Hanne-Vibeke Holst

Seine Frau


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und stattdessen in das volkstümliche Landesvaterkostüm zu schlüpfen, das auszufüllen noch immer von einem sozialdemokratischen Vorsitzenden erwartet wird. Mit anderen Worten: Es ist nicht länger undenkbar, dass er entgegen aller Voraussagen eine Mehrzahl der Stimmen für seine Kandidatur erhält. Denn irgendwo wissen sie alle, dass es so hätte sein sollen. Dass er nach dem Arbeiter die Macht hätte übernehmen sollen. Meyer, deren Format sie zu einer seriösen Konkurrentin machte, konnte der Alte schon allein aufgrund ihrer jüdischen Bourgeoisiemanieren nicht ausstehen, und Per gab es damals so gut wie noch nicht. Er war von Anfang an eine Notlösung, ein Deus ex Machina, der hervorgezaubert wurde, als die Skepsis des Arbeiters dem blitzintelligenten Oberarztsohn gegenüber die Bahn des Kometen änderte. So wurde die Troika zu einem Kompromiss, mit dem zu leben sie alle gezwungen waren, jedenfalls solange diese Konstruktion ihnen die Regierungsgewalt sicherte. Verlören sie diese jedoch, könnten die Karten neu gemischt werden. Indem der König den Thron abtrat natürlich.

      Und das kann Gert nicht länger ertragen. Dass Per so tut, als wüsste er das nicht. Dass er die Regeln des Spiels nicht befolgt und abdankt, wie er sollte. Dass Per nicht bereits heute Abend seinen treuen Leutnant zu einem Einzelgespräch einberufen und ihn in den Plan eingeweiht hat, ihm die Krone aufs Haupt zu setzen. Um Zwietracht und Spaltung vorzubeugen, um seinem alten Alliierten Respekt zu erweisen und die Herkulesarbeit anzuerkennen, die er loyal geleistet hat. Er hätte es der Partei zuliebe tun müssen! Sich selbst zuliebe, verdammt! Hier bietet sich ihm die Chance, sich ein Denkmal zu errichten, in Bronze! Warum lässt er zu, dass andere es in Lehm erschaffen? Begreift das einer? Ist das zu verstehen? Ja. Das ist es. Er ist der Erste, der das versteht. Doch das macht seine Frustration nicht geringer.

      Vanity, vanity, vanity! Gert Jacobsens Schritte hämmern über die Marmorbrücke. Das Licht der Laternen zerstreut den milchweißen Nebeldunst und wirft einen Schimmer nordischer Winterpoesie über den Kanal von Frederiksholm. Doch er hat kein Auge für blasse Pastelltöne. In seinem Kopf sind die Farben Rot und Schwarz; wie immer, wenn es heraufzieht, hat er einen Stock in der Hand und keine Schuhe an den Füßen. Er spürt die Kälte nicht, die bereits durch die dünnen Ledersohlen dringt, und er sieht auch das Taxi nicht, das langsam mit einem grünen Schild an ihm vorbeifährt. Er geht, geht einfach weiter, am Nationalmuseum vorbei zum H.-C.-Andersen-Boulevard, wo er absichtlich nicht zu den Wahlplakaten hochblickt, von denen nicht wenige ihn selbst zeigen, freundlich lächelnd, was ihn ebenso wütend macht wie das gebrauchte Kondom in einem Hotelzimmer am Vortag. Genau das provoziert ihn so. Dass Per, der ihm mit seinem Goldzahn von einem Plakat am Rathausplatz direkt ins Gesicht springt, ihn zwingt, etwas zu tun, das ihm nicht gefällt. Er will nicht das dumme Schwein sein. Er will nicht der Verräter sein, der Totschläger. Er will nicht der Königsmörder sein. Er will nicht. Aber er kann sehr wohl.

      Als er vierzig Minuten später in der Villa im C. R. Richsvej eintrifft und den Schlüssel ins Schloss steckt, ist er ruhig. Das bildet er sich jedenfalls ein. Er zählt sogar bis hundert, wie er es sich angewöhnt hat, und betet ein stilles Gebet, dass sie ihn nicht reizt. Dass sie brav ins Bett gegangen ist, hinter sich aufgeräumt und die Schlafzimmertür abgeschlossen hat. Um ihn nicht in Versuchung zu führen.

      Denn Gert Jacobsen hat zwar gelernt, sich zu beherrschen. Aber leider, und das tut ihm wirklich leid, nur nach außen hin.

      Per Vittrup tut, als sei es ein plötzlicher Einfall, dass er nach Marienborg gefahren werden will statt nach Hause in seine Wohnung in der Stockholmsgade. Und er tut so, als würde er bei der Verdi-CD Un ballo in maschera einschlafen, die er den Fahrer gebeten hat, in den CD-Player zu stecken. Und er tut auch, als wolle er die Anrufe auf seinem Handy nicht beantworten, obwohl die Wahrheit ist, dass keine Anrufe eingegangen sind. Erst als er in Marienborg angekommen ist und die Angebote des festen Personals, ihm irgendwie zu Diensten zu sein, abgewehrt hat und endlich allein in dem höhlenartigen Schlafzimmer ist, kann er damit aufhören, zu tun als ob. Erst als er das Jackett, den Schlips, die Schuhe und die Socken fortgeworfen und sich mit einem Mettwurstbrot mit einer dicken Schicht Tafelsenf auf das Bett gesetzt und den ersten Schluck von einem kellerkalten Flaschenbier getrunken hat, kann er sich der Niederlage stellen. Erst hinter den dicken, schützenden Vorhängen sieht er sich die riesigen Dimensionen dieses Verlusts an und tastet die Konturen ab, die sich wie ein Bergmassiv anfühlen. Er hat die Regierungsgewalt verloren. Zum ersten Mal seit 1920 ist die Sozialdemokratie auf den Platz der zweitgrößten Partei im Folketing verwiesen worden. 29,2 Prozent der Stimmen. Daran wird man sich in Verbindung mit ihm erinnern. Wird sich erinnern, dass er versagt hat.

      Er tritt einen Schritt von dem Monolithen zurück, will sich von ihm abwenden und stattdessen in Nüchternheit und kühler Analyse Zuflucht suchen. Doch plötzlich spürt er die Schwere der Niederlage wie einen gewaltigen, zentrifugalen Zug in seinem Körper; einen Augenblick lang hat er das Gefühl, als würde alles Blut in seine Beine gepresst, als würden die Eingeweide in seine Brust hochgeschoben, als flatterten die Wangen, und das Herz würde aufhören zu schlagen. Schweiß bricht ihm aus, während die Panik kochend heiß durch seine Blutbahnen schießt. Er lehnt den Kopf gegen das Kopfende. Kneift die Augen zusammen, sodass seine Stirnfalten in einem tief eingegrabenen Muster quer und längs verlaufender Linien hervortreten. Sein Mund öffnet sich, doch der Schrei bleibt aus. Trotzdem beginnt er, kräftig ein- und auszuatmen: eine Hyperventilation, die nur bemerken könnte, wer ihm ganz nahe ist. Und das ist niemand. Denn sie, die bei ihm sein sollte, die Frau, bei der er Trost suchen könnte, steht im Begriff, ihn zu verlassen. Sie ist nicht einmal im Land. Deshalb ist er allein in diesem angsterfüllten Augenblick, in dem er wirklich furchtet zu sterben. Er ballt die Fäuste, hält dagegen. Und nach einigen Sekunden oder vielleicht auch Minuten ist es überstanden. Er öffnet die Augen, räuspert sich und richtet sich im Bett auf. Spült den letzten Rest Mettwurstbrot mit dem Bier hinunter, stellt das Tablett zur Seite und greift nach dem Block, der auf dem Nachttisch liegt. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Einen Schlachtplan zu erstellen. Jetzt müssen sie nach vorn sehen!

      Erleichtert glaubt er sich unversehrt, während der Stift über die Seite fliegt, Punkte miteinander verbindet und Namen auflistet. Er ist in Topform, ja, in einer so imponierenden Topform, dass er die unbedeutende Nadel nicht beachtet, die sich in die Membran gebohrt hat und unweigerlich zu einer langsamen, sehr langsamen und fast unmerklichen Punktion führen wird.

      Wie hat er es aufgenommen?«, fragt Thomas schlaftrunken, als sie gegen zwei unter die Bettdecke kriecht und ihre kalten Beine um seine wickelt.

      »Wie ein Elefant, den eine Mücke gestochen hat. Entweder ist er erschreckend dickhäutig oder auf dem besten Weg, Harakiri zu begehen. Ist das bei Männern so?«

      »Was?«

      »Dass sie die Muskeln spielen lassen, selbst wenn das Schiff untergeht?«

      »Wenn Mann gleich Macho ist«, lacht er gedämpft und wickelt sich eine ihrer ackerbraunen Haarlocken um den Finger. »Wie geht es dir?«

      »Mir?«, seufzt sie. »Ich bin müde. Hundemüde. Und deprimiert. Wie können sich so viele Dänen so sehr irren? Es war wie auf einem Beerdigungskaffee da drinnen ...«

      »Freust du dich nicht, dass du gewählt worden bist?«

      »Falls ich das bin. Doch, natürlich tue ich das ...«

      »Was meinst du, schaffst du das?«

      »Schaffe ich was?«, fragt sie und gähnt.

      »Zu uns anderen Sterblichen herabzusteigen. Wenn du keine Ministerin mehr bist?«

      Sie setzt sich abrupt im Bett auf, sodass er erschrocken mit den Augen klimpert.

      »Was redest du da für einen Mist? Ich habe mich doch nie von der Position blenden lassen! Ganz im Gegenteil, ich habe vom ersten Tag an gewusst, dass dieser Stuhl nur geliehen ist! Du solltest doch vor allen anderen wissen, dass ich nie daran gezweifelt habe, dass ein Ministerposten eher ein Mittel als ein Ziel ist. Oder hast du das anders erlebt?«

      »He, Lotte«, beruhigt er sie friedlich. »Das war nicht so gemeint.«

      »Entschuldigung«, sagt sie und schlüpft wieder unter die Decke. »Das ist die Müdigkeit. Und irgendwie ist es ja auch nicht so leicht, diesen Job aufzugeben. Wir