mögliche sozialdemokratische Kronprinzessin ins Rampenlicht zerren könnten, und eine Kronprinzessin sollte in einem modernen politischen Drama natürlich nicht fehlen. Daher ist ihr persönlicher Wahlsieg gleich nach Vittrups Niederlage die beste Story, die bis zum Gehtnichtmehr ausgeschlachtet wird. Bei der Presse herrscht die einheitliche Meinung, dass Charlotte Damgaard Vittrups Joker im Konstituierungskabale ist, zu dem er die Karten legt. Letztens in den Radionachrichten, die sie im Auto gehört hat, als sie Thomas ein weiteres Mal schweren Herzens auf dem Weg zu seinem Job als Projektleiter in Sambia zum Flughafen gefahren hat, hieß es bereits, dass sie als Zweite Vorsitzende ausersehen sei und somit einen Platz in der Fraktionsspitze bekomme. Einige politische Kommentatoren haben ihr sogar den Job als neue politische Sprecherin zugedacht, und ein weiterer hat sich so weit aus dem Fenster gelehnt vorauszusagen, dass Vittrup es dem ehemaligen Staatsminister Krag gleichtun und alle hinters Licht führen werde, indem er zurücktrete und ihr die Führung übertrage. Alle Spekulationen hat sie mit »kein Kommentar« zurückgewiesen, genauso wie sie sich nicht dazu geäußert hat, welche Konsequenzen Vittrup ihrer Meinung nach aus der Wahlniederlage zu ziehen habe. Bis auf ihren Kommentar in der Wahlnacht »Per Vittrup ist ein erwachsener Mann, der absolut imstande ist, seine eigenen Konsequenzen zu ziehen«. Ein blöder Fehlgriff, weil das als Aufforderung an ihn missverstanden werden könnte, die einzige Konsequenz zu ziehen, die die Gewogenheit der Medien hat, nämlich die Kapitulation. Am nächsten Tag hat sie getan, was sie konnte, um diese Doppeldeutigkeit zu dementieren, und darauf hingewiesen, dass es durchaus auch eine Konsequenz sein kann, auf der Brücke zu bleiben, während der Orkan wütet. Zu spät, denn zu diesem Zeitpunkt hatten die schuppigen Mediennattern den Ausspruch bereits verzehrt und verdaut, um ihn zu irgendeinem Zeitpunkt, wenn sie am wenigsten damit rechnet, wieder auszubrechen.
Per selbst hat sich nichts anmerken lassen; er weiß schließlich, wie viel Unsinn geschrieben und wie alles, was man sagt, manipuliert und missbraucht wird. Deshalb hat sie die Idee aufgegeben, ihm eine Mail zu schicken und alles zu erklären. Aber sie wird sich daran erinnern, eine entsprechende Bemerkung fallen zu lassen, wenn sie zu der offiziellen Audienz bei dem Vorsitzenden aufgerufen wird, die der endgültigen Konstituierung vorausgeht, die der Fraktion um zwölf vorgelegt und um drei der Presse präsentiert werden soll. Eigentlich ist sie bereits per Telefon abgehandelt worden, doch es gibt gewisse Rituale und Spielregeln, die offenbar eingehalten werden müssen. Unter anderem auch die, sich durch ein weiteres Presseaufgebot zu quälen, das vor dem Büro des Vorsitzenden Aufstellung genommen hat in der Hoffnung, von sauren oder enttäuschten Fraktionsmitgliedern das eine oder andere aufzuschnappen. So kann sich das Roulette noch einmal drehen, die Sendezeit wird ausgefüllt, die Zeitungen werden verkauft, und der Fortsetzungsroman über die Kernschmelze der Sozialdemokraten geht weiter.
»Und jetzt lächeln!«, ermahnt sie sich und schluckt den Ärger hinunter, als sich die ganze Horde mit einem »Charlotte Damgaard, dürfen wir kurz ...« auf sie stürzt. Die Fernsehreporter halten ihr das Mikrofon unter die Nase, die Zeitungsreporter stehen mit Band oder Block bereit, und die Digicams der Fotografen blitzen los, während sie sich langsam der rettenden Tür nähert. Glücklicherweise ist sie groß und breitschultrig, ein absoluter Vorteil für eine Frau in der Politik.
»Charlotte, wird man Sie jetzt zur politischen Sprecherin ernennen?«, fragt Radio Danmark.
»Können Sie bestätigen, dass Sie die neue Zweite Vorsitzende werden?«, klingt es gleichzeitig von TV 2.
»Wie ist Ihre Haltung zu Søren Schouws Kritik am von oben gesteuerten Führungsstil?«
Sie lächelt breiter, bleibt stehen und dreht sich zu den Kameras. »Was Søren Schouw angeht, habe ich schon vor Langem beschlossen, keine Meinung zu ihm zu haben. Darf ich bitte vorbei?«
Im gleichen Moment geht die Tür auf, und derselbe Soren Schouw erscheint. Mit einer Gesichtsfarbe, die auf der gleichen Farbskala wie die korallenroten Wände des Gangs anzusiedeln ist. Eine Nuance, die gut zu den hohen, weiß gestrichenen Paneelen passt, aber weniger zu seiner grauen Tonsur.
»Sie schon wieder!«, zischt er zwischen den Zähnen hindurch.
»Ich schon wieder«, lächelt sie reserviert und schlüpft hinein. Wohlwissend, dass er, sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hat, seiner Frustration darüber Luft machen wird, dass sie ihm zum zweiten Mal sein Spielzeug weggenommen hat. Das erste Mal, als sie sein Umweltministerium übernommen hat. Und jetzt, wo ihr der Posten des Umweltsprechers angeboten wird, für den er Interesse angemeldet hat. Obwohl es nicht üblich ist, dass einem aus dem Amt geschiedenen Minister die Wortführerschaft in seinem früheren Ressort zugeteilt wird. Doch Vittrup hat sich verblüffend umgänglich gezeigt, als sie ihren Wunsch vorgebracht hat. »Einverstanden«, hat er gesagt. »Dann gewöhnst du dich auch an das Sägemehl im Zirkus. Deine Jungfernrede steht auch noch aus.« Sollte sie einmal ihre Memoiren schreiben, wird sie darin die Behauptung der Presse dementieren, dass sie Vittrups Joker gewesen sein soll. Sie ist auch zu grün – im doppelten Sinn –, um in der Fraktionsführung zu sitzen. Sie will die Unken retten. Nicht irgendjemandes Arsch.
»Was hat Schouw bekommen?«, flüstert sie der Sekretärin im Vorzimmer zu.
Die Sekretärin, die ein Faible für »die nordjütische Amazone« hat, schneidet eine verschwörerische Grimasse.
»Grönland und die Faröer.«
»Okay!«, sagt Charlotte und streckt sich. Dann haben die Journalisten ja ihre Story.
Man hat die sozialdemokratische Folketingfraktion einmal mit einer schlummernden Seeschlange verglichen. Mit einem launischen Seeungeheuer, das über lange Zeit in einer Art winterschlafähnlichem Zustand am Meeresboden liegen kann, was den an Land Lebenden den Eindruck von Frieden und Verträglichkeit vermittelt. Ja, so still kann die Seeschlange sein, dass die Menschen ihre Existenz total vergessen oder sogar bezweifeln, dass es sie gibt. Die kleinen Blasen, die Unheil verkündend die glitzernde Wasseroberfläche durchbrechen, werden übersehen oder bagatellisiert als Schnappen der Hechtkiefer nach Beute. Nur die Ältesten und Weisesten wissen, dass die Seeschlange keine Legende ist. Passt man nicht auf, sie nicht zu reizen, sieht man nicht zu, ihr zu opfern und Respekt zu erweisen, kann sie sich plötzlich in ihrer ganzen, gigantischen Größe erheben und wütend ihr alles verzehrendes Maul öffnen, in dem innerhalb eines Augenblicks alles verschwindet. Und wenn der Leiter dieser Fraktion aus sehr verschiedenen Individuen mit sehr verschiedenen Tagesordnungen sich der lauernden Gefahr nicht bewusst ist und nicht vermag, die Seeschlange ruhig zu halten, kann sich das bald als fatal erweisen.
Das weiß Per Vittrup nur zu gut. Und genau aus diesem Grund hat er jedem Einzelnen seiner einundfünfzig Fraktionsgenossen in den letzten Tagen tief in die Augen gesehen, zumindest sieht er das so. Ebenso wie er aufrichtig die Meinung vertritt, dass er, soweit möglich, bei der Verteilung der Sprecherposten, der Ausschussposten und so weiter auf jeden Einzelnen Rücksicht genommen hat. Einige musste er natürlich enttäuschen, Soren Schouw ist einer von ihnen, doch mit seinem mittelmäßigen Wahlergebnis hat er nicht gerade ein solides Mandat. Gert scheint sich auch damit abgefunden zu haben, dass Soren Schouw weiter nach unten getreten wird. Und Meyer scheint zufrieden damit, dass Charlotte diesmal nicht Teil der Fraktionsführung wird. Sie war sogar absolut dagegen, dass ihre Protegé zur Zweiten Vorsitzenden gemacht wird, eine Idee, die eigentlich auf ihrem Mist gewachsen ist. »Zu früh«, war ihr einziger Kommentar, als sie den Vorschlag abgewiesen hat. Dieser Posten ging somit an Christina Maribo, während Gert seinen jungen Bewunderer Martin Jansen zum Zweiten Vorsitzenden berufen hat. Somit dürften mit ihm an der Spitze, Meyer als Fraktionsvorsitzendem, Gert als politischem Sprecher und den beiden Jüngeren an den Flügeln Sonne und Wind gleich verteilt sein. Zumindest hatten weder Gert noch Meyer Einwände gegen die anderen Ernennungen, die in ihren Augen »ausbalanciert« sind. Meyer hat ihn sogar gelobt, die etwas beschwerliche Susanne Branner ihres Postens als Umweltsprecherin enthoben und ihr den der Einwanderersprecherin zugeteilt zu haben. In gewisser Weise ein Uriasposten, den sie denn auch mit saurer Miene angenommen hat. Eine Miene, die nur noch saurer wurde, als sie begriff, dass Charlotte als gewöhnliches Mitglied mit in den Ausschuss gekommen ist. Da waren die Jüngsten leichter zu begeistern. Die junge Liv Busk Sørensen strahlte über ihre Ernennung zur Gleichberechtigungssprecherin, und die beiden jungen Sozialdemokraten, Sune Garde und René Nielsen, drückten ebenfalls