Hanne-Vibeke Holst

Seine Frau


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tun? Wenn er nicht hören will, muss er eben fühlen. Und er wollte nicht hören. In all den Jahren. Jedenfalls nicht auf mich, wie gesagt. Deshalb folge ich meinem eigenen Impuls und gehe ins Bad und erbreche mich in die blitzende weiße WC-Schüssel.

      Treibsand. Daran denkt Per Vittrup, als sie die erste Fraktionssitzung abhalten. Er denkt an die Episode im Jahr 1964, als sich seine Vespa im losen Sand zwischen Blokhus und Løkken festgefahren hatte und mit sich drehenden Rädern in den Treibsand gesogen wurde. Während das Mädchen, das hinten draufsaß, in Panik abgesprungen war und sich in Sicherheit gebracht hatte, blieb er auf dem Motorroller sitzen und hielt resolut den Lenker fest, um das Fahrzeug der mächtigen Kraft zu entreißen, die es nach unten zog. Sie waren allein am Strand, es war Herbst, und er erinnert sich deutlich an das Gefühl, einem unüberwindbaren Feind gegenüberzustehen, den er besiegen musste. Alles, sein ganzes Leben hing davon ab, diesem unterirdischen Teufel den Motorroller zu entreißen, nach dem dieser die Hand ausgestreckt hatte. Es war wie eine Prüfung in einem Märchen, der Kampf des Jünglings mit dem Drachen. Das Mädchen schrie, dass er den Motorroller lassen und weglaufen sollte. Aber er hörte es nicht, genau wie er das Brüllen der Brandung nicht beachtete und die heiseren Schreie der Möwen. Das Einzige, was ihm etwas bedeutete, war, den Kampf zu gewinnen.

      Zum Teufel noch mal, er würde die Vespa nicht opfern, für deren Kauf er geschuftet hatte, seit er ein Junge war. Nichts hatte er geschenkt bekommen, schon gar nicht einen raffinierten italienischen Motorroller, der ihn Hunderte von mühseligen Stunden als Arbeitsjunge in der verräucherten Schmiede gekostet hatte, wo die Funken sprühten und er keinen Mucks von sich gab, wenn sich glühende Eisenstücke durch seine löchrigen Handschuhe brannten oder sein Stirnhaar vom Feuer versengt wurde. In der Familie hatten sie über den Motorroller den Kopf geschüttelt, warum nicht ein Motorrad, wenn es denn unbedingt so etwas sein musste? Sie verstanden das nicht. Dass die Vespa nicht nur ein Symbol für das Vorwärtsstreben der Jugend, sondern für sein Vorwärtsstreben war. Auf ihr konnte er direkt in die Universität von Aarhus rollen und ihnen allen zeigen, dass er es schaffen würde, mit Stil, obwohl er von unten kam und nur der Sohn eines Schmieds war. Denn seine Generation würde von den langen Schatten der Nachkriegszeit frei sein, jetzt ging es darum, jung und dynamisch zu sein und nicht an den Vorstellungen der Vergangenheit festzuhalten, dass ein Schuster bei seinem Leisten bleiben sollte, oder was das anging, ein Schmied bei seinem Amboss. Seine ganze Erwartung, seine ganze Hoffnung, ja, seine ganze Identität hatte er auf die Vespa projiziert. Und wenn er die verlor, verlor er alles. Aufzugeben war ausgeschlossen, auch als die steigende Flut ihm um die Stiefel leckte.

      Obwohl der Ausgang von vornherein klar zu sein schien, zweifelte er in den entscheidenden Minuten nicht, die es ihn kostete, die Oberhand zu gewinnen. Und mit einer gewaltigen, ja, titanischen Kraftanstrengung gelang es ihm, die Motorkraft auszunutzen und das Fahrzeug freizubekommen, bevor der Sand bis zum Schutzblech reichte. Dieses Gefühl des totalen Triumphs, das er in diesem Augenblick empfand, als das Mädchen ihn mit einem zwischen Verzweiflung und Bewunderung schwankenden Ausdruck ansah und er mit einer lässigen Bewegung Sandkörner vom roten Lack strich, hatte ihn seither begleitet. Aus diesem Erlebnis hatte er sein Selbstvertrauen gezogen und seinen Glauben, alles überwinden zu können. Aus dieser Erfahrung hatte er das Pulver für den magischen Trank gewonnen, mit dem er sich in schwierigen Stunden gestärkt hat. Und deshalb denkt Per Vittrup an Treibsand, als er im Fraktionszimmer auf Ruhe wartet, das plötzlich so unüberschaubar ist und in dem er von seinem Platz am Vorstandstisch aus jedem Zweifel an seiner Stärke und Autorität entschieden entgegentreten wird. Zum Teufel, als ob es ihm in den Sinn käme, das Ganze hinzuschmeißen. Er wird diese Partei aus der Krise führen, und wenn er das mit den eigenen Händen tun muss.

      Völlig ruhig begegnet er den Blicken seiner Genossen. Ohne zu blinzeln, lächelt er sie verbindlich an, lässt die Augen vor allem auf den Neugewählten und Jüngeren verweilen, zu denen auch die umstrittene Charlotte Damgaard gehört, die zum Ärgernis vieler und zu seiner persönlichen Freude als eine der großen Wahllokomotiven ins Folketing eingezogen ist. Er und Gert sind ihretwegen bereits aneinandergeraten. Er beabsichtigt, ihrem Wunsch, Umweltsprecherin zu werden, nachzukommen, während Gert die Ansicht vertritt, dass sie Schouw diesen Posten anbieten sollten. Mit der Begründung, dass das klug wäre. Auf die gleiche Weise, wie es klug wäre, der Mafia Schutzgeld zu zahlen. Ja, natürlich hat er die Drohung herausgehört, die er sich zu ignorieren entschlossen hat.

      »Liebe Freunde«, sagt er und unterlässt es bewusst, das abgenutzte Wort Genossen zu benutzen. »Wir stehen einer gewaltigen Herausforderung gegenüber, die wir meiner Meinung nach als gewaltige Chance verstehen sollten. Ja, vielleicht als die historische Chance, auf die wir Sozialdemokraten gewartet haben. Denn wer sind wir eigentlich? Und was wollen wir? Was antworten wir den Wählern? Sowohl denen, die uns im Stich gelassen haben, als auch denen, die uns treu geblieben sind? Darf ich daran erinnern, dass wir trotz allem über eine Million Stimmen bekommen haben! Eine Million Dänen, junge wie alte, Männer wie Frauen, haben ihr Kreuz bei uns gemacht. Ihrem Vertrauen müssen wir gerecht werden, dieses Vertrauen dürfen wir nicht enttäuschen!«, sagt er und macht eine rhetorische Pause wie ein Erweckungsprediger, der Raum lässt für das Halleluja der Gemeinde. Doch die einzige Antwort, die von der stark reduzierten sozialdemokratischen Fraktion kommt, ist ein tiefer, hörbarer Seufzer. Da er von Søren Schouw kommt, seinem erklärten Feind, ist das in sich selbst nicht so beunruhigend. Wohingegen es ihn stört, dass so viele in der Fraktion sich ein Lächeln gestatten. Dass sie das wagen. Ihm offen ins Gesicht zu lächeln.

      Zwei Männer stehen in einem Fahrstuhl. Sie stehen so dicht beieinander, dass ihre Schultern sich beinahe berühren. Der eine ist größer und kräftiger als der andere, der dafür die Elastizität eines zum Sprung bereiten Raubtiers hat. Dieser Mann ist der jüngere, auch wenn beide reife Männer sind, die nicht nur jeder für sich, sondern auch zusammen viele Kämpfe ausgefochten haben. Dass ihre Schicksale einige Jahrzehnte eng miteinander verbunden waren, so eng, dass der eine die Voraussetzung für den anderen war, hat zu der fehlerhaften Annahme geführt, dass sie Freunde seien. Enge Freunde sogar. Sie haben sich auch verhalten, wie man es von engen Freunden erwartet – sie haben mehrmals am Tag miteinander gesprochen, konnten ihre jeweiligen Gedanken lesen und waren ohne Mühe imstande, diese in Worte zu fassen. Sie haben sich zusammen betrunken, ihre jeweiligen Affären gedeckt, einander einen Schlips oder einen Rasierapparat geborgt und einander mit langen Haaren gesehen. Sie sind zusammen in der Sauna gewesen, haben die gleichen Lieder gesungen und sich leidenschaftlich von denselben politischen Diskussionen fesseln lassen. Sie haben auf denselben Kongressen Seite an Seite gesessen, haben am selben Rednerpult gestanden und gegen dieselben Gegner gewettert. Dennoch sind sie trotz ihrer eingehenden Kenntnis des jeweils anderen nie Freunde gewesen. Sie haben sich nie voreinander eine Blöße gegeben und sie haben einander nie vertraut. Denn sie haben beide gewusst, dass der Unterschied zwischen der Nummer eins und der Nummer zwei ein entscheidender Unterschied ist. Und sie haben beide gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem diese Machtbalance zum Vorteil des anderen kippen würde. Der Tag, an dem die Symmetrie in ihrem Kräfteverhältnis schief sein würde. Der Tag, an dem der eine geschwächt und der andere mit daraus folgender mathematischer Logik gestärkt sein würde. In der Praxis würde das der Tag sein, an dem die Nummer eins nicht mehr die notwendige Stärke besitzt, ihren Vorrang zu behaupten.

      Und dieser Tag ist jetzt angebrochen. Der eine ist nicht länger Staatsminister, nachdem der Regierungswechsel stattgefunden hat, der andere nicht länger Finanzminister. Natürlich ist der eine formal gesehen noch immer die Nummer eins in der Parteihierarchie, und natürlich hat die Nummer zwei sich noch nicht als Herausforderer geoutet. Doch der Erste kennt das Spiel, und der Zweite weiß, dass der Erste weiß, dass dies die Chance ist, auf die er gewartet hat. Das Entree, das ihn aus den Kulissen hervortreten lässt.

      Zwei Männer stehen in einem Fahrstuhl. Sie stehen so nahe beieinander, dass ihre Schultern sich beinahe berühren. So nahe, dass ihre Gerüche sich mischen – Rasierwasser, Schweiß, Wolle. Vielleicht sind sie in diesem Augenblick die beiden Männer, die sich im ganzen Königreich am meisten zu sagen haben. Doch ohne ein Wort steigen sie wie scheidende Liebende aus dem engen Kasten und gehen jeder in seine Richtung.

      Charlotte Damgaard, die sich zielbewusst durch die Gänge der Burg bewegt, hatte gehofft, dass das Interesse an