Hanne-Vibeke Holst

Seine Frau


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er mich noch einmal anrührt. Er hat gelacht, sich nicht einmal aufgeregt, nur ein gedämpftes »sozialer Betrug« fallen lassen, um aus dieser Drohung die Luft herauszulassen. In so etwas ist er hervorragend. Die unbedeutendste Information zu speichern, die in seinen Besitz kommt, um im richtigen Augenblick den maximalen Nutzen daraus zu ziehen. Wie zum Beispiel daraus, dass ich einmal während eines offiziellen Abendessens bei einem Bankdirektor in Gentofte in einer heißen Diskussion über staatliche Transferleistungen ausgeplaudert habe, dass die Exfrau meines einsitzenden Bruders gezwungen ist, schwarz als Putzfrau zu arbeiten, weil ihre Sozialhilfe nicht reicht.

      »Er schlägt mich nicht mehr«, antworte ich schnell und werfe einen Blick zur Tür, um zu sehen, ob er sich hinter mich geschlichen hat. »Mir geht es gut hier!«

      »Ja, bis er nach Hause kommt!«, schnarrt sie. Im Hintergrund läuft der Fernseher, und ich höre Stimmen und Gläserklirren. »Wir sitzen hier zusammen und machen es uns gemütlich. Wir passen auf dich auf! Du kannst heute Nacht hierbleiben!«

      »Vielen Dank!«, bekomme ich heraus, bevor ich das Gespräch beende und das Telefon ausschalte. Es auf das Sofa werfe, noch entsetzter als vorher. Sie hat recht. Ich habe genug Zeit. Es wird Stunden dauern, bis er aus der Burg nach Hause kommt. Ich muss nicht hier in einer Villa in Frederiksberg sitzen und warten, dass er mir etwas antut. Ich könnte flüchten. Meine Sachen packen und abhauen, wie sie das in den amerikanischen Filmen tun. Aber wohin? Welche Staatsgrenze sollte ich passieren? Wer außer Janni, der Zwangsesserin, die genug mit sich selbst zu tun hat, sollte mir helfen? Und was habe ich davon zu überleben, wenn es ein Überleben ohne ihn ist?

      Alternativen gibt es nicht. Ich würde wie immer von Barrikaden und Wegsperrungen aufgehalten. Ich habe keine andere Möglichkeit, als hier zitternd wie ein paralysierter Hase im suchenden Lichtkegel zweier Autoscheinwerfer vor dem großen 28-Zoll-B&O-Fernseher zu sitzen, während ich mich wie ein geheilter Krebspatient, der sich mit jedem Monat von einem Rückfall fortbewegt, an die Statistik klammere. Denn das letzte Mal ist lange her. Sechsundsiebzig Tage. Seit dem 11. September hat er mich nicht mehr angerührt. Ganz im Gegenteil schien er sich mir wieder zu nähern, als die beiden Türme in Schutt und Asche lagen. Als würde die Verzweiflung ihn zu mir zurückführen. Er hat meine Hand genommen, als ich ihn auf seinen Wunsch hin zu einem Kondolenzbesuch beim amerikanischen Botschafter begleitet habe. Hat einen beschützenden Arm um meine Schulter gelegt, als die Fotografen vor der Botschaft in der Dag-Hammerskjölds-Allee mit den Blumensträußen und dem Lichtermeer aus angezündeten Kerzen Bilder von uns gemacht haben. Hat mich nicht verhöhnt, als wir kopuliert haben, ganz normal, Kaffee und Kuchen, vor und zurück. Im Ehebett! Ist sogar geblieben und hat die Nacht an meiner Seite verbracht. Hat mich seine angespannten Schultern massieren lassen, als er spät von einer Krisensitzung der Regierung nach Hause kam. Hat nach langer Zeit wieder einmal von seinem Tag erzählt. Hat mich an dem Dilemma teilhaben lassen, dem amerikanischen Präsidenten in den »Krieg gegen den Terror« zu folgen und gleichzeitig Demokratie und Bürgerrechte zu schützen. Er hat mir zugehört. Beifallend gelacht, als ich Pers altväterliche Medienperformance »selbstverliebt« nannte, und hat mir selbst eingeschenkt, als wir an diesem Samstagabend mehr Wein als vernünftig geteilt haben. Hat mich nicht abgewiesen, als ich Dylan aufgelegt und ihn zum Tanz aufgefordert habe. Hat bei Just Like a Woman sogar mitgegrölt und mich an sich gezogen. Er ist nie ein großer Tänzer gewesen, doch da, in seinem Arm, habe ich mich dem schwindelerregenden Traum hingegeben, dass man das Band zurückspulen kann. Bis zu der Zeit, als wir jung waren. Nein, bis zu unserer Geburt. Oder vielleicht sogar bis zur Geburt unserer Eltern, als man unserer noch als der vielversprechenden zukünftigen Generationen gedachte.

      Natürlich konnten wir die Zeit nicht auf null stellen. Während die Wochen vergingen, der Schock nachließ und die Welt sich wieder in einem Alltag aus Normalität und Gewohnheit verfing, glitten wir wie alle anderen zurück in unsere Rollen, wurden eingefangen und auf unserem Platz gehalten. Seine Sympathie schlug in die gewöhnliche Irritation über meine Person um, und meine lächerliche Hoffnung zerfiel und wurde zerdrückt wie Eier in einem Korb. Und seit die Wahl zum Folketing ausgeschrieben war und sein Stressniveau von Tag zu Tag anstieg, habe ich gewusst, dass die Entladung bald kommen wird. Er braucht sie, weil er unter Stress steht. Physisch und mental ausgelaugt von den extremen Anforderungen des Wahlkampfs, doch vor allem gestresst durch die enervierenden Meinungsumfragen, die schon lange vorhergesagt haben, dass die Sozialdemokraten die Regierungsgewalt verlieren würden. Ich habe nicht gewagt, das zur Sprache zu bringen. Habe so getan, als wäre ich nicht auf dem Laufenden, obwohl ich die Prognosen bis auf die letzten Stellen hinter dem Komma kenne und weiß, dass er selbst alles durchrechnet, wenn er schlaflos im Gästezimmer am Ende des Flurs liegt. Deshalb war ich die letzten Wochen in voller Alarmbereitschaft. Red alert, wie es so schön heißt. Bin lautlos herumgeschlichen, wenn er ein seltenes Mal zu Hause war. Habe jede Kräuselung der Oberfläche im Blick behalten. Den Überdruck, der seine Adern unter der dünnen Haut der Stirn blau und prall werden lässt. Die Sommersprossen, die wie rostfarbene, über die bleiche Haut des Gesichts verstreute Inseln hervortreten. Die Nerven, die unter dem linken Auge zittern. Die Backenzähne, die knirschen. Die Art, wie er die linke Hand um das rechte Handgelenk schließt, um zu verhindern, dass ihm die Hand ausrutscht. Die Augen, die sich blind machen, um mich nicht zu sehen. Das Dreieck seines Rückens unter dem sich spannenden Hemd, wenn er abrupt vom Esstisch aufsteht und ohne ein Wort einen halb leer gegessenen Teller zurücklässt. Er bewegt sich in dem verbissenen Versuch, sich zu beherrschen. Tut alles in seiner Macht Stehende, um die Wiederholung zu vermeiden, von der er auch letztes Mal geschworen hat, dass sie ausgeschlossen ist. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist! Vergib mir! Ich habe ihm vergeben. Viele Male. Hasse mich selbst ebenso sehr, wie er mich hasst, weil ich das in ihm hervorrufe. Ihn dazu bringe, »die Besinnung zu verlieren«, wie er es nennt. Entschuldige, ich habe die Besinnung verloren ...

      Während ich kettenrauchend mit einem Paket Grøn Look Light dasitze, bin ich mir trotzdem sicher, dass es nicht vorbei ist. Die Lunte glimmt in aller Stille; Tag für Tag wird sie kürzer. Das ist das Schlimmste. Dass ich weiß, dass es passieren wird, aber nicht, wann. Denn obwohl ich wachsam bin und mir angewöhnt habe, nur leicht wie ein Soldat mit den Stiefeln an den Füßen zu schlafen, ist es ihm noch jedes Mal gelungen, mich zu überrumpeln. Plötzlich und ohne Vorwarnung ist er gekommen, der Überfall. Als wäre es Teil seiner Befriedigung, dass er erfolgt, wenn ich ihn am wenigsten erwarte. Wenn ich, ohne es zu wissen, »die Grenze überschritten habe«. Jedes Mal war die Strafe für meine Übertretung härter und gewalttätiger als das vorherige Mal. Das erste Mal waren es nur ein paar Ohrfeigen, an die ich von der Kindheit, in der die Ohrfeigen auch lose saßen, gewöhnt bin. Doch das letzte Mal, an dem Abend, an dem ich von Janni nach Hause gekommen und trotz seines Versprechens, mir freies Geleit zu gewähren, für meinen Fluchtversuch bestraft worden bin, habe ich eingesehen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann er mein hässliches Hurengesicht zertrümmert. Nur weil ich schnell meine Unterhose ausgezogen und mich ihm von hinten angeboten habe, ist er nicht auf mein Gesicht losgegangen. In gewisser Weise habe ich weniger Angst davor zu sterben, als dass er mir das Gesicht zertrümmert.

      Ich starre angespannt auf den Bildschirm und halte das Glas mit beiden Händen fest, als ich wie eine sprachlose Zeugin dessen, was die Kommentatoren exaltiert als »historischen Schritt nach rechts« bezeichnen, meinen zweiten Drink leere. Ich schenke mir den dritten doppelten Wodka mit Saft ein, als der Sieger, der Vorsitzende der Liberalen, mit einem Lächeln so breit wie eine sechsspurige Autobahn triumphierend zu der Lasershow auf der Seeland-Fähre erscheint. Und kurz vor Mitternacht leere ich die Mineralwasserflasche, als Per, der sich groggy wie ein umschwärmter Boxer in der Sporthalle von Kopenhagen an dem Presseschwarm vorbeigeschlichen und auf einem Umweg den Landstingssaal erreicht hat, von Standing Ovations begrüßt, das Podium besteigt und mit gebrochener Mikrofonstimme sagt: »Genossen!« Ich höre kaum zu, sitze nur mit aufgerissenen Augen da und scanne den Bildschirm, als die Kamera über den geschlagenen Haufen ungläubiger Sozialdemokraten schwenkt. Offenbar hat der Produktionsleiter das Gleiche gesucht wie ich. Denn plötzlich ist er da, Gert. In Nahaufnahme, neben Elizabeth Meyer, die bald zur ehemaligen Außenministerin degradiert werden wird. Sie singt nicht mit; ihr Mund hat sich zu der säuerlichen Schnute verzogen, die die Karikaturisten so lieben. Genau wie sie Gert gern mit einem diabolischen, dreieckigen Fuchsgesicht mit kleinen Teufelshörnern darstellen. Nachdem die Kamera Meyer herangezoomt hat, verweilt