Lise Gast

Josi und ihre Freunde


Скачать книгу

Wurst, so, wie es auf dem Weihnachtsmarkt riechen muß, und das Herz ging einem auf vor Vorfreude.

      Jetzt hatte man gar nichts, worauf man sich freuen konnte. Josi nahm einen Stein und schmetterte ihn ins Wasser, nahm ihr Rad auf und fuhr los. Aber die Gedanken kann man nicht ins Wasser schmeißen, die folgten einem...

      Es war solch laue, bänglich-süße Vorfrühlingsluft, die Sonne fiel golden durch die Äste der Bäume, und zwischen dem welken, vorjährigen Laub blühten Leberblümchen und Anemonen. Josi mußte plötzlich abspringen und hinüberlaufen auf die dunkelfeuchte Walderde. Der Radweg war asphaltiert.

      Nein, das war kein richtiger Wald hier. Er roch auch anders. Wild und erstickend überfiel sie auf einmal die Sehnsucht nach den heimatlichen Wäldern, nach der Hutung hinter der Försterei, nach dem Teich, wo sie immer Salamander gefangen hatten. Und die Wiesen und Koppeln! Immer dachte sie „unser“ Wald, obwohl er Helgas Vater gehörte. Sie wußte das, aber es zählte nicht. Man war so nahe verschwistert damit aufgewachsen, und es gehörte einem, wie einem wahrscheinlich keine Landschaft der Welt gehören würde. Was war nur los mit ihr, da stand sie und sehnte sich, obwohl sie im Grunde gar nicht nach Hause wollte. Nein, nach Hause, wieder das Jüngste zu sein, das keiner ernst nahm, das wollte sie nicht. Aber wissen, wohin man gehörte...

      Zu Ulrich gehörte sie nicht, das wußte sie jetzt. Zu Leo?

      Sie stand und sah hinüber nach dem Weg. Ihr war, als müßte er jetzt kommen, jetzt, wo sie so allein und verlassen und hilflos war, wo sie so sehr jemanden brauchte. Alles mußte gut werden, wenn er jetzt käme und wie so oft „Hallo, Josi!“ riefe. Ach, seine gute, vertraute Stimme, seine breiten, verläßlichen Hände!

      Er kam nicht. Sie stand und starrte, und dann ging sie langsam zu ihrem Fahrrad zurück. Es war ja dumm von ihr, Leo hatte im Augenblick so viel um die Ohren...

      Aus der Theatinerkirche klang Orgelmusik. Sie lehnte ihr Fahrrad an die Mauer und probierte an der Tür – offen. Auf Zehenspitzen trat sie ein. Die Kirche war leer. Lautlos stieg sie die Treppe hinauf bis auf die Empore. Ein nicht mehr ganz junger Mann saß und spielte. Sie sah den schönen, stark geprägten Lockenkopf im Profil, die dunkel überbuschten Augen. Der ganze Körper des Mannes ging auf und ab im Spiel der Hände und Füße. Oh, es war ein Genuß, gleichzeitig zu hören und zu sehen. Dieses Strahlende im Gesicht des Mannes – klang es nicht in der Orgel wider? Rauschte das Glück, das in diesen tanzenden Händen lag, nicht vielfältig in Tönen durch den Raum? Es überschauerte sie. Bach, ein ganz Großer, ganz Einsamer. Sie fühlte sich klein und unwichtig und nebensächlich werden neben dieser Wucht, dieser Stärke. Ohne daß sie es wußte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Als sie später die Kirche verließ, war sie irgendwie verändert. Irgend etwas in ihr hatte sich umgeschichtet, verlagert. Was sie vorher bedrückt hatte, schien ihr klein und dumm.

      Sie fuhr heim. Niemand da. Sie setzte sich aufs Bett und stützte die Fäuste in die Wangen. Wer groß und stark ist, kann ruhig allein sein. Wer das aber nicht ist und voraussichtlich auch nie werden wird, was fängt der an?

      Sich an etwas anschließen, an etwas Gemeinsames, an etwas, wo man mitarbeitet und mitbaut. Wo man unentbehrlich ist, so klein man auch scheint. Ja, aber wo gab es das für sie, Josi Fischer? Sie wußte es nicht.

      Es war eine dunkle Stunde. Josi vergaß sie nie.

      Leo hatte sie zur Bahn gebracht. Sie stand am Fenster des D-Zuges und wartete auf die Abfahrt. Es war glühend heiß, sie hatte das Gefühl, fast umzukommen in ihrem dicken Kostüm. Aber sie hatte es anziehen müssen, um den Platz im Koffer zu sparen, der Teufel mußte seine Hand im Spiel haben, warum jetzt alle Taschen voller waren als im Herbst. Schleppte sie so viel von hier fort? Sie hatte nicht das Gefühl.

      Pustend warf sie die Jacke auf ihren Platz. Der Aufhänger war schon wieder den Weg aller Aufhänger gegangen, sie mußte ihn annähen, ehe Mutter dahinterkam. Sie ließ das Fenster herunter. Leo stand draußen und reichte ihr eine Illustrierte herein und eine Rolle saure Drops. „Für den Durst.“

      „Danke, du bist rührend. Nein, es ist wirklich genug und zuviel. Ich will doch nicht lesen. Ich will rausgucken und sehen, wie alles bekannter wird ringsum...“

      „Komm doch noch ein bißchen heraus, es ist noch Zeit“, sagte er. Sie nahm ihre Tasche und lief durch den Gang zur Tür.

      „Du freust dich wohl sehr? Grüß nur alle!“ sagte er lächelnd.

      „Und ob ich mich freue. Ganz toll! Und ihr, wann kommt ihr?“

      „Morgen in vier Wochen.“ Leo hatte sich einen Job gesucht, um das nächste Semester zu finanzieren. Auch der Führerschein war noch nicht bezahlt. „Eigentlich finde ich es ja beleidigend, daß du so vergnügt bist und ganz ohne Abschiedsweh“, sagte er jetzt.

      „Ach, Männe, es ist vielleicht nur die Maske der Heiterkeit.“ Sie sah zu ihm auf, er konnte den Ausdruck ihrer Augen nicht recht deuten. Saßen da Tränen im Hintergrund?

      „Weißt du, Josi, ich dachte in den letzten Wochen manchmal, es wäre etwas mit dir.“

      „So? Was sollte denn sein?“

      Leo suchte nach Worten. „Ich meine...“

      „Na? Sag doch!“

      „Ich meine, du könntest ja auch mal einen Kummer haben...“ Es klang fast entschuldigend.

      „Eben, warum nicht?“ fragte sie. Ihr Ton war nicht ganz echt, diesmal hörte er es heraus.

      „Josi?“

      „Ach, Leo, soll ich dir wirklich die Ohren volljammern, es nützt doch nichts. Es ist, glaub’ ich, ein ganz ähnlicher Fall wie deiner, wie der, von dem du sprachst, zu Fasching.“

      „Ein ähnlicher Fall?“ Er wagte nicht zu fragen: wohl der gleiche mit den gleichen Leuten? Stimmte es, daß sie Ulrich – daß sie an Ulrich – so gedacht hatte? Manchmal glaubte er, so etwas beobachtet zu haben.

      Sie gingen nebeneinander den Bahnsteig auf und ab. Leo strich leise über ihren Arm.

      „Das geht vorbei, Josi.“

      „Jaja, natürlich. Ich hab’ dir damals wohl dasselbe gesagt...“ Sie lachte ein bißchen. „Aber jedenfalls geht es schneller und besser vorbei, wenn man ordentlich schuftet. Siehst du, deshalb ist es sicherlich gut, daß ich gerade jetzt für Mutter einspringen muß. Sie fährt weg, ich werde also ganz selbständig wirtschaften müssen. Und so was gefällt mir, darauf freue ich mich.“

      „Ja? Wie gut, Josi.“

      Sie sah sich um. Die Halle des Bahnhofs war sonnendurchstrahlt, alle Metallteile blitzten und schimmerten. Der Himmel mit seinem wolkenlosen, funkelnden Blau drängte sich förmlich hinein. „Schön war es aber doch“, sagte Josi.

      „War? Willst du denn nicht wiederkommen?“ fragte Leo aufmerkend.

      Josi sah etwas überrascht zu ihm auf.

      „Sagte ich: war? Ja? Nein, weißt du, eigentlich hab’ ich überhaupt noch nicht weiter gedacht als an die nächsten Wochen. Eigentlich will ich ja weiterstudieren.“

      „Josi, wenn du nicht wiederkommst!“

      „Täte dir das leid? Ach, Männe, du guter Kerl, das ist wirklich nett von dir, mir das einreden zu wollen. Aber im Grunde – richtig vermissen werden mich wahrscheinlich nur die drei Sasse-Kinder. Bloß gut, daß ich noch mit ihnen in Hellabrunn war, im Tierpark – sie hatten es sich so sehr gewünscht. Renate ist natürlich in den Dreck geflogen, und die Jungen interessierten sich sehr laut dafür, wie der Vogel Strauß sich fortpflanzt im Gegensatz zu den Zebras. Noch dazu auf sächsisch – du kennst sie ja. Alle Leute guckten auf mich, und ich werde ja immer so blödsinnig rot. Sie wollten unbedingt ein Vogel-Straußen-Ei sehen, das von der Sonne bebrütet wird. Wir müssen sie mal zu uns nach Hause einladen. Das wäre fein, im Sommer, ja?“

      Leo nickte. Er sah Josi an, ihr ernsthaftes und irgendwie verändertes kleines Lausbubengesicht. Nein, kein Lausbubengesicht mehr. Gewiß, ihre Nase wies noch immer gen Himmel, noch immer war ihr kurzes