Franziska Dalinger

Narzissen und Chilipralinen


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mir ins Gewissen, obwohl ich viel mehr Lust hätte, mit den anderen Mädels was zu unternehmen, als mich dem deprimierenden Anblick kranker Leute auszusetzen. Aber ich hab’s ihm versprochen. Ich kann doch nicht einfach trotzdem zu Mandy fahren und Musik hören und quatschen. Obwohl ... wir könnten zusammen Hausaufgaben machen, wie in alten Zeiten.

      Die Versuchung ist ziemlich groß. Fast zu groß, um ihr nicht nachzugeben, vor allem, da ich einen triumphierenden Blick von Kim auffange.

      Ein paar Tische weiter sitzt Rosi und wagt ein schüchternes Lächeln. Das gibt mir Mut. Selbst wenn ich Mandy verlieren sollte, sind da noch andere, die mich mögen. Den Zwang, mit jemandem befreundet zu sein, nur weil er oder sie angesagt ist, habe ich abgeworfen, schätze ich.

      »Nun, wie läuft’s mit deinem Kreuzritter?«, fragt Kim. Sie kann es nicht lassen, mich zu ärgern.

      »Gut«, sage ich kühl. »Warum auch nicht? Nicht jeder glaubt die Scheiße, die du überall rumerzählst.«

      »Mann, du warst so besoffen, du konntest kaum geradeaus gehen.«

      »Das stimmt«, sagt Mandy. Wieso fällt sie mir in den Rücken, ausgerechnet jetzt? »Du hast ein paar von diesen fiesen Cocktails gekippt, ich war dabei, schon vergessen?«

      »Warum hast du mich nicht gewarnt?«

      »Warum sollte ich?« Sie zuckt mit den Schultern.

      »Na gut. Aber deshalb ist die andere Sache längst nicht wahr. Ich hab mich bloß mit ihm unterhalten.«

      »Das sah aber anders aus, als ihr euch beide im Schnee gewälzt habt.«

      Mandys Augen werden groß. »Messie! Das hätte ich jetzt echt nicht von dir gedacht. Und ausgerechnet Tom! Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten.« Jetzt ist sie ernsthaft sauer. Tom hat ihr den Laufpass gegeben und nun soll ihn keine andere haben. Wie doof ist das denn? Nicht dass ich ihn will, aber trotzdem.

      »Wo hast du ihn eigentlich versteckt?«, fragt Kim.

      »Wen?«

      »Tom. Er ist nämlich verschwunden, seit dieser Party hat ihn kein Mensch mehr gesehen. Schläft er unter deinem Bett?«

      Ich kann nicht so recht fassen, was ich da höre. »Er ist weg? Wie, weg? Seit«, ich rechne kurz nach, »seit zehn Tagen?«

      Vielleicht ist er doch betrunken gefahren. Und hatte einen Unfall. Und liegt mitsamt Auto im Straßengraben. Aber dann hätte man ihn doch längst gefunden. Selbst wenn er zu Fuß unterwegs gewesen wäre und in einen Graben gefallen wäre, hätte man ihn mittlerweile aufgespürt, tot oder lebendig. Und falls nicht, hätte es in der Zeitung gestanden, dass ein Schüler vermisst wird, oder nicht?

      »Sobald die Schule vorbei ist, taucht er ab. Das sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich.«

      »Das ist ja schräg«, sage ich erleichtert. Also keine Leiche im Straßengraben. Wäre echt schade um den schönen Tom gewesen. »Willst du mich besuchen und im Kleiderschrank nachsehen, Kim?«

      Die Pause ist zu Ende, die Dogge stürmt ins Klassenzimmer und knallt einen dicken Papierstapel aufs Pult.

      Mandy setzt sich neben mich. Auch wenn wir noch weiterreden könnten, würde sie nicht mit mir sprechen. Sie beugt sich über ihr Heft und zeigt mir die kalte Schulter.

      In der Klinik war es kühl, Licht und Geräusche gedämpft. Miriams Gesicht hatte eine ungesunde blasse Farbe angenommen. Vielleicht erinnerten sie der Geruch und die Atmosphäre an ihren eigenen Aufenthalt hier.

      »Sie sieht dir total ähnlich«, flüsterte sie.

      Das stimmte, auch wenn Sarah überhaupt nicht wie sie selbst wirkte, so krank und bleich. Dasselbe Blond.

      »Unsere Eltern haben immer behauptet, wir hätten sogar das gleiche Lächeln«, sagte Daniel. »Als sie noch lächeln konnte.«

      Er wandte sich seiner Schwester zu und begrüßte sie. »Das ist Miriam. Meine Freundin. Ich hab dir am Telefon von ihr erzählt, weißt du noch? Ich bin mir sicher, dass du sie mögen wirst.«

      »Äh ...«, sagte Miriam, »glaubst du, sie hört dich?«

      »Davon gehe ich aus.« Er setzte sich an die Bettkante und nahm Sarahs kühle, schlaffe Hand in seine. »Sie ist froh, dass du hier bist.«

      »Leider ist sie zu bewusstlos, um ihre Begeisterung zu zeigen.« Miriam stand unschlüssig herum und betrachtete den Fuß, der aus der Bettdecke herausragte und an einem komischen Gestell befestigt war. »Was ist denn mit ihrem Bein?«

      »Ein komplizierter Bruch«, erklärte er. »Aber wir sollten in ihrer Gegenwart nicht über ihre Verletzungen sprechen.«

      »Alles klar«, flüsterte Miriam. »Ich schätze, ich sollte euch beide mal kurz allein lassen. Ich bin nicht so gut darin, mit Komapatienten zu reden. Gibt es hier einen Aufenthaltsraum oder so was?«

      »Den Gang runter und dann links.«

      »Bis gleich«, flüsterte sie.

      Er hielt sie nicht zurück, denn ihm war klar, wie schwer Sarahs Anblick zu ertragen war.

      »Wenn du gesund bist, unternehmen wir was zusammen. Sie ist sonst nicht so, echt nicht. Aber jetzt gibt es erst mal Livemusik. Fehler inklusive. Sei bitte nicht zu streng mit mir.« Er holte seine Gitarre aus dem Koffer und begann zu spielen. Vielleicht half es Sarah nicht, aber ihm schon. Die Musik tröstete und beruhigte ihn, und als er die Gitarre weglegte, dachte er: Was auch kommt, ich bin bereit.

      Danach saß er eine Weile still an ihrem Bett. Wie spät war es eigentlich? Miriam wartete bestimmt schon.

      Auf dem Gang war sie nicht. Stimmt, der Aufenthaltsraum. Er lenkte seine Schritte dorthin und warf einen Blick durch die Scheiben.

      Sie saß auf der anderen Seite, vor dem Fenster. Und neben ihr saß Tom.

      Daniel wollte schon mit einem freundlichen »Hi, wie geht’s?« eintreten, als er bemerkte, dass die beiden nicht einfach nebeneinander saßen. Er blinzelte, aber das Bild blieb dasselbe.

      Sie hielten Händchen.

      Er zwinkerte.

      Sie hielten immer noch Händchen.

      In diesem Moment schaute Miriam hoch, erblickte ihn und zuckte ertappt zusammen. Sie sagte noch etwas zu Tom, dann kam sie zu Daniel. Sie musste an zwei, drei niedrigen Tischchen vorbei, auf denen Wasserflaschen und Becher bereitstanden. An der lachenden Gruppe vorüber, in deren Mitte ein Mann mit Gipsbein saß. Die Strecke zwischen ihnen schien endlos lang.

      Dann war sie da, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass sie ihn überhaupt nicht erreichte. Sie schwieg. Er auch. Auf einmal waren sie beide wie Komapatienten. Keiner von ihnen konnte reden. Daniel konnte nicht einmal mehr atmen.

      Oh meine Sonne,

       ich fürchte, ich habe dich erschreckt mit meinem letzten Brief. Das tut mir leid. Ich würde niemals etwas tun, was dich irgendwie verletzt oder dir wehtut. Du bist so schön, ich möchte dich auf Händen tragen. Tag und Nacht denke ich nur an dich. Dass du mir ausweichst, kann ich durchaus nachvollziehen. Diese Gefühle sind so neu und groß, dass sie mich selbst fast erschlagen. Es ist alles anders geworden, die Welt hat aufgehört, sich um sich selbst zu drehen. Alles dreht sich nur noch um dich ... Bitte, denk darüber nach. Lass uns wenigstens darüber reden. Das kannst du doch für mich tun? Mir in die Augen sehen und sagen, dass du nichts für mich empfindest? Könntest du das, ohne zu lügen?

      Ich glaube nicht, dass wir die Liebe einfach ignorieren dürfen, denn sie ist ein Geschenk Gottes. Sie ist eine Gabe des Himmels. Es kommt mir so vor, als wärst du direkt vom Himmel, ein Engel, der auf dieser Erde wandelt, um mein Leben zu ändern. Ich bin überwältigt von Gottes Güte, der es so gefügt hat, dass wir uns kennen und alles so gut passt.

       Meinetwegen können wir gleich morgen über alles reden, oder was denkst du?