auf dem Kasernengelände der Sowjets die Zahl der abgestellten Pontons, Lastautos aus amerikanischer und eigener Produktion, Jeeps und Schützenpanzer zu schätzen. Mehr Schrottplatz als militärisches Objekt. Aber den Krieg hatten die Russen schließlich gewonnen.
Hinter Wittenberg wurde er von Transportpolizisten kontrolliert, er zeigte Personal- und Reichsbahnausweis vor. Er habe drei Tage frei und besuche seinen Bruder; mal sehen, ob er bißchen was zu essen ergattern könne. Er erhielt seine Papiere wortlos zurück. Eine junge Frau gab an, sie wolle zu ihrem Verlobten. Wo der wohne, wie er heiße, wo er arbeite, und ob sie das irgendwie nachweisen könne. Sie wurde patzig: Natürlich nicht! Hemsberger beherrschte sich, bis die Debatte vorbei war – still sein, ganz still. Wichtig war, sich einzuprägen: Etwa dreißig Pontons, zwanzig Lkw, sechs Jeeps und an die zehn Schützenpanzer. Brückenbauteile massenhaft.
An den Krieg und die Gefangenschaft dachte er jeden Tag. Vor zehn Jahren hatte er auf der Krim gelegen, alle Flugfelder waren erfreulich fester als in den Schlammzonen des Mittelabschnitts. Sie flogen über die Halbinsel Kertsch und den Kubanbrückenkopf und griffen Nachschubeinrichtungen an, die kurz zuvor noch in eigener Hand gewesen waren und nun nach wütenden Zerstörungen beim Rückzug vom Iwan ausgebaut wurden; erstaunlich, was der an Material nachzog. Die He 111 war genau die richtige Maschine über mittlere Entfernungen gegen Punktziele. Perfekt aufeinander eingespielte Besatzungen, die Verluste minimal. Ehe der Gegner seine Jäger herangeführt hatte, waren sie schon wieder fort. Das sollte sich wenig später über Kursk dramatisch ändern. Jeden dritten Tag ein Einsatz, mehr Bomben waren nicht da. Großartige Verpflegung für jemanden, der Hammelfleisch mochte. Krimwein, Nachrichtenmäuschen, Frühlingssonne. Stalingrad ein ins Vergessen abgedrängtes Gespenst.
Solche Besuche waren einfacher gewesen, als der Zug noch durch den amerikanischen Sektor zum Anhalter Bahnhof gerollt war. Jetzt bog er auf dem neu gebauten Ring um den Südostzipfel der Stadt zum Ostbahnhof. Von dort brauchte Hemsberger eine halbe Stunde mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo. Im Bahnhof Friedrichstraße war eine erneute Kontrolle zu befürchten; diesmal blieb sie aus. Bei einem Straßenhändler vor der Gedächtniskirche tauschte er zwanzig Ostmark zu einem erträglichen Kurs gegen Westmünzen, von einer Telefonzelle aus rief er die Nummer an, die er sich beim letzten Treff eingeprägt hatte. Nach dem fünfzehnten Rufzeichen wurde abgenommen, niemand meldete sich, er sagte vereinbarungsgemäß »Fünfzehn Mal, Donnerwetter« und hörte: »Soso, Sie sind ja zäh.« Erst jetzt nannte er seinen Decknamen: Harry Postberg, und fügte hinzu, von wo er anrief. Wieviel Zeit er habe, so, gut. Genau in einer Stunde an der Ecke Kudamm/Fasanenstraße. »Ich geh an Ihnen vorbei, Sie folgen mir.« Sofort wurde aufgelegt.
Schnell in eine Seitenstraße. An einem Zeitungsstand las er Schlagzeilen: »Ost-CDU gegen Junge Gemeinde. Generalsekretär Goetting unterstützt Drangsalierung junger Christen.« Darunter: »In einer Studentenversammlung der Ostberliner Humboldt-Universität trat der Vorsitzende der CDU-Fakultätsgruppe der Mediziner als gefährlichster Scharfmacher hervor. Er forderte die Exmatrikulation aller Studenten, die sich weiterhin zur Jungen Gemeinde bekennen. Auch die LDP beteiligt sich am Kesseltreiben. So verlangt die ›Verdiente Lehrerin des Volkes‹ Gertrud Sasse die radikale Säuberung der Oberschulen von allen reaktionären Elementen. Mitglieder der Jungen Gemeinde hätten Stalin-Gedächtnis-Feiern gestört.«
Das Licht auf den weißen Fassaden stach ihm in die Augen. Er wechselte in den Schatten und überlegte, wie er sich herauswinden könnte, wenn er beobachtet würde. Denn Spitzel der Stasi, hieß es, fotografierten vor Wechselstuben, Bahnhöfen und Grenzkinos. Er würde noch am Abend bei seinem Bruder sein, doch wenn es hart auf hart kommen sollte, dürfte es schwerfallen, die drei Stunden im Amisektor zu erklären. Jedenfalls: Immer abstreiten, kommen lassen!
Westberlin, West-ber-lin klang für Hemsberger wie Sekt, wie ein achtzehnjähriges Mädchen mit samtener Haut und straffen Pobacken, erträumt vom dreckigen Bitterfeld aus und nun Wirklichkeit. Ein Text: »Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm, ich hab so Heimweh nach meinem Berlin.« Es war keinesfalls sein Berlin, es gehörte Belger und dem Boxer Bubi Scholz und den Amis. Sie verlassen den demokratischen Sektor! Vorsicht Menschenfalle! TAGESSPIEGEL und »Wir Insulaner verliern die Ruhe nicht«. Wenn er vor zwei Jahren dieser Verlockung widerstanden hätte! Er konnte in keinem Flüchtlingslager unterschlüpfen, ohne daß sie ihn wütend befragten: Unsere Abmachung, unser Kästchen, weißt du nicht, was das Ding kostet, dreitausend Dollar, die zahlst du, und was passiert, wenn es der Russe auf deinem Dachboden findet? Was andere konnten, war ihm versperrt: Ausfliegen nach der Pfalz, nach Köln, ein wirklich neues Leben anfangen. Abends Sinalco auf dem Balkon. Oder in Westberlin bleiben als Insulaner, der die Ruhe nicht verlor. Der nun anderen befahl: An jedem ersten Dienstag im Monat melden Sie sich pünktlich um 23 Uhr 15. Die berühmte Zahl fünfzehn. Mehr geschieht nicht bis zum Ernstfall, den erfahren Sie durch das Blinken des Lämpchens ebenfalls um 23 Uhr 15. Jeden Abend nachschauen. Aber Sie merken ja selber, wenn’s kracht.
Zehn Minuten vor der verabredeten Zeit fühlte er zum Kurfürstendamm vor. Der Mann, den er Belger nennen sollte, bog um die Ecke, war untersetzt mit halber Glatze und trug eine hüftlange graue Jacke, eine die Knöchel freilassende Hose und Sandalen, auf denen er federte. Er schlenderte die Fasanenstraße entlang über zwei Querstraßen hinweg, ohne zur Seite zu schauen und in immer gleichem mäßigen Tempo. Hemsberger folgte ihm und heftete seinen Blick an den ausrasierten Nacken mit einer Narbe, als habe ihn dort ein Granatsplitter erwischt. An einer Kreuzung blieb der Mann stehen, wendete sich nach rechts, strich am ersten Lokal vorbei, las vor dem zweiten die Speisekarte, blickte wie zufällig in Hemsbergers Richtung und trat ein.
Sich Zeit lassen. Am ersten Lokal die Speisekarte mustern. Hemsberger empfand den Gastraum als wohltuend kühl, er brauchte zehn Sekunden, ehe er sich ans Halbdunkel gewöhnt hatte. In den Nischen hing Reklame aus der Vorkriegszeit neben Fotos von Sport- und Gesangvereinen, Pokale und Urkunden. Auch aufgefächerte Skatkarten unter Glas, nachweisend die berühmten Grand ouverts. Aus den Wänden dünstete der Teer von Millionen Zigaretten und Zigarren, gequarzt seit der Jahrhundertwende, seitdem war hier nicht vorgerichtet worden. Der Wirt nickte wortlos. Im zweiten Raum zündete sich sein Kontaktmann gerade eine Zigarette an. Er hielt Hemsberger die Schachtel hin und schaute fragend hoch. Hemsberger nahm eine Zigarette und sagte: »Guten Tag fünfzehn Mal.«
Der Wirt trat heran, Potschinski bestellte zwei Cola. Als sie wieder allein waren, sagte Hemsberger: »Womit anfangen. Allgemeine Nervosität. Steckt mich nicht an. Oder nicht sehr.«
»Quatschen Sie sich ruhig aus.«
»Möchte ich noch nicht mal. Sondern bloß was fragen. Ich wüßte gerne – mal anders rum, wir haben nie über meinen Schlußpunkt geredet. Das ist wie in alle Ewigkeit. Ich möchte aber unser Geschäft beenden und abhauen. Mir stinkt’s.«
In der einen Hand hielt der Geheimdienstler die Zigarette, mit der anderen hob er einen Bierdeckel an und ließ ihn fallen, wieder und wieder. Sein Gesicht war faltiger, als Hemsberger es in Erinnerung hatte, unter dem offenen Hemd kräuselte sich graues Haar. Solche Typen kannte er von der Pferderennbahn und aus Wettbüros, Zocker, ehemalige Jockeys. Der Kerl hatte einmal erwähnt, er habe beim Zirkus gearbeitet und sei als Fallschirmjäger auf Kreta dabei gewesen. Sudabucht, die Flak-Hölle. Als Hemsberger nachhakte, Fallschirmjäger damals seien zwanzig gewesen und nicht vierzig, war die Antwort prompt und unwiderlegbar gekommen: Einsatz als Lastenseglerpilot, später Ausbilder in Gardelegen – in der Luftwaffe kannte er sich aus. »Zwei Jahre sind für meine Nerven eine unendliche Zeit. Es sind sogar fast zweieinhalb.«
»Monatlich vier Sekunden Arbeit.« Das klang verärgert. »Dafür fünfhundert Westpiepen auf die hohe Kante. So leicht möchte ich’s auch mal haben, Herr Postberg.«
»Das ist nicht der Punkt.«
»Was dann?«
»Das Risiko.«
»Nun hörn Sie mal gut zu, Postberg. Das alles haben Sie von Anfang an gewußt. Und solange Sie nicht wirklich zu arbeiten beginnen, ist das Risiko nicht größer als das, in dem Colaglas hier zu ersaufen.« Ein Mann ging vorbei zur Toilette, Potschinski verstummte.
Kein Berliner, vermutete Hemsberger, vielleicht aus dem Ruhrgebiet, Dortmund, Duisburg. Einer seiner Bordfunker stammte von dort. »Ich will ja nicht sofort