtisane das Bett.«

      »Ich für meinen Teil sehe niemanden an seiner Seite«, gab die Erste hochnäsig zurück.

      Séverin beachtete sie nicht weiter und wandte den Blick stattdessen zur Eingangstür aus Elfenbein und Gold. Träge schlichen die Sekunden dahin. Séverin drehte an dem diamantenen Siegelring, der an seinem kleinen Finger steckte. Laila würde es ihm übel nehmen, dass er sie so herbeizitierte, aber sie ließ ihm keine Wahl. Sie hatten sich bereits vor fünfzehn Minuten hier treffen wollen. Séverin sah sich im Foyer um. Ein Kellner in einem glänzenden silbernen Sakko trug auf einem Tablett einige aus Eis geformte, verzierte Gläser mit Schwarzpfefferwodka, daneben Porzellantellerchen mit Zakuski: Essiggurken und glasig schimmernder Fischrogen, Fleischhäppchen in Aspik und dicke Scheiben Roggenbrot.

      Ein Mann mit einem Hermelinkragen fing seinen Blick auf und sah ebenfalls zum Eingang. Er schenkte ihm ein wissendes Lächeln, nahm zwei Gläser vom Tablett und reichte Séverin eins davon.

      »Za ljubow!«, sagte er beschwingt und kippte den Wodka herunter. Dann senkte er die Stimme. »Das bedeutet ›Auf die Liebe‹, mein Freund.« Er zwinkerte und schaute wieder zur Tür. »Auf dass sie bald erscheinen möge.«

      Séverin leerte das Getränk in einem Zug. Es brannte sich einen Weg durch seine Kehle. »Oder lieber darauf, dass sie niemals wieder erscheinen möge.«

      Verwirrt sah der Mann ihn an, doch ehe er etwas erwidern konnte, verkündete ein Ansager oberhalb der gewundenen goldenen Treppe: »Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen!«

      Die Menschenmenge setzte sich in Bewegung und Séverin schlenderte langsam hinterdrein. Laila war noch immer nicht da. Offensichtlich trieb sie ihn aber selbst in ihrer Abwesenheit in den Wahnsinn. Er meinte,