Kerzenanzünder zu schaffen. Das angezündete Grablicht stelle ich vor den Stein meines großen Bruders Sonny – »Danke für alles, kleiner Sonny, 9.4.1948 – 20.8.1966« –, und wie immer spüre ich einen Kloß im Hals und muss den Marmorfußball anfassen, für den die alten Kameraden aus seinem Verein Frem gesammelt haben, obwohl er zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr bei ihnen spielte. Er hatte auf dem Gl. Køge Landevej einen Unfall mit seinem neuen Motorrad und war auf der Stelle tot, achtzehn Jahre alt, und dass mein Vater und nicht meine Mutter ihm im Grab Gesellschaft leistet, ist eine der teuflischen Ungerechtigkeiten, die man Schicksal nennt. Denn meine Mutter wünschte sich nichts sehnlicher, als ihrem Sohn zu folgen, je eher, desto besser, während mein Vater sich Tag für Tag weiterkämpfte, verbissen die Melodie der Zeit pfeifend, bis er vor acht Jahren den Löffel abgab und mit Schürze und auf dem Sargdeckel liegender Kutschermütze begraben wurde. Meine gebrechliche Mutter hingegen, die Märtyrerin der Familie, scheint uns alle zu überleben; vermutlich ist sie so mit Medikamenten vollgepumpt, dass nichts sie kleinkriegt. Niller, mein kleiner Bruder, der Bandidos-Rocker, der für einen Skandal sorgte, als er zum Begräbnis meines Vaters in der Rockerlederjacke anrückte, hat dem alten Max die letzte Ehre erwiesen, indem er andächtig ein Starkbier über dem Sarg ausleerte. Eine Handlung, die die Trauernden sozusagen in zwei Parteien teilte. Die, zu denen auch Gert und meine Mutter gehörten, die feine Kaufmannstochter aus Hjørring, die noch nie etwas so Geschmackloses erlebt hat, und die, zu denen meine Vetter und die anderen alten Carlsberg-Kameraden zählten, die laut und befreit gelacht haben. Seitdem besteht Niller darauf, die Tradition fortzusetzen und dreimal im Jahr ein Bier über dem Grab meines Vaters auszuleeren – am Geburtstag meines Vaters, an seinem Todestag und zu Weihnachten. In diesem Jahr sitzt er zufälligerweise in U-Haft im Westgefängnis und kann das Ritual nicht selbst zelebrieren, deshalb muss ich es tun. Das ist das Einzige, worum er mich in all den Jahren gebeten hat. Abgesehen davon, Gert zu verlassen, was er immer verlangt, wenn wir uns ein seltenes Mal sehen oder miteinander telefonieren. Und da ich ihm den Wunsch nicht erfüllen kann, erfülle ich ihm eben diesen.
Also hole ich ein Starkbier aus meiner Tasche, das nach dem Herumrollen in der Tasche überschäumt, als ich es mit dem Flaschenöffner aufmache, der immer in meinem Schminktäschchen liegt.
»Ein richtiges Männerbier!«, höre ich Paps schnaufen, als ich den Schaum vom Flaschenhals sauge. Schon als kleines Mädchen durfte ich einen Tropfen von Vaters Starkbier trinken, und genau wie meine Brüder habe auch ich zum ungeteilten Stolz meines Vaters die Vorliebe des Jensen-Clans für den Hopfen geerbt. Für ihn war das der Beweis, dass auch ich die Familientradition weiterführen und zu Carlsberg gehen würde.
»Ja, Paps, ein richtiges Männerbier«, bestätige ich trocken und leere die Flasche in einer kreisenden, gießenden Bewegung über Grabstein und Bepflanzung aus wie ein Pyromane, der den Tatort mit Benzin übergießt. Anschließend verstecke ich die Flasche unter der hohen, kurz geschnittenen Taxushecke, die dieses Stück Erde umgibt, und erfrische meinen Gaumen mit Aalborg Aquavit. Fröhliche Weihnachten!, proste ich ihnen zu und leere eine kleine Schnapsflasche in kleinen Schlucken, wobei ich mit einer Fingerspitze erst über den einen und dann über den anderen Stein streiche. Ich werde mich nie daran gewöhnen, ihre Namen in Granit gemeißelt zu sehen, doch seltsamerweise habe ich keine Schwierigkeiten damit, meinen eigenen Namen auf dem leeren Platz unter Bierkutscher Max Jensen zu sehen. Aber dieser Platz ist besetzt, dort wird einmal der Name meiner Mutter stehen. Wo werde ich dann hinkommen? Werden sie mich in das Jacobsen-Mausoleum in Frederiksberg werfen? Als zusätzliche Strafe? Alles in allem wäre es cleverer, meine Mutter und mich die Plätze tauschen zu lassen, sodass sie dort draußen zu liegen käme und mit den feinen Leuten Umgang hätte, während ich in Ruhe neben meinem Vater liegen könnte.
Ich glaube, dass auch er das vorziehen würde. Anstatt noch im Jenseits eine Frau mit sich herumzuschleppen, die ihm nie vergeben hat, dass es ihm als schlagfertigem Kopenhagener Matrosen auf einem Flottenbesuch in Aalborg gelungen ist, sie mit seinem Charme zu verführen und damit ihre guten Chancen zunichtezumachen. Sie hätte in der Gesellschaft aufsteigen sollen, nicht absteigen. Und vor allem hätte sie nicht als hart arbeitende Arbeiterfrau in einer engen Wohnung im Kopenhagener Südhafen enden sollen. Dass er auch sie nicht verdient hatte, sondern mit jeder anderen ein lustigeres Leben gehabt hätte, ist ihr seltsamerweise nie in den Sinn gekommen.
»Er schlägt mich«, flüstere ich dem Grabstein zu, den ich rau unter meinen Fingerkuppen spüre. Das habe ich ihm hier draußen schon früher anvertraut, aber er pflegt nur zu antworten, dass ich es, zum Teufel, doch selbst darauf angelegt habe und dass es hin und wieder nötig sein kann, einem widerspenstigen Weib eine zu langen. Davon hat schließlich noch niemand Schaden genommen. Nicht wahr?
Heute bekomme ich keine Antwort, obwohl ich lange warte. Sie scheinen abwartend zu lauschen, mein armer großer Bruder mit der Elvis-Tolle und der Lederjacke und mein Vater Max, der mir neben vielem anderen beigebracht hat, Schusterbillard zu spielen und Männer um den kleinen Finger zu wickeln. Jedenfalls hat es damals funktioniert. »Er schlägt mich richtig hart«, fahre ich fort, um eine Reaktion zu erzwingen. »Wenn das so weitergeht, bringt er mich um.«
Jetzt grollt es da unten, aber er antwortet nicht. Er fragt nur; es ist immer die gleiche ängstliche Frage, die er mir stellt: »Bist du böse auf mich?« Und immer antworte ich wie der Spiegel von Schneewittchens böser Stiefmutter: »Warum sollte ich böse auf dich sein?« Und mein Vater lächelt sein Gustav-Winckler-Lächeln, das kann ich hören, als er wie gewöhnlich hinzufügt: »Wir beide verstehen uns, Lindamädchen. Das haben wir immer getan.«
Ja.
Ein Gartentraktor nähert sich tuckernd; ich richte mich auf und tue, als sei ich ganz normal. Nicht so eine, die die Toten um Hilfe bitten muss. Tausche die kleine Schnapsflasche gegen eine neue aus der Tasche aus und trinke auch die in kleinen Schlucken leer. Dann ist auch dieses Fest vorbei. Ich muss sehen, dass ich nach Hause komme, obwohl ich gern noch bleiben und mich von der immergrünen Vegetation aufsaugen lassen und darin verschwinden würde. Die kleinen leeren Flaschen lege ich ordentlich zurück in die Tasche. Sie werden heutzutage aus Plastik hergestellt, und ich bin kein Umweltschwein.
Es ist rührend zu sehen, welche Mühe sich die Leute mit den Grabstätten ihrer Lieben geben. Man stelle sich einmal vor, so geliebt zu werden, dass die Verbliebenen die Grabstätte mit roten Weihnachtstulpen schmücken, mit Mooskränzen in Herzform, Leuchten in Elfengröße und ganzen Zwergenlandschaften, um das Andenken an die Verstorbenen wachzuhalten. Vielleicht weil es einfacher ist, sich den Toten gegenüber liebevoll zu verhalten als den Lebenden, denke ich mit einem angetrunkenen Hauch von Bitterkeit, als ich an einer Grabstätte nach der anderen vorbeigehe. Einige der Namen erkenne ich im Vorbeigehen wieder – da liegt die Milchverkäuferin, da unser Untermieter, der Fettberg, der so laut gepupst hat, dass wir es oben hören konnten, und da meine Schulkameradin Marianne, die vor zwei Jahren von der Carlsbergbrücke gesprungen ist. Sie war so tüchtig, war Gymnasiallehrerin am Rysensteen-Gymnasium. Ich defiliere an allen vorbei, Bekannten wie Unbekannten, und obwohl ich die Trauer über die Verlorenen wie eine Tür im Durchzug klappern spüre, stapfe ich hölzern weiter. Bleibe erst stehen, als ich fast aus der Abteilung für die gewöhnlichen Sterblichen heraus bin und zu einem frisch ausgehobenen Grab komme, das noch ganz mit Sargschmuck bedeckt ist. Aus dem »letzten Gruß« auf dem Schriftband geht hervor, dass hier ein junger Ehemann, »Mein Geliebter«, und »Paps« liegt. An einigen Kränzen stecken Kinderzeichnungen und in Plastikhüllen Briefe von Thea, Emilia und Matthias, die den Verstorbenen als Engel, Weihnachtsmann oder lächelnden Vater in einer gestreiften Badehose mit einer winkenden Tochter auf jedem Arm und einem kleinen Jungen auf der Schulter darstellen.
Niemand kann mir vorwerfen, eine Heulsuse zu sein, auch Gert nicht, doch hier brechen die Dämme. Die Tränenflut bricht hervor, ich will das nicht, kann mich aber nicht beherrschen, sondern krümme mich in einem gewaltsamen Weinen zusammen, das erst nachlässt, als ich mit zitternden Fingern den Verschluss von der dritten Nur-für-den-Notfall-Flasche geschraubt habe und die augenblickliche, brennende Linderung des Alkohols spüre. Ich schniefe, putze mir die Nase mit einem Papiertaschentuch und wische vorsichtig die zerlaufene Mascara mit einem Zipfel des Tuchs weg. Reiße mich zusammen und setze mich wieder in Bewegung, als der Friedhofsgärtner mit seiner fleecegefütterten Ohrenmütze von seinem Traktor gestiegen ist und mit zielgerichteten, effektiven Bewegungen