Roshani Chokshi

Die silbernen Schlangen (Bd. 2)


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      »Ach so, klar, entschuldigt!«

      Der weiße Hauch hatte sich inzwischen bis zur Taille des Engels ausgebreitet und die Hände verloren bereits ihre Form. Hastig drückte Enrique seinen Daumen auf die Oberlippe der Statue. Im Inneren des Engels ertönte ein Plätschern wie von Wasser. In der Körpermitte bildete sich ein Spalt und mit einem Mal schwangen die beiden Hälften auf wie eine Geheimtür. Dahinter thronte auf einem schlanken Onyxsockel eine kleine, glänzende Metallkiste, nicht größer als die Spanne von Zofias Hand. Über die Oberfläche zogen sich feine Risse, als wäre das Kästchen vor langer Zeit einmal aus verschiedenen Teilen zusammengeschweißt worden.

      »Wir haben es gefunden!«, rief Hypnos triumphierend.

      Enrique griff nach der Schatulle, zog … doch sie gab keinen Millimeter nach.

      »Warte«, sagte Zofia. Sie hielt ein Pendellicht hoch und beleuchtete das Metall. Winzige Dellen zeigten sich dort, wo Enrique es berührt hatte. Als sie es selbst vorsichtig befühlte, spürte sie das Prickeln ihrer Schmiedegabe in den Fingerkuppen. »Das Kästchen ist aus geschmiedetem, mit Stahl verstärktem Zinn.«

      »Ist das etwas Schlechtes?«, fragte Enrique.

      Zofia nickte und verzog das Gesicht. »Es bedeutet, meine Zündwerkzeuge sind wirkungslos dagegen. Es ist feuerfest.« Sie besah sich das hohle Innere der Statue genauer. »Interessant. Schalldämmung.« Sie betastete mehrere Schichten Schwamm, Kork und Wolle, mit denen die Skulptur ausgekleidet war. Weshalb musste in dem Engel Stille herrschen?

      Ein feines Läuten ertönte aus Hypnos’ Uhr. Er hob den Blick. »Noch fünf Minuten.«

      Zofia schnürte sich die Kehle zu. Der Raum wirkte zu klein, zu hell, und er erinnerte zu sehr an das Labor in der Universität, worin man sie eingesperrt hatte –

      »Phönix.« Enriques Stimme drang sanft an ihr Ohr. »Bleib bei mir. Was haben wir? Du hast immer irgendetwas Brauchbares dabei.«

      Sie überlegte. Chardonnet-Seide war hier fehl am Platz. Neben den übrigen Werkzeugen und Streichhölzern blieb nur noch der Eisstift, ursprünglich dafür gedacht, notfalls die Scharniere der Tür einzufrieren.

      »Einen Eisstift«, sagte sie.

      »In einem Raum, in dem es bereits eiskalt ist?«, fragte Hypnos. »Fassen wir zusammen: Feuer ist also nutzlos … Eis ist nutzlos … Ich bin nutzlos, wenn wir schon dabei sind …«

      »Wir können es nicht einmal vom Sockel entfernen, wie sollen wir es dann zerstören?« Zofia wollte nichts einfallen. Doch in Enriques Augen stahl sich ein irrwitziges Funkeln. »Zerstören!«, wiederholte er.

      »Und da geht er hin, der Verstand.« Hypnos seufzte.

      »Zofia, gib mir mal diesen Eisstift. Er entzieht der Luft Wasser, richtig?«

      Sie nickte und reichte Enrique den Stift. Er zog damit jeden der Risse auf dem Kästchen nach. »Wusstet ihr …«

      »Oh nein, jetzt legt er los«, murmelte Hypnos.

      »… dass der karthagische Feldherr Hannibal im Jahre 218 vor Christus mit seiner riesigen Armee inklusive fast vierzig Elefanten die Alpen überquerte, um das Herz des Römischen Reiches zu vernichten?« Enrique schüttete das Wasser aus, das der Stift aus der Luft gesammelt hatte. Es versickerte in den Ritzen auf der Oberfläche der Schatulle. »Damals mussten steinerne Hindernisse auf quälende, zeitraubende Art aus dem Weg geräumt werden. Man errichtete Feuer, um die Felsbrocken langsam zu erhitzen, und begoss sie dann plötzlich mit eiskaltem Wasser …«

      Er hielt den Stift an die Kiste. Das Metall ächzte. Knacken und Klirren hallte laut durch die stille Kammer. Eis quoll durch die Fugen.

      »… wodurch sie gesprengt wurden!«, beendete Enrique seinen Satz.

      Da barst die Kiste entzwei. Die scharfen Ränder glänzten feucht.

      Enrique griff hinein und zog die Tezcat-Brille hervor. In Größe und Form ähnelte sie ganz gewöhnlichen Sehhilfen, nur war sie deutlich aufwendiger gestaltet. Das Gestell war schießpulvergrau und besaß ein verschlungenes Muster aus Linien, Kugeln und Symbolen. Man konnte es wie ein Diadem um den Kopf legen. Von den eckigen Gläsern war nur eines vorhanden, das andere fehlte.

      Hypnos grinste und applaudierte. »Sehr gut, ihr beiden! Obwohl ich persönlich es höchst bemerkenswert finde, dass diesmal die Ingenieurin eine Geschichte erzählt und der Geschichtenerzähler den Ingenieur gespielt hat.«

      »Geschichtswissenschaftler, nicht Geschichtenerzähler.«

      »Geschichte, Geschichten erzählen …« Hypnos wedelte mit der Hand. »Quelle est la différence?«

      Erneut bimmelte seine Uhr. Zeitgleich verschmolz die Engelsstatue vollständig mit der Wand. Nun standen sie in einem leeren Raum aus reinstem weißen Marmor. Zofia sah sich gründlich um, doch die Wände in den Nischen waren vollkommen glatt. Keine Spur mehr von den Musen.

      »Tja, die Zeit ist um«, sagte Hypnos. »Außerdem sollte man zu einer Hochzeit nicht zu spät zu kommen. Das wäre unhöflich.«

      »Du musst zurück in die Reisetruhe.«

      »Uff.«

      »Entweder das, oder –«

      Da öffnete sich die Tür. Herein kam der Kammerdiener mit einem Tablett voller Erfrischungen.

      »Ich nahm an, Sie hätten vielleicht …« Er hielt inne, als er Hypnos und den geöffneten Schrankkoffer bemerkte.

      »Ich habe dir doch gesagt, du sollst die Tür im Auge behalten!«, zischte Enrique.

      »Das habe ich ganz vergessen!«

      »Wer in drei Teufels Namen ist das?«, herrschte der Mann. »Wachen!«

      »Lauft!«, schrie Enrique.

      Die drei sprinteten aus dem Göttinnensaal. Hinter sich hörte Zofia das Tablett klirrend zu Boden stürzen und den Kammerdiener fluchen. In Windeseile rannten sie durch das Herrenhaus, und für einen kurzen Moment war Zofia wie in einem Rausch, in dem alles möglich schien.

      Enrique warf ihr einen Blick zu. Seine Wangen waren gerötet und er zog einen Mundwinkel hoch. Zofia erkannte den Ausdruck – so lächelte Laila, wenn sie ihr ein extra Plätzchen zusteckte. Verschwörerisch, als teilten sie ein Geheimnis. Es erfüllte sie mit Dankbarkeit … und gleichzeitig verwirrte es sie. Denn ihr war nicht klar, um welche Art Geheimnis es sich hier handelte.

      Am Ende des Flurs winkte die Freiheit, jenseits der breiten Eingangstür. Hypnos erreichte sie als Erster, legte die Hand auf den Griff. Draußen hörte Zofia Hochzeitsgeläut und Hufgetrappel und das Schrammen von Kutschenrädern auf den vereisten Straßen.

      Hinter ihr ertönte ein Poltern, dann ein Schlittern und Kratzen. Enrique, der vor ihr lief, warf einen Blick über die Schulter und wurde blass. Hypnos rüttelte an der Klinke. »Verdammt.«

      »Hunde! Scheiße!«, rief Enrique.

      »Nicht der Fluch, den ich für diese Situation gewählt hätte, aber –«

      »Nein, echte Hunde! Beeil dich!«

      Zofia sah sich nun ebenfalls um. Ihr Gehirn brauchte eine Millisekunde, um den Anblick zu verarbeiten, bevor die Angst einsetzte: Vier gigantische weiße Tiere jagten auf sie zu.

      »Geschafft!«, jubelte Hypnos.

      Die Tür schwang auf. Vage spürte Zofia Hypnos’ Hand, die sie am Arm packte. Mit einem kräftigen Ruck zog er sie in die eisige Sankt Petersburger Nacht. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss, während die Kälte sie traf wie ein Faustschlag.

      Auf der Anglijskaja Nabereschnaja erklangen die Hochzeitsglöckchen an fünfzehn weißen Troikas, die von je drei Apfelschimmeln gezogen wurden. Geschmiedetes Feuerwerk schwirrte in den Himmel, explodierte und formte Bilder von Braut und Bräutigam, brüllenden Bären und eleganten Schwänen, die in der Dunkelheit verglühten.

      »Da