Erich Loest

Sommergewitter


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würde auf die Dübener Heide zu.

      Auch beim Abendbrot kam Mannschatz nicht von seinen Gedanken los. Die Klasse von Thomas hatte Kartoffelkäfer gesammelt; für ein volles Einweckglas zahlte die Lehrerin zwanzig Pfennige. Er fragte, ob die Lehrerin erzählt hätte, Flugzeuge der Amerikaner würfen die Käfer ab – nee. So hatte es vor einem Jahr in der Zeitung gestanden, und alle außer den wirklich ganz strammen Genossen hatten sich kaputtgelacht. Clara mühte sich, dem Bienchen zu erklären, es gäbe gute Käfer, Marienkäfer zum Beispiel, Motschekübchen, und böse, die alles Kartoffelkraut fraßen, und die Kartoffeln blieben klein und schrumplig. Aber ein Mädchen, das zum Abendbrot vier Pellkartoffeln futterte, würde groß und stark und käme bald in die Schule.

      Mannschatz rauchte auf der Bank im Hof. Was er plante, würde vieles um ihn herum verändern. Die Familie blieb. Zu Hartmut würden manche sagen: Dein Schwiegervater spinnt. Andere zu ihm: Hast du prima gemacht! Die meisten von denen konnten ihn sonstwo. Wie hieß das: Beifall von der falschen Seite.

      Viele derartige Einschnitte hatte er nicht erlebt. Als er 1916 an der Somme drei Tage lang verschüttet gewesen war, das Bein eingeklemmt, oben das Trommelfeuer und unten die Ratten. Die Angst, sie würden ihn anfressen, die Augen zuerst. Als er Herta diesem Bengel von Buchhalter ausspannte, die heißeste Tänzerin in einem Dutzend Schwofschuppen in Bitterfeld und drumrum, keine riß die Knie schärfer hoch beim Charleston. Bubikopf. In der Slowakei flüchtete sein Trupp im letzten Frühjahr des Kriegs in heller Panik; als ihn Mongolen schnappten, hätten sie ihn um ein Haar erschossen; sie hielten ihn in der braunen Uniform der Organisation Todt für einen besonders rabiaten Faschisten. Er wollte betonen: Ich appelliere nicht an irgendwen, wie ich zu handeln habe, Vorher schreibe ich an Pfefferkorn: Ein Frisör ist nicht unser Feind, und meiner schon gar nicht.

      Die Hüften schmerzten, darüber war der Rücken steif. Keiner von der Veteranenkommission tauchte auf oder schrieb ihm. Bad Elster, das Bad der Werktätigen – hohles Gerede. Radfahren fiel leichter als gehen. Aber zum Futterschneiden mußte er sich bücken. Vor dem Bahnhof schloß er sein Rad an einen Ständer, richtete sich mühselig auf. Hemsberger begrüßte ihn mit angedeuteter Verbeugung: Da wird sich Ihre Tochter aber freun! Und das Leben frisch soweit? Ach, der Krieg hatte keinen verjüngt, und jetzt war es auch kein Zuckerlecken. Übrigens: Wer leckte schon kostbaren HO-Zukker! Er müsse rein, werde die hochgeschätzte Kollegin auf den Besuch vorbereiten.

      Schichtwechsel in einer Viertelstunde. War er hier, um Clara zu informieren, ihre Meinung zu erfragen oder sich eben doch anzulehnen? War er ein Trottel – jeden Tag eine andere Meinung? Mußte ihm ausgerechnet Hemsberger über den Weg laufen? Einmal Offizier, immer Offizier. Er würde ein andermal mit Clärchen reden oder nie. Er stieg aufs Rad, flach war hier herum alles wie ein Bettlaken; wenn die Straße über eine Eisenbahnlinie gehoben wurde, galt das schon als Berg. Erst nach einem Kilometer merkte er, welche Richtung er einschlug, nach Gleibitzsch, wo Irmchen wohnte, seine Cousine, verheiratet mit einem Kuhbauern. Eddi half im Winter beim Straßenbau aus oder arbeitete in einem Werk. Bündnispartner immer noch, nicht Pfefferkorns frischer Feind. Was mußte er immer an den denken, vor dreißig, zweiunddreißig Jahren hatte er nicht einmal seinen Namen erfahren. Plötzlich dicke Tinte. Sollte auf Herta hören. Die spürte, ob einer echt war, die roch jeden falschen Braten.

      Um die Grube »Vergißmeinnicht« und durch Ramsin. Gleibitzsch war ein Haufendorf, immerhin mit Kirche und Gasthof. Dahinter Beyersdorf, Gutsdorf, aufgeteilt während der Bodenreform. Die Neubauern hatten selber nüscht. Damals warb die Partei im Kombinat, um auch ein paar Genossen unter die Umsiedler zu mischen, jetzt war sie hinter Hartmut her. Beyersdorf, dort hatte eine Kollegin gewohnt, Anlagenfahrerin mit schwarzen Augen, auf die waren alle scharf gewesen, er auch, auch er, ja. Schöne wilde unvergeßliche Geschichte.

      Irmchens Hof lag still, jede Pforte verrammelt. Er klopfte ans Stubenfenster, ans Küchenfenster, nichts rührte sich. Um die Ecke schlug ein Hund an, Nachbarstöle. Er klapperte mit dem Briefkastendeckel, rief. Hinter der Gardine eine rasche Bewegung. »Ich bin’s, Alfred! Irmchen! Irmchäään!«

      Endlich öffnete sie das Fenster. »Mußt wieder gehen, Fred. Vorgestern ham sie Eddi geholt, ja. Ich laß kein rein. Wenn ich dir bloß ein paar Eier gebe, heißt’s gleich …«

      »Wer hat ihn geholt?«

      »Wer schon.«

      »Und warum?«

      »Als wir in die LPG rein sin, hat Eddi zwee Sack Weeze nich angegem.«

      »Wegen zwee Sack?«

      »Mußt wieder gehn, Fred.«

      »Irmchen, wenn ich dir helfen kann.«

      »Kannste nich, Fred.«

      4

      »Ja, ich sag die Wahrheet, bestimmt. Weiß nich, was mir letztens einjefalln is und was nich. Richtich: Erna Dorn mein Name, am siebzehnten Juli neunzehnhundertelf in Tilsit jeborn, Ostpreußen. Mein Vater hieß Arthur Kaminsky und war kaufmännischer Anjestellter. Wollte ich auch wern und hab Stenotypistin jelärnt. Bei der Polizei war ich, immer nur im Büro. Gestapo, bei der hab ich manchmal ausjeholfen, ham mich ausjeborcht sozusagen, in Könichsbarch bei Kriegsanfang. Hab ich bisher nich so ausjesagt, deshalb brauchen Sie nich zu belfern, is doch nich wichtig. Schön, was wichtig ist, bestimm Sie. War bei einem andern Vernehmer, ich hab paarmal jesacht: ausjeborcht, und der hat das im Protokoll wegjelassen. Nee, ich unterschreib nich noch mal so was. Ich paß auf.

      Mein ersten Mann, Erich Dorn, hab ich achtunddreißig jeheirat, SS-Unterscharführer, nuscht besondres. Ich kann doch rein nuscht dafier, wenn die Listen vom KZ Ravensbrück nich stimm, ich habe sie nich jeschriem und jefalscht schon gar nich, nee. In nem KZ war ich nie. Der Erich is in Rußland jefalln. Ich hab dann nach der Flucht hier in Halle Max Gewald jeheirat, der war bei der Volkspolizei. Sie müssn nich mit mir schrein, ich weeß, ich hab mir die Schwangerschaft einjebild oder hab mir ’n Kissen unters Kleid jesteckt. Geb ich alles zu. Hab Milch jekriegt und überhaupt beßre Karten. Max war jut zu mir, mein bester Mann iberhaupt, wenn ich mal bei dem jeblieben wär. Aber wejen meiner Schwindelei hat er sich scheiden lassen. Ich durfte auch nich mehr Gewald heißen, nu heiß ich ebent wieder Erna Dorn. Tut mir wahnsinnig leid, daß ich jemandem erzählt hab, Max wär Kommandant vom KZ Ravensbrück jewesen, ich weeß, er hat dann riesige Hudelei jehabt.

      Fang Sie doch nich wieder mit der Jestapo in Könichsbarch an, das war nuscht, war ’ne Dienstverpflichtung für zwei Monate vielleicht höchstens. Hab Akten kopiert, das war alles. Nun komm Sie mir doch nich mit Folterkeller und Juden nach Treblinka, ich hab in nem Büro jesessen und abjetippt, was die Herrn mir jejeben ham. Lebensläufe. Bei Ihn hier sitzen doch auch Fraun und sorjen für Ordnung, nich wahr? Sie brauchen sich jetzt wirklich nich uffzurejen, ich hab doch nich die Gestapo mit Ihn hier verglichen, fällt mir nich ein.

      Nach meiner ersten Strafe hab ich ’ne Bruchbude zujewiesen jekriegt, der Max hat mich ja nich wieder zu sich jelassen.

      Ohne Ofen, Toilette mit vier andern Parteien übern Hof. Arbeit inne Fabrik als Packerin, dann wieder nich. Was machste dann am Abend? Kino, und bißchen aufm Bahnhof rumwarten und quatschen und sehen, daß de was zu roochen kriegst. Da stand en Koffer, ich wollt ihn zum Fundbüro bringen un hab nich jewußt, wo das is. Und wie ich so suche, kommt die Polizei. War dumm von mir, daß ich erst mal jesagt hab, der Koffer jehört mir un da sin Jeschänke drin.

      Uff Zelle, ja, wir komm miteinander aus. Die Neue hat die Scheißerei, kriegste kaum vom Kübel runter. Armes Luder aus Schlesien, nee, die erzählt nuscht, was se ausjefressen hat. Wenn ihr wüßtet, sagt die bloß, und: Vielleicht hacken sie mir die Rübe runter. Was soll ich mir vorstelln könn, wenn die nich mal ’ne Andeutung macht? Herr Vernehmer, hätten Sie mal für mich ’ne Zijarette?

      Immer Lebenslauf un Lebenslauf, jeht bißchen durcheinander bei mir. Manchmal hab ich jeflunkert. Wie das so is uff Zelle, was sollste reden den janzn Tach. Nee, ich bin keine Halbjüdin, hab ich mal erzählt un dann jleich wieder verjessen. Ich war in keinem KZ, weder als Häftling noch als Wärterin, hab ich mal erfunden, so oder so ähnlich. Weil die uff mir rumjehackt ham, die feinen Damen. Un da hab ich jebranzt, ich wär Aufseherin in nem KZ jewesen. Mit Peitsche un Schäferhund und so. Die in der Zelle ham