schwebenden Kandelabers dabei ertappt zu haben, wie sie mit der bronzefarbenen Hand über jemandes Sakko strich. Nur handelte es sich kein einziges Mal um sie.
Im Zuschauerraum glitten goldene Champagnerlüster über die Köpfe der Gäste hinweg, die mit einer flinken Handbewegung volle Gläser auf sich zuschweben ließen. Ein Schmiedekünstler hatte die Stickereien auf den roten Seidenvorhängen über der Bühne so bearbeitet, dass die Fäden sich immer neu zu schwimmenden Kois verwoben. In Séverin regte sich ein Drang, den er noch aus seiner Kindheit kannte. Er wollte das Publikum beobachten, dessen Blicken folgen. Das Staunen darin sehen. Doch er unterdrückte den Impuls.
Séverin schaute zu der leeren Loge nebenan. Der Kunsthändler Michail Wassiljew musste jeden Moment auftauchen. Ungeduldig tippte er mit dem Fuß auf den Boden und stieß kurz darauf einen leisen Fluch aus. Etwas von dem Magnetresistenzpuder, mit dem Zofia ihre Schuhe überzogen hatte, hinterließ eine feine Staubspur auf dem Holzboden. Er sah hinunter auf den diamantenen Siegelring an seiner Hand, der mit Lailas Kette verbunden war, und runzelte die Stirn. Entweder funktionierte er nicht, oder sie hatte sich entschieden, ihn einfach zu ignorieren.
Als er hörte, wie eine Tür aufging, setzte Séverin sich aufrechter hin. Er rechnete fest damit, dass es Laila war. Das Geräusch war jedoch nicht aus ihrer Loge gekommen, sondern aus der von Wassiljew. Zwei bewaffnete Männer tauchten nebenan auf. Ihre Ärmelaufschläge waren hochgekrempelt. Darunter leuchtete im Licht der Gaslampen scharlachrot das Blutschmiedetattoo, das ihnen Zutritt zu Wassiljews Privatsalon in der unteren Etage gewährte. Ein kleines Symbol, ein Apfel, blitzte auf, doch da wandten sich die Wachen auch schon wieder ab und sahen sich prüfend um.
»Warum sitzt er heute nicht in der üblichen Loge?«, murmelte der eine.
»Seine wird gerade instand gesetzt«, sagte der Zweite. »Sie haben sogar den Salon unten restauriert. Mussten irgendwelche Metallpfosten in den Ecken anbringen oder so ähnlich.«
Der andere Wachmann nickte. Dann schnaubte er verächtlich und scharrte mit einem Schuh über den Boden. »Machen die hier gar nicht mehr sauber? Sieh dir mal den ganzen Baustaub an. Igitt.«
»Das alles wird Wassiljew gar nicht gefallen. Er ist heute Abend eh ziemlich nervös.«
»Nun ja, theoretisch hat er auch allen Grund dazu. Schließlich wurde der Löwe aus Veritgestein am Eingang gestohlen. Er weiß nur noch nichts davon, also kein Sterbenswörtchen zu ihm.« Der Mann schüttelte sich. »Er ist momentan so schon kaum zu ertragen.«
Séverin lächelte in sein Glas.
Einer der Wachmänner griff nach der Flasche Champagner, die in einem Eiskübel vor sich hin schwitzte.
»Wenigstens hat das Mariinskij-Theater an eine prickelnde Entschädigung gedacht.«
Der Zweite grunzte.
Dann gingen die beiden hinaus, zweifellos um Wassiljew zu versichern, dass alles im Lot war. Derweil verwandelte sich der gestickte Koi auf dem Vorhang in eine kunstvolle 5.
Noch fünf Minuten, bis die Vorstellung begann.
Wieder öffnete sich Wassiljews Tür. Séverin krallte die Finger in die Armlehnen. Erst als sie ins Schloss fiel, wurde ihm klar, dass es dieses Mal nicht die Loge des Kunsthändlers gewesen war, sondern seine. Plötzlich schwängerte der Duft von Rosenwasser und Zucker die Luft.
»Du bist spät dran«, sagte er.
»Verzeih mir, Séverin, dass du so lange in sehnsüchtiger Erwartung ausharren musstest«, erwiderte Laila gelassen.
Früher hätte sie ihn Majnun genannt, doch das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Er betrachtete sie. Heute Abend trug sie ein prachtvolles goldenes Abendkleid. Unzählige verlockende Schleifen zierten ihre Taille. Ihr Haar war hochgesteckt und in ihren Locken prangte ein Kopfschmuck mit goldenen Federn, der aussah wie eine kleine Sonne. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht weiter hinab zu ihrem Hals. Er war nackt.
»Wo ist deine Kette?«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Tss, Diamanten zu einem glänzenden Kleid wären ein bisschen zu viel des Guten. Unsere Abmachung gibt dir vielleicht das Recht, zu bestimmen, wer mein Bett teilt, aber was ich anziehe, bestimme immer noch ich. Abgesehen davon treten wir heute zum ersten Mal zusammen in der Öffentlichkeit auf. Eine protzige Diamantkette schreit doch geradezu, dass ich nach deiner Pfeife tanze, weil ich dafür bezahlt werde. Dabei ist es nun wirklich kein Geheimnis, dass eine Frau wie ich außerhalb des Cabarets nur an der Seite eines wohlhabenden Mannes existieren kann. Dein Halsband wäre für heute Abend reichlich übertrieben.«
Den letzten Teil äußerte sie in einem bitteren Tonfall, denn es stimmte. Frauen wie Laila konnten sich in dieser Welt nicht frei bewegen – was die Welt zu einem tristeren Ort machte.
»Oder bist du der Meinung, ich treibe es mit meiner Garderobe zu weit?«, fragte sie mit hochgezogenen Brauen. »Wäre dir die Diamantkette zu einem weniger auffälligen Gewand lieber gewesen?«
»Es geht nicht um deine Aufmachung. Es geht darum, den Schein zu wahren«, sagte er gepresst. »Ich habe von dir erwartet, dass du die Loge mit mir zusammen betrittst, und ich erwarte von dir, dass du deine Kette stets bei dir trägst, so wie ich meinen Schwur.«
In diesem Moment öffnete sich der Vorhang und Ballerinen in weißem Tüll wirbelten über die Bühne. Die geschmiedeten Lichter erfassten Lailas Kleid und verwandelten den Saum in geschmolzenes Gold. Séverin ließ den Blick über die Zuschauer schweifen und stellte zu seinem Ärger fest, dass einige von ihnen sich ihrer Loge zugewandt hatten und Laila anstarrten. Zu spät bemerkte er, dass Lailas Hand die Lehne zwischen ihnen überwunden hatte und auf seinem Arm ruhte. Er zuckte zurück.
»Reagiert man so etwa auf das Mädchen, das man liebt?«, fragte sie. »Meine Berührung wirst du doch wohl noch erdulden können.«
Laila beugte sich zu ihm herüber, und Séverin blieb nichts anderes übrig, als sie zu betrachten: den eleganten Schwung ihres Halses, die vollen Lippen und die Augen eines jungen Schwans. Früher, als sie einander noch vertraut hatten, hatte sie ihm erzählt, dass sie wie eine Puppe zusammengesetzt worden war. Als wäre sie dadurch weniger echt. Diese Bestandteile – die Lippen, die er nachgezeichnet, ihr Hals, den er geküsst, ihre Narbe, die er berührt hatte – waren von erlesener Schönheit. Aber das war es nicht, was sie ausmachte. Was sie ausmachte, war ihre Wirkung auf andere. Sobald sie einen Raum betrat, richteten sich alle Blicke auf sie, als wäre sie eine Attraktion, die die Welt noch nie gesehen hatte. Was sie ausmachte, waren ihr verständnisvolles Lächeln, die Wärme ihrer Hände, der Zucker in ihrem Haar.
Ebenso unvorhersehbar wie diese Gedanken drängten sich ihm nun die Erinnerungen an gerupfte Flügel und Ichor auf, an den ersterbenden Glanz in Tristans Augen und Lailas rasenden Herzschlag. Taubheit kroch durch seinen Körper und ließ alles gefrieren, bis er nichts mehr fühlte.
»Ich liebe dich nicht«, sagte er knapp.
»Dann tu einfach so«, flüsterte sie, legte ihm die Hände an die Wangen und zog ihn zu sich.
Sie war ihm so nah, dass er dachte, sie würde …
»Ich habe die Mäntel im Foyer gelesen, um Wassiljews Sicherheitsvorkehrungen auf die Spur zu kommen«, wisperte sie. »Wassiljew postiert immer zwei Wachmänner vor dem Privatsalon. Einer davon ist bewaffnet, der andere hat das Blutschmiedetattoo, um den Raum zu betreten. Der mit dem Tattoo ist einer meiner … Bewunderer.« Séverin entging nicht, wie sich ihre Lippen bei diesen Worten angewidert kräuselten. »Hypnos hat einige Wachen von Haus Nyx beauftragt, die Besucher von dort fernzuhalten. Ein paar von ihnen sind als Wassiljews Personal getarnt.«
Séverin nickte und entzog sich ihr. Er hasste es, ihr so nah zu sein.
»Das war noch nicht alles«, zischte sie.
»Wir ziehen zu viel Aufmerksamkeit auf uns. Erzähl’s mir später.«
Laila verstärkte den Griff um seine Hand, und Séverin war, als würde sie ihn verbrennen. Ihm reichte es. Er umfasste Lailas Kopf und spürte