murrte ich zerknirscht. »Betonung auf richtige.«
»Vielleicht kannst du ihn beim Back-to-School-Ball doch noch erlösen«, entgegnete Leona.
»Hast du vergessen, dass er mit Megan hingeht?«
»Na und? Ich komm übrigens gleich nach dem Joggen bei euch vorbei.«
Langsam rappelte ich mich auf, während Leona weiterkeuchte: »O Mann, ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Es ist so aufregend und cool! Heute erfahre ich das Ende. Kannst du dir das vorstellen? Darauf warte ich seit zwei Jahren!«
Ich kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Welches Ende? O Gott, das Ende!
»Scheiße, Leo, sorry, aber ich muss jetzt sofort runter in den Laden. Also wenn du mich suchst, ich bin dort. Bis später!«, rief ich und pfefferte das Handy in hohem Bogen auf mein Kissen. Dann presste ich die Hände vor mein Gesicht und quiekte einmal laut: »Ahhhh!«
Mist. Mist. Mist. Heute war dieser verdammte Tag und ich war noch nicht unten in der Buchhandlung. Mit einem Schlag war die Müdigkeit verflogen. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und trat dabei mit dem nackten Fuß direkt auf die Kante eines am Boden liegenden Buches. Autsch. Das fing ja wirklich gut an. Warum hatte ich mich auch darauf eingelassen, für ein bisschen zusätzliches Taschengeld bei meinem Vater im Laden mitzuhelfen? Aber ich wollte Pa nun mal nicht im Stich lassen, nachdem seine zickige Aushilfe Philippa wieder einmal krank war. So wie jedes Mal, wenn wichtige Dinge bevorstanden.
Diese Sache heute Abend war sogar verdammt wichtig. Pa drehte seit Wochen völlig am Rad, weil die berühmte Bestsellerautorin Hannah Ruderer ausgerechnet in seiner kleinen Buchhandlung ihren neusten Fantasykitsch vorstellen würde. Ich hatte ja wirklich keinen blassen Schimmer, wie es dazu gekommen war, denn bei Bücher Grünwald handelte es sich eigentlich nicht um einen dieser Läden, in denen normalerweise große Events stattfanden. Dafür war der Laden viel zu winzig, altmodisch … unbedeutend. Pas Geschäft lebte vor allem von treuen Stammkunden und Touristen, die sich auf der Suche nach Briefmarken (obwohl Pa die gar nicht verkaufte) durch die Eingangstür verirrten.
Doch heute war alles anders. Hannah Ruderer las nämlich nicht aus irgendeiner ihrer Geschichten vor, sondern aus dem heiß ersehnten finalen Band der seit Monaten gehypten Fantasytrilogie Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Die Meute würde uns also heute Abend die Bude einrennen. Mir graute jetzt schon davor!
Das lag nicht nur daran, dass ich grundsätzlich nicht besonders gerne im Laden aushalf – jeder, der meinen Vater schon einmal bei der Arbeit erlebt hatte, verstand das –, ich konnte die Begeisterung für diese kitschigen Romane einfach nicht nachvollziehen.
Alles drehte sich darin um den blonden Lackaffen Phil Brandfair, einen adeligen Zeitreiseschnösel aus dem britischen Sussex des neunzehnten Jahrhunderts, der mithilfe des Wandschrankes seines Opas eines Tages im einundzwanzigsten Jahrhundert landet – genauer gesagt, direkt im Zimmer des ahnungslosen Au-pair-Mädchens Esmeralda. Sie ist auf dem riesigen Landhaus der stinkreichen Familie Brandfair (Phils Nachfahren) dafür zuständig, sich um die dreijährigen Teufelsbraten William und Dorian zu kümmern. Ungefähr zehn Seiten später sind Phil und Esmeralda unsterblich ineinander verliebt, gäbe es da nicht ein Riesenproblem: Vinzenz, Phils hinterhältiger Ziehbruder, der ebenfalls über die besonderen Fähigkeiten dieses Wandschrankes informiert ist. Schlimmer noch, wie es sich für einen echten Fiesling gehört, setzt er alles daran, Phil die wunderschöne Esmeralda auszuspannen. Außerdem will er der mächtigste Zeitreisende der Welt werden, weshalb er Phil erst einmal aus dem Weg schaffen muss. Und das war es auch schon. Sehr viel mehr Handlung gab es nicht. Doch mit seinen blauen Augen, coolen Machosprüchen und vor Kitsch triefenden Liebesbekundungen brachte Phil auch ganz ohne Tiefgang tagtäglich Tausende von lesewütigen Mädchenherzen zum Schmelzen – eines dieser Herzen gehörte leider Leona.
Für einen Phil aus Fleisch und Blut hätte sie alles gegeben. Seitdem der erste Band erschienen war, erzählte sie mir ständig, dass ihr einzig wahrer, heiß ersehnter Mr Right genau diese Art Junge sein müsse. Blond, groß, muskelbepackt, strahlend blaue Augen und natürlich im Idealfall auch noch ein britischer Lord mit irgendwelchen magischen Fähigkeiten. Eine ziemlich verfahrene Sache, weil Phil nun einmal eine Romanfigur war und Pickel-Tommy aus der Schule, der Leona ungefähr seit der sechsten Klasse anhimmelte, diese Anforderungen nicht einmal annähernd erfüllte. Auch wenn ich verstand, dass Leona nicht scharf drauf war, herauszufinden, wie sich eine Zahnspange beim Rumknutschen anfühlte, hatte ich manchmal ein bisschen Mitleid mit Tommy. Besonders, wenn er Leo wieder einmal bereitwillig die Mathehausaufgaben zum Abschreiben zusteckte oder ihr die Schultasche trug. Kurz vor den großen Ferien hatte er sie sogar gefragt, ob sie im Herbst mit ihm auf den Back-to-School-Ball gehen würde. Allerdings war das ein wirklich schwacher Moment gewesen, nämlich fünf Minuten nachdem Leona ihre versiebte Matheklausur zurückbekommen hatte, weshalb ihr ein genuscheltes »Okay« über die Lippen gerutscht war (sie wollte ihm nicht das Herz brechen, immerhin gab er ihr gratis Nachhilfe).
Pickel-Tommy war aber allemal besser als gar keine Begleitung! Damit versuchte ich sie schon die ganzen Ferien hindurch zu trösten. Traurig war nur, dass ich diejenige war, auf die genau das zutraf, weil ich völlig unnötig auf Jonas’ große Frage gewartet hatte. Der hatte mir nur Blätter aus meinem Collegeblock geklaut und mich in der Bushaltestelle auf die Wange geküsst, um eine Woche später mit Megan Jonson (dem Mädchen mit dem hollywoodreifen Namen, dem amerikanischen Vater und alljährlichen Flugreisen zu ihren Großeltern nach Kentucky) in der Eisdiele rumzumachen. Dabei hatte er sie sogar mit Erdbeeren gefüttert … MIT DEM MUND. Am Ende blieb mir also nichts von Jonas außer Quarks, dem Frosch auf dem Handy.
Ich hetzte ins Badezimmer, spritzte mir kaltes Wasser in mein sommersprossiges Gesicht und versuchte den schulterlangen, fuchsroten Wirrwarr auf meinem Kopf in einen streng geflochtenen Zopf zu bändigen. Mit mäßigem Erfolg, meine Haare machten immer nur, was sie wollten – was leider bedeutete, dass sie mich heute wie eine wild gewordene Räubertochter aus dem Wald aussehen ließen. Manchmal waren diese roten Haare und die vielen Sommersprossen wirklich eine Strafe, aber immerhin erinnerten sie mich an Mama. Sie war gestorben, als ich erst zwei Jahre alt gewesen war. Bis auf die haselnussbraunen Augen, die ich von Pa hatte, sah ich ihr zum Verwechseln ähnlich.
In der Küche begrüßten mich eine leere Packung Cornflakes und saure Milch. Großartig. Damit fiel heute also auch noch das Frühstück ins Wasser. Was für ein Katastrophentag!
Die Krönung war dann aber definitiv der stuntreife Sturz über die Wendeltreppe, die unsere Wohnung direkt mit der Buchhandlung verband. Als wäre das nicht schlimm genug gewesen, endete meine Flugbahn auch noch unmittelbar vor den perlmuttfarben lackierten Fußnägeln der Spinatwachtel, Pas treuster Stammkundin. So hieß die natürlich nicht wirklich, aber wegen ihrer giftgrünen Klamotten und der komischen Vogelnestfrisur hatte ich ihr irgendwann mal diesen Codenamen verpasst.
Die Spinatwachtel kaufte sich gerade einen Roman mit dem Titel »Die flammende Lust des Highlanders« (oder so ähnlich) und fragte mich allen Ernstes, ob eine Vierzehnjährige nicht zu alt für lustige Rutschpartien auf dem Geländer wäre. Dann faselte sie irgendwas von Erwachsenwerden und Pippi Langstrumpf, während sie Giacomo Casanova – ihren Langhaar-Chihuahua mit einem Stammbaum, der sich laut Spinatwachtel bis in die tiefsten Tiefen des dunklen Mittelalters zurückverfolgen ließ – von einem Arm auf den anderen wechselte.
Leider sprudeln einem die schlagfertigen Antworten nicht unbedingt über die Zunge, wenn man mit einer schmerzenden Pobacke am Boden sitzt und einen alle anstarren.
Über diesen peinlichen Auftritt beklagte sich mein Hintern auch zwanzig Minuten später noch, als ich in dem winzigen Eckschaufenster mit Blick auf die kopfsteingepflasterte Kleegasse herumkroch und mich bemühte, Pas Anweisungen von draußen zu verstehen. Schlagartig war er auf den Gedanken gekommen, dass ihm die Dekoration, die er vergangenen Sonntag gemacht hatte, nun doch nicht sensationell genug für ein Event wie dieses war … Er konnte fürchterlich pingelig sein. Manchmal stellte ich mir die Frage, was wohl aus ihm geworden wäre, hätte er nicht diesen Laden von Uropa Heinrich geerbt. Aber die einzige Antwort war wohl, dass er dann trotzdem eine Buchhandlung eröffnet hätte. Pa war nun einmal