Der letzte Marxist
Robert Kurz
Robert Kurz war einer der letzten Marxisten, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, Marx ökonomische Analysen weiterzuentwickeln. Ob ihm das gelungen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander, denn Robert Kurz galt im linken Milieu, in dem Neid und Missgunst häufig eine erstaunliche Rolle spielen, für die einen als Apokalyptiker, der mit seiner Zusammenbruchsprognostik nur die Sehnsucht der Menschen nach Weltuntergang bediente, für die anderen als unermüdlicher Werttheoretiker und kategorialer Kritiker des Kapitalismus. Er musste sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass er seit über zwanzig Jahren das Platzen der Spekulations- und Finanzblase vorausgesagt hat, ohne dass dies zu dem ebenso gewünschten wie gefürchteten Ende des Kapitalismus beigetragen hätte. Robert Kurz hat jeden Fehdehandschuh aufgegriffen und in der Regel mit einer »gepfefferten Polemik« reagiert. Er begriff sich nicht nur als stiller Wertschöpfer der Marxschen Theorie, sondern wich keinem Handgemenge aus, wenn ihm eine Debatte strategisch und taktisch wichtig genug erschien.
In Nürnberg und Erlangen der siebziger Jahre noch in einer der zahlreichen K-Gruppen aktiv, die der jüngeren Generation wie beispielsweise mir erklärten, wie die Partei- und Organisationsfrage richtig zu beantworten sei, überwarf er sich irgendwann mit seinem Verein und spaltete sich mit einigen Gleichgesinnten ab. Den Ort der internen Diskussion verließ er in den Achtzigern, als er in dem Nürnberger Stadtblatt Plärrer eine geharnischte Polemik gegen die entpolitisierte Jugend vom Stapel ließ, die sich nur selbst bemitleidete.
Damals wurde ich, nachdem ich ihn zwischenzeitlich aus den Augen verloren hatte, wieder auf ihn aufmerksam, und als die Wiedervereinigung ihren Lauf nahm und jeder dachte, dass der »deutsche Imperialismus« durch die Einverleibung der DDR quasi außer Kontrolle geraten und seine ökonomische Macht sich potenzieren würde, widersprach Robert Kurz und wies nach, dass die marode DDR-Volksökonomie nicht zu Machtzuwachs, sondern zur extremen Magenverstimmung für die BRD-Wirtschaft führen würde.
Noch vor der Wiedervereinigung hatte er an seiner Studie »Der Kollaps der Modernisierung« gearbeitet, die er mir zur Veröffentlichung anbot, als ich ihn um eine Analyse der ökonomischen Wiedervereinigungsprobleme bat, die dann auch unter dem Titel »Honeckers Rache« erschien. Ich empfahl ihm »Die Andere Bibliothek«, weil diese Studie bei mir nicht die Aufmerksamkeit gefunden hätte, die sie dann durch die Herausgabe Enzensbergers fand.
Raddatz lobte Robert Kurz in der Zeit über den grünen Klee und machte Robert Kurz weit über die Kreise des linken Milieus hinaus bekannt. Sein Buch erschien u.a. in Brasilien, er wurde von dortigen Gewerkschaftskreisen zu Vortragsreisen eingeladen und er hatte eine monatliche Kolumne in einer großen Tageszeitung. Heiner Müller war ein Fan von ihm und lud Robert Kurz in die Volksbühne ein. Er wurde zum begehrten Gast auch von Unternehmern und Managern, die wahrscheinlich sein Werk missverstanden hatten und nun glaubten, von ihm ein Rezept erfahren zu können, wie man die Krise meistern und dem Kollaps entgehen könnte.
Robert Kurz hat diesem »Rummel« um seine Person immer misstraut, weil er wusste, dass sein »Ruhm« auch wieder verblassen würde. Solange es seine Gesundheit zuließ, arbeitete er zweimal in der Woche in der Nachtschicht beim Vertrieb des Kicker-Magazins, um finanziell unabhängig zu bleiben. Er rief zusammen mit anderen Leuten die Theorie-Zeitschrift Krisis ins Leben, scharte Anhänger auch aus dem Ausland um sich, bis die Gruppe der Entwicklungslogik einer Gruppe folgte und sich spaltete mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen, die ein Familienzwist eben hervorruft. Unverdrossen gründete Robert Kurz mit dem ihm verbliebenem Anhang die neue Theorie-Zeitschrift Exit.
Robert Kurz war ein ebenso manischer wie gewissenhafter Theorieproduzent, der aus dem Stegreif und stundenlang Vorträge halten konnte oder erklären, welche Kapitel in seinem neuen Buch noch fehlten, welche sich verändert hatten und welche neuen dazukamen. Das konnte er jahrelang tun, wie bei einem Buch, dessen Erscheinen sich um sechs Jahre verzögerte. Und er hatte einen sympathischen Hang zu einer gewissen Hybris. Karl Marx hatte »Das Kapital« geschrieben, Robert Kurz »Das Weltkapital«. Im Unterschied zu Marx hatte Kurz nur sechs Jahre dazu benötigt. Im Unterschied zu Marx befanden sich zudem seine Manuskripte in perfekten Zustand, als ob er sich auch formal von der Unordnung der Welt abgrenzen wollte.
Auch in der letzten großen Debatte innerhalb der Linken positionierte er sich. Er kritisierte die Antideutschen und deren Hang, vorbehaltlos der amerikanischen Politik zuzustimmen. Die traditionalistische Linke hasste er, und ihren Antisemitismus, wie er in der jungen Welt manchmal gepflegt wird, verachtete er. Zuletzt schrieb er eine Kolumne im Neuen Deutschland, und auch als Gutachter und Wirtschaftsexperte in der neuen Finanzkrise betätigte er sich für Konkret, mit der er sich zwischenzeitlich zerstritten hatte. Auch wenn der Zusammenbruch des Systems auf sich warten lässt, trotz ständig neuer Krisenherde und ernsthafter Versprechen, dass jetzt wirklich alles den Bach runtergehen wird, Robert Kurz gingen nie die Argumente aus, wenn er darauf hinwies, dass das Ende des Systems einer logischen Entwicklung folgen würde und es nur eine Frage der Zeit sei, bis es soweit wäre. Und damit hatte er ja auch irgendwie Recht.
Am 18. Juli 2012 ist der im Dezember 1943 geborene Robert Kurz an einem Operationsfehler gestorben und mit ihm vermutlich der letzte linke Dino, der sich um eine globale Weiterentwicklung der marxschen Theorie und um ihre Rettung vor den Kommunisten bemüht hat und bei dem die marxistische Werttheorie einen so großen Stellenwert eingenommen hat.
2012
Notizen über eine verlorene Freundschaft
Roger Willemsen
Im März 1990 las ich in der Konkret einen langen Artikel über Richard von Weizsäcker von einem mir damals unbekannten Autor: Roger Willemsen. Er sezierte die Sprache Richard von Weizsäckers und stellte dabei fest, dass seine Gedanken als profund gelten, aber tatsächlich nur schwer als solche interpretiert werden können, denn der Inhalt ist oft rätselhaft, nichtssagend und aufgeblasen. Weizsäcker verbringt, wie Willemsen schrieb, »sein Leben mit der Vermehrung rhetorischen Jahresmülls«.
Ich war von dem Artikel begeistert, weil da jemand sehr präzise beschrieb, was es mit Richard von Weizsäcker auf sich hatte, der bis in die Linke hinein seit seiner weihe- und salbungsvollen Rede 1985 zum 40. Jahrestages des Kriegsendes großes Ansehen genoss. Und weil ich mich noch gut daran erinnerte, dass Weizsäcker als Bürgermeister Berlins den Rechtsradikalen Lummer zum Innensenator ernannt hatte, um die besetzten Häuser räumen zu lassen, war ich gleich noch mehr angetan von der ebenso vehementen wie eleganten Kritik, die dem der Schaumsprache zugeneigten Weizsäcker den Stecker zog, so dass von seiner Glaubwürdigkeit, mit der er wie niemand sonst das »andere, das gute Deutschland« präsentierte, nichts blieb als fein arrangierte rhetorische Worthülsen.
Also setzte ich mich mit Willemsen in Verbindung und schrieb ihm, dass ich gerne ein Buch von ihm machen würde, am besten eine verlängerte Fassung seines Artikels über Weizsäcker. Stattdessen machte er mir einen Gegenvorschlag:
»Mir schwebt ein Buch vor mit dem Arbeitstitel ›Die guten Deutschen‹, darunter sollten sich versammeln etwa zehn Porträts der exponiertesten, widerlichsten und geistig-moralisch repräsentativsten deutschen Köpfe, und zwar so, dass, nähme man alle Einzelporträts zusammen, das Buch Deutschland in unterschiedlichen Perspektiven erhellte. Wohlgemerkt ein Deutschland-Porträt in polemischen Verrissen, in Substanz und Tonlage dem Weizsäcker-Text verwandt. Gedacht hatte ich neben R.v.W. unter anderem an: Franz Alt, Johannes Gross, Luise Rinser, Kroetz, Albertz, Cohn-Bendit, Wallraff, Höhler. Vielleicht auch Alice Schwarzer oder Ede Zimmermann, jedenfalls an Leute von diesem Kaliber.«
Willemsen hatte für Radio Bremen zu den sechs erstgenannten jeweils eine Halbstundensendung gemacht, aber bei Albertz und R.v.W. hatte der Sender Angst, juristisch belangt zu werden, obwohl die Artikel auf Justiziables hin überprüft worden waren, weshalb er absagte, und auch Kiepenheuer »machte keinen Hehl daraus, [dass] ihnen das ›zu heiß‹ sei, das seien doch lauter nette Leute.« Daraufhin ließ Willemsen die Sache auf sich beruhen, und das ohne großes Bedauern, »denn, ehrlich gesagt, die Recherchen