befreite sie sich selbst. Noch einige über und über mit Schnee bedeckte Gestalten wurden sichtbar. Kevin, ein schlaksiger Fünfzehnjähriger, riss an seinem Schlitten, unter dem Lukas und Kati zum Vorschein kamen. Finn humpelte an die Seite und kämpfte mit den schneeverkrusteten Schnürsenkeln seines Schuhs.
»Alles in Ordnung?«, fragte Michael besorgt.
»Ja, geht schon«, meinte Finn mit schmerzverzerrtem Gesicht. Alle standen um ihn herum und gaben gute Ratschläge oder erfreuten die Anwesenden mit Geschichten ihrer eigenen Bänderrisse, Verstauchungen und Knöchelbrüche.
»Hey, alles klar bei dir?« Bastian reichte Finn die Hand und zog ihn hoch, doch sobald er aufrecht stand, stieß Finn ihn mit beiden Händen vor die Brust.
»Du Idiot! Das warst du!«
Bastian taumelte nach hinten. Im nächsten Moment stand Philipp vor seinem Anführer und zückte ein Messer.
»Das gibt’s doch nicht!«, schrie Finn. »Er hat ein Messer!«
Alle wichen erschrocken zurück. Nur Michael blieb stehen.
»Steck es weg«, sagte er streng. »Keine Waffen.«
Mittlerweile hatte Bastian sich aufgerappelt. »Er hat recht«, sagte er zu Philipp. »Tu es weg. Das war nichts.«
Daniel hatte die Luft angehalten. Zu deutlich erinnerte er sich daran, wie empfindlich sein Freund früher gewesen war, wenn jemand seine Ehre verletzte.
»Weg damit! Wird’s bald! – Keine Panik.« Bastian lächelte beschwichtigend in die Runde. »Alles unter Kontrolle.«
»Das war’s dann jetzt wohl endgültig.« Der Obergoliath, wie Miriam ihn so gerne nannte, gab das Zeichen zum Aufbruch. »Raclette und Punsch zum Aufwärmen, wisst ihr noch? – Kannst du gehen, Finn? Es ist doch hoffentlich nichts gebrochen?«
Finn warf Bastian einen bösen Blick zu. »Ich glaub nicht«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
»Das war keine Absicht.« Michael versuchte wie immer alle zu besänftigen. »Und das nächste Mal«, sagte er zu Philipp, »kannst du ruhig unbewaffnet kommen. Wir beißen nicht.«
»Nächstes Mal?«, knurrte Finn. »Ich fass es nicht. Die sollten alle Hausverbot bei uns kriegen.«
Daniel reichte Finn die Hand. »Komm, bis zum Parkplatz schaffst du’s. Setz dich auf unseren Schlitten. Ich schätze, das ist der einzige, der noch einigermaßen heile ist.« Zum Glück war ihr Gefährt nicht an der Massenkarambolage beteiligt gewesen.
»Ich helfe dir.« Bastian tauchte neben ihm auf und griff nach dem Strick.
»Wir können ihn auch tragen«, bot Jackson an.
»Nein danke!« Finn war immer noch sauer, er lehnte das Friedensangebot ab.
Bastian ließ sich nicht beirren. Er zog sein Opfer zum Parkplatz und stellte die Ohren auf Durchzug.
»Und dann hat der Schlitten sich mitten auf der Bahn quergestellt und wir konnten nicht bremsen ...«, erklärte Tine, die hinter ihnen ging, allen, die es hören wollten. »So etwas musste ja passieren.«
»Du hältst auch alles und jedes für ein göttliches Strafgericht, was?«, meinte Miriam.
»He, Mädels, vertragt euch«, sagte Daniel. Er legte den Arm um Miriams Schultern, und sie versenkte ihre eiskalte Hand in seiner Jackentasche. »Nicht streiten«, bat er leise. »Was sollen denn unsere neuen Freunde von uns denken?«
Ihre Wangen färbten sich glühend rot. Wenn Miriam sich mit Tine vertrug, dann würde das ein ebenso großes Wunder sein wie seine Freundschaft mit Bastian.
4.
»Das geht zu weit«, sagte Finn. »Michael hätte gar nicht erst zulassen dürfen, dass diese Asis mit dabei sind.«
»Er gibt halt jedem eine Chance«, meinte Daniel.
Im Wartezimmer der Notaufnahme war es voll. Offenbar hatten auch andere wenig Glück beim Wintersport gehabt.
Finn senkte die Stimme. »Sie sind gefährlich. Ich weiß es. Du erst recht. Nur Michael will es einfach nicht wahrhaben. Was, wenn beim nächsten Mal jemand ernsthaft verletzt wird?«
»Dass ein paar Schlitten zusammengestoßen sind, kannst du nicht Bastian ankreiden.«
»Du weißt, was ich meine.«
Natürlich wusste Daniel es. Unbehaglich starrte er auf den Fußboden.
Eigentlich hatte Michael Finn zum Arzt fahren wollen, doch dieser hatte sich geweigert. Er hatte die Ablehnung mit einem Witz kaschiert – »Nichts für ungut, aber du neigst nun mal zu Auffahrunfällen, du bist Stammkunde in unserer Autowerkstatt«, – doch es ging natürlich um viel mehr. Finn bestand darauf, nach Hause gebracht zu werden, bis Sonja ihn davon überzeugte, dass er ins Krankenhaus gehörte. Ihre Mutter, die dort arbeitete, hatte heute sogar Dienst; wenn er Glück hatte, würde seine eigene Tante ihn verarzten. Das gab den Ausschlag, und Finn hatte sich schließlich bereit erklärt, sich von seinem Freund Willi ins Krankenhaus bringen zu lassen. Doch da dieser keine Zeit hatte, mit ihm zu warten, war Daniel ebenfalls mitgefahren. Auch um Sarah kurz zu besuchen. Nun bereute er das fast, denn Finn steigerte sich immer mehr in seine Wut hinein.
»So wie ich Michael kenne, wird er sie trotzdem wieder einladen. Wenn wir gleich zum Raclette kommen, sind sie alle da und grinsen uns an, wetten? Dabei haben sie sich Hausverbot verdient, im Ernst. Was ist mit den Mädchen? Ist denen zuzumuten, mit einem Messerstecher am Tisch zu sitzen?«
»Bastian ist in Ordnung«, sagte Daniel.
»Würdest du deine Hand für ihn ins Feuer legen?«, wollte Finn wissen. »Diese Typen sind bloß auf Ärger aus. Die haben garantiert keine Lust, Anbetungslieder zu singen und über die Hochzeit in Kana zu diskutieren. Wir sollen offen für andere sein, aber du weißt am besten, dass es nicht so einfach ist, Daniel. Die sind nicht wie wir. Die würden noch auf jemanden eintreten, der bereits am Boden liegt.«
Daniel konnte ihm nicht widersprechen. Beim letzten Mal war er derjenige gewesen, der am Boden lag.
»Michael begreift es nicht«, flüsterte Finn. »Ich brauche eine Waffe ... um die Mädchen zu beschützen, falls nötig.«
»Weißt du, warum sie mich damals fertiggemacht haben?«, fragte Daniel. »Aus demselben Grund. Für die Mädchen. Das ist ziemlich nach hinten losgegangen. Vergiss es, Finn. Wir wollen keinen Krieg. Wir haben die Gelegenheit, ihnen etwas zu zeigen – wie man ein anderes Leben führen kann. Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass das gefährlich sein kann. Ein paar von denen waren sogar schon im Knast. Aber wenn sie zu uns kommen, werden sie sich zusammenreißen.«
»Wir sollten ... wachsam sein.«
»Finn Erlmeyer?« Eine freundliche Stimme rief seinen Namen auf. Endlich hatte das Warten ein Ende.
»Ich bin dran.« Finn humpelte zur Tür. Das Letzte, was von ihm zu hören war, war der freudige Ruf: »Tante Erika!«
Und Daniel machte sich auf den Weg zu Sarahs Krankenzimmer, wo seine Eltern stumm an ihrem Bett saßen.
Als wir uns später, umgezogen und wieder aufgewärmt, zum Raclette im Gemeindehaus treffen, trägt Finn einen Verband um den Fuß, doch er ist wieder gut gelaunt. Während wir anderen Stühle schieben, Tisch decken und die Sachen fürs Raclette auf Schälchen verteilen, drückt Michael ihm ein Liederbuch in die Hand. »He, du Pfadfinder, eine gute Tat für dich: Such schon mal die Lieder raus, die wir später singen.«
Tine kommt strahlend in den Gruppenraum getänzelt. Was ist denn mit der los? Ich starre sie fassungslos an, überwältigt von der Erkenntnis, wie viele verschiedene Gesichter die Menschen haben. Kann es sein, dass