hinuntermache, der zugefroren ist und wie ein angelaufenes Silbertablett daliegt, erinnere ich mich wieder an meinen Erzeuger, der immer darauf bedacht war, dass die junge Generation die »großen Sozialdemokraten« wertschätzte. Die Kämpfer, die hier um das idyllische Seeufer zur Ruhe gebettet sind, wo ich mehr als einmal, sommers wie winters, im Gebüsch geküsst worden bin. Vor allem Stauning musste andächtig Ehre erwiesen werden, und auch H. C. Hansen und Hedtoft haben verdient, dass die Herren die Kappen abnehmen. Krag dagegen war schon zweifelhafter, und Hækkerup hat seinen Ruhm verspielt. Aber Grabsteine haben sie auch bekommen, gekauft und bezahlt von der Sozialdemokratie, und sogar ihre Frauen sind hier bestattet. Wenn Krag, Gerts Vorbild, sein Privatleben im Griff gehabt hätte, wären auch Gelder der Partei geopfert worden, Frau Krags Namen eingravieren zu lassen. Jetzt liegt er seltsam allein da, wie ein Single auf einer Veranstaltung für Paare. Genau in dem Augenblick, als ich mir Krags Initialen, J. O. – Jens Otto –, ansehe wird es mir klar. Um was es eigentlich geht. Für Gert und Per V. und all die anderen. Klar in der ganzen jämmerlichen Einfachheit. Derjenige zu sein, dem ein Denkmal gesetzt wird. Derjenige, der einen Platz hier unten im ersten Rang am Roten Meer bekommt. Eine VIP-Grabstätte mit einem Kranz zu Weihnachten; sie alle haben so ein von der Partei gesponsertes Moosteil bekommen, stelle ich fest, und einen Platz in den Geschichtsbüchern. Und wenn ich mich ordentlich benehme und zusammenreiße, kann ich nicht nur die First Lady werden; als Frau meines berühmten Mannes wird es mir erlaubt, ewig um meine eigene Achse zu rotieren. Frau Staatsminister. Das ist doch was. Ich hätte darauf angestoßen, hätte ich den mitgebrachten Proviant nicht bereits geleert. Die drei kleinen Schnapsflaschen sind die gesamte Tagesration. Ich habe meinen Verbrauch rationiert; morgen kommt Ole-Stig, und er soll mich nicht durch die Gegend torkeln sehen.
Ich schlage den Pelzkragen hoch und ziehe die Handschuhe an. »Ewig besitzt man nur das Verlorene«, flüstert mir einer der Kämpfer mit feierlichem Pathos zu. Ja, daran hätte er früher denken sollen. Da hat Thad Jones’ Motto schon mehr zu bieten: Live Life This Day. In meinem überspannten Gehirn wird diese Ermahnung zu einem Trompetensolo für Frauen, die – Friedhöfe – zu sehr lieben, und ich eile hastig weiter zum Ausgang bei der Kapelle, während ich, ohne stehen zu bleiben, die Zigaretten aus der Tasche fische. Ich höre Stimmen. Bin verrückt, wie er sagt. Doch die Schneeflocken, die langsam auf mich herunterfallen, als ich den ersten Zug nehme, sind wirklich. Und so, wie mein Leben sich entwickelt hat, sind selbst ein paar Schneeflocken zwei Tage vor Weihnachten ein gutes Zeichen. Etwas, das mich fröhlich macht und zum Lächeln bringt, einfach so.
Es ist seine verdammte Schüchternheit, die ihn zögern lässt. Als er sich endlich zusammenreißt, um ihren Namen zu rufen, ist sie in einem Schneeschleier verschwunden. Dafür weiß er jetzt, wo er sie mit langen, wiegenden Schritten Richtung Kapelle gehen sieht, endgültig, dass es wirklich Linda war, die er vorhin im Urnenhain gesehen hat. Seine Linda von damals. Linda Lykke, die Glückliche, an die er jedes Mal denkt, wenn er die Grabstätte ihrer Familie in Ordnung bringt und sie nahezu aus den Gräbern zu ihm herauszuspringen scheinen. Lebendig. Sonny und Max. Sonny auf seinem Motorrad, mit dem Stahlkamm, der aus der Tasche seiner Lederjacken guckt, und Max, warum auch immer, mit einem Würfelbecher in der Hand unten im Las Vegas sitzend. Eigentlich ungerecht, dass gerade dieses Bild hängen geblieben ist. Denn so oft ist er nicht ins Wirtshaus gegangen, der alte Max, und so viel gewürfelt hat er auch nicht. Aber er muss in diesem Moment etwas Lustiges gesagt haben, da er ihm so in Erinnerung geblieben ist. Vielleicht war es aber auch Linda, die die Zeit hat stillstehen lassen. Vielleicht hat sie gerade eine ihrer gescheiten Bemerkungen von sich gegeben. Vielleicht hat sie genau in diesem Augenblick fest seinen Oberschenkel gedrückt oder die Beule in seiner Hose mit ihren langen, schnellen Fingern unter dem Tisch gestreift, die überall und nirgends zugleich sein konnten.
Bjarne war verrückt nach Linda, wer war das nicht. Der ganze Südhafen konkurrierte darum, Linda ins Enghave-Kino einzuladen, bei der Tombola auf dem Mozarts Plads Rosetten für sie zu schießen, sie auf getunten Mopeds zur Bavnehøj-Schule zu bringen oder abzuholen und ihr in der Engelbert-Petersen-Konditorei Kuchen zu kaufen. Die Frühreifsten luden sie sogar in den Vergnügungspark Bakken ein oder – was auch vorkam – ins feine Tivoli. Doch der Unterschied zwischen Bjarne und den anderen Jünglingen war der, dass er sie geliebt hat. Alles an ihr hat er geliebt. Ihr lautes Lachen, ihr schiefes Lächeln und ihre Tollkühnheit. Er hat sie geliebt, weil sie ein kluger Kopf war. Weil sie dem Teufel ein Ohr abquatschen und wiederum ganz still sein konnte. Weil sie ihn, Bjarne, verstand, obwohl er sich nicht richtig ausdrücken konnte. Jedenfalls nicht mit Worten. Er hat sie geliebt, weil sie Sonnys kleine Schwester war. Na schön, auch weil sie eine flotte Biene war und keine Angst hatte, das zu zeigen. Seit er zwölf war, hat er sie heiraten wollen, und seit er siebzehn war, waren sie zusammen. Ein Jahr oder zwei war er im siebten Himmel, wie man so sagt. Aber dann ... ja, was dann? Das ist die LP, die sich seitdem auf seinem Plattenteller dreht, mit dem Tonabnehmer immer in derselben Rille. Was ist da passiert? Warum hat er sie verloren?
Bjarne holt eine senffarbene Schnupftabakdose aus der Außentasche seines Blaumanns und klemmt sich einen Klumpen Schnupftabak unter die Oberlippe. Eine Angewohnheit, die er aus den nordschwedischen Wäldern mitgebracht hat, in denen er als Waldarbeiter gearbeitet und sich allzu viele Jahre Gedanken gemacht hat, ohne der Antwort sonderlich näher gekommen zu sein. War es Sonny oder war es die Abtreibung? Dass diese beiden Dinge nicht voneinander getrennt werden können und entweder zusammen oder jedes für sich entscheidend waren, das hat er längst begriffen. Doch obwohl er das Rechenexempel immer wieder und aus immer wieder unterschiedlichen Perspektiven aufmacht, kommt er nie zu einem Schluss, an den er selbst glauben kann. Alles ist leicht und unkompliziert bis zu diesem Augusttag 1966, an dem Sonny gegen einen Laternenpfahl fährt. Er und Linda sind zusammen; sie sitzt hinten auf seinem Motorrad und schmiegt sich eng an ihn, die Arme um seine Taille, während er, Sonny und die anderen Jungen am Samstagabend ihre Paradefahrt die Vesterbrogade auf und ab machen. Lindas Röcke werden immer kürzer, ihre Haare immer länger und seine Lust auf sie immer größer. Doch obwohl sie so kess tut und ihn absichtlich scharf macht, darf er nicht. Nicht »das Freche«. Sie tauscht gern Zungenküsse mit ihm und tanzt eng mit ihm und lässt ihn seinen Unterleib gegen ihren pressen, wenn sie zu Are you Lonesome Tonight knutschen, doch obwohl er sich ein Jahr lang mit Haken und Hüfthalter abmüht, hält sie die Beine fest geschlossen. Sehr viel fester, als manche meinen. Denn der ganze Südhafen glaubt, dass er es von morgens bis abends mit Linda treibt. Und sie lässt sie natürlich in dem Glauben, aber eigentlich macht das alles nur noch schlimmer. Zuletzt ist er so verzweifelt, dass er ihr einen Antrag macht. Ihr vorschlägt, sich mit ihm zu verloben. Falls es das ist. Doch das will sie auch nicht. Sie lacht nur und sagt, dass er die Ruhe bewahren soll.
Sonny, dem er als Einzigem seine Qualen anvertraut, lacht ihn aus und sagt, dass ihr Lindamädchen eben nicht »so eine« ist. Denn Linda ist schlau. Im Gegensatz zu so vielen anderen ist sie sich durchaus darüber im Klaren, was es für den Marktwert bedeutet, einen Ruf als »abgelutschtes Bonbon« zu haben. Außerdem ist sie nicht der Typ, der mit sechzehn schwanger wird. Linda hat Mumm, sie wird studieren und all das. Sonny sagt das nicht direkt. Aber auf die eine oder andere Weise schwingt eine Warnung in dem kameradschaftlichen Lachen mit. Wie ein im Stahlkamm verstecktes Sprungmesser. Er darf nicht zu weit gehen mit Linda. Sie ist ihr Mädchen. Sonnys und Max’.
So wartet er diesen ganzen Sommer, ohne zu wissen worauf. Darauf, dass Linda erwachsen wird, vielleicht. Sie braucht nur noch ein Jahr bis zum Realschulabschluss, und ein Jahr hat schließlich nur dreihundertfünfundsechzig Tage – und Nächte! –, sagt er sich. Aber was, wenn sie bis zum Abitur warten will? Das sind noch weitere drei Jahre! Und wem sie da alles begegnen kann! Auf so einem Gymnasium. Wird sie ihn überhaupt noch beachten, wenn sie erst so weit gekommen ist? Obwohl er seine Lehre als Schlosser bald beendet und einen festen Job bei B&W hat?
Vermutlich erinnert er sich falsch, doch in seiner Erinnerung ist es ein besonders warmer und schwüler Sommer, in dem der süßliche Gestank des Hopfens über der Brauerei hängt. Sie hat einen Sommerjob drüben bei Carlsberg bekommen, arbeitet im Dreischichtbetrieb in einer der neuen Kolonnen in der neuen Zapfhalle, wo sowohl seine wie auch ihre Mutter die Bierkästen kontrollieren. Doch während die älteren Frauen immer müde sind und sich grau und erhitzt aus dem Tor schleppen, ist Linda verblüffend frisch, ob er sie nun um sechs nach der Nachtschicht abholt oder nach der Abendschicht um zweiundzwanzig