dem Knast gekommen war nach dem halben Jahr in Zwickau, 1929, wegen Waffenschmuggels aus Böhmen herüber. Wann hatten Thekla und er sich zuletzt geliebt, diese Woche nicht, jetzt war sie beinahe jeden Abend unterwegs. Ihren Stalin-Vortrag wiederholte sie immerzu, besonders tiefgründig fand er ihn nicht, fürs Parteilehrjahr gerade noch geeignet. Er nahm ein Stück Haut zwischen die Zähne, festes Fleisch, biß sanft zu, ließ locker, als sie zuckte. Bis heute abend irgendwann.
Kodelwitz hatte das Arbeitszimmer schon gelüftet und den Tischkalender umgestellt. Vierzehn Stunden im Dienst, meist gutgelaunt, fähig, ein Dutzend Probleme aufeinander abzustimmen und zu verzahnen. Nicht immer mit dem Blick auf das Wesentliche, das würde sich mit der Zeit ergeben. Er war kaum dreißig, seit kurzem Hauptmann, so einem stand jede Laufbahn offen. »Sechs Termine heute, Bruno. Du wolltest mit dem U-Knast beginnen, Vernehmung von Schmolka. Nachmittags Vorbereitung der Veteranenkommission, vielleicht mit Mannschatz. Danach tanzt aus Eisleben ein Genosse an und berichtet über diese Panne bei der Mitgliederwerbung.«
»Das erzählst du mir am Mittag noch mal.«
Auf dem Schreibtisch »Neues Deutschland« und »Freiheit«. Die Beteiligung am Parteilehrjahr war von siebzig auf fünfzig Prozent abgerutscht, erstaunlich, daß derlei öffentlich gemacht wurde. Verhaftungen im Zeiss-Werk Jena, eine Bande von Spezialisten hatte Forschungsunterlagen nach dem Westen verschoben. Appell der Volkskammer an den Bonner Bundestag, alle Bemühungen zu unterstützen, »eine Konferenz zur Vorbereitung des Friedensvertrags mit Deutschland und der Wiederherstellung der deutschen Einheit einzuberufen, was voll und ganz dem Standpunkt der Sowjetregierung in dieser Frage entspricht«. Theaterdonner. »Und sonst?«
»Lästiges Zeug vom Bezirksgericht, wieder die Sache Erna Dorn.« Kodelwitz wedelte mißmutig über eine Anfrage hin. »Die Dorn schwindelt das Blaue vom Himmel. Oberrichter Brettmann will unsre Untersuchungsergebnisse zurückweisen, ein unerhörter Fall.«
»So was darf unter keinen Umständen einreißen.«
»Hab ich unseren Leuten auch gesagt. Der Vernehmer der Dorn ist ziemlich neu in dieser Funktion.«
»Wenn alle Stränge reißen, muß Wendler ran. Unsere Ermittlung muß sozusagen Gesetzeskraft erhalten, daran darf keiner rütteln dürfen, und ein Weichling wie Brettmann schon gar nicht.«
»Vielleicht ist die Dorn einfach übergeschnappt und spinnt.«
Pfefferkorn wußte: Wenn Häftlinge wochenlang zusammen auf Zelle lagen und der Gesprächsstoff ausging, begannen endlose Prahlereien. Bei Frauen am stärksten. Die eine behauptete, in Schlesien sechs Mietshäuser besessen zu haben, die andere, in Pommern eine Brikettfabrik. Und jede zwei Dienstmädchen. Männer, die fürs Ritterkreuz vorgeschlagen waren, fanden sich haufenweise – leider wäre das Kriegsende dazwischengekommen; der Führer hätte schon … Erna Dorn, Diebin und Betrügerin, zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, wollte im KZ Ravensbrück Aufseherin über drei Baracken gewesen sein.
»Ich hab mir die Dorn mal angesehen, Bruno, mickrig, nicht fürn Sechser hübsch, aber wilde Phantasie. Heute das, morgen das absolute Gegenteil. Dünne Beweislage voller Widersprüche. Drei verschiedene Geburtsorte in Ostpreußen.«
»Soll das Bezirksgericht seinen Mist selber ausbaden.« Die Richter dort hatten Punkte gegenüber dem mächtigen Leipzig sammeln wollen, die Pfeife Brettmann und der vor Ehrgeiz stinkende Holls. Keiner mit Augenmaß. Leipzig verdonnerte Fälscher von Lebensmittelkarten, daß die Schwarte krachte: Todesstrafe und zweimal lebenslänglich. Brettmann kriegte von allen Seiten Pfeffer: Der Klassenkampf verschärft sich gesetzmäßig, und was passiert bei dir? Erst versöhnlerisch, bürgerlich-formalistisch, plötzlich ultralinks. Brettmann, blasse Lusche, eventuell christlich angehaucht von seiner Frau. Aktenwissen – wenn seine Knochen auch schlappmachten, bestärkte sich Pfefferkorn, sein Gedächtnis war eisern, er kannte seine Pappenheimer bis zu den Saufgewohnheiten und Seitensprüngen. »Also, Wendler soll sich die Dorn noch mal vorknöpfen.«
Jetzt die Akte Schmolka. Die Bezirksleitung bohrte, drückte. Es war die Frage, und die Bezirksleitung »stellte sie scharf«, ob dieser Fall mit vergleichbaren Verbrechen gekoppelt zu einem Prozeß mit propagandistischer Wirkung ausgebaut werden oder ob Schmolka rasch und allein verknackt werden sollte, mit zwanzig gesiebten Zuhörern statt zweihundert. Zehn Jahre Zuchthaus oder zwölf. Besitzer einer Bauschlosserei mit dreißig Beschäftigten, zweckfremder Einsatz von Material, bei der Hausdurchsuchung siebzehn Gläser mit eingekochter Wurst, eine halbe Speckseite und drei Pfund Rohkaffee gefunden, acht Kartons Friedensseife, Anzugstoffe. In diesen Kreisen wusch immer eine Hand die andere. Hatte Arbeitskräfte und Material abgezweigt, um eine Pension im Harz in Schuß zu halten, dort machte er mit seiner Familie Urlaub. Im Kirchenvorstand, seine Kinder in der Jungen Gemeinde. Mal ansehen, den Burschen.
Kodelwitz telefonierte zum Untersuchungsgefängnis hinüber – ja, Schmolka werde gerade vernommen. Kodelwitz bestellte den Dienstwagen und gab als Ziel an: Steinstraße. Jedesmal, wenn Pfefferkorn durch die Schleuse fuhr, wenn das Tageslicht ausgesperrt wurde und es nach feuchter Mauer, Keller und Angst roch, überfiel ihn die Erinnerung, daß ihn die Nazis hier geprügelt hatten, bis die Haut platzte. Sie schleppten ihn nach Buchenwald, da baute Schmolkas Vater gerade seinen Betrieb aus, verdiente sich dumm und dämlich an der Rüstung, beschäftigte im Krieg Zwangsarbeiter. Darüber standen im Vernehmungsbericht nur Bruchstücke, das würde zum Part des Staatsanwalts gehören, zum politisch-moralischen Umfeld. Der Angeklagte als Leutnant im Afrika-Korps. Pfefferkorns frischentdeckter alter Kumpel zu dieser Zeit Bauarbeiter in der Organisation Todt, er hatte sich die Kaderunterlagen zustellen lassen. Mannschatz beim Bunkerbau in Norwegen, beim Reparieren von Brücken in der Ukraine. Er mußte alles wissen, ehe er ihn in die Veteranenkommission einbaute. Beide Söhne bei der Infanterie, der eine in Griechenland, der andere vor Leningrad gefallen. Niemand aus der Familie in der Waffen-SS. Mannschatz kurz in sowjetischer Gefangenschaft. Alles im üblichen Maß.
Als Pfefferkorn in den Vernehmerraum trat, hob Schmolka den Kopf. Pfefferkorn nickte seinem Genossen zu: Weitermachen. Er schaute scheinbar interessiert auf das beherrschende Stalinbild, der Führer des Weltproletariats im Soldatenmantel, im Hintergrund angreifende Panzer. Trauerflor um eine untere Ecke.
»Warum haben Sie Arbeitskräfte von Buna abgezogen?«
»Weil es dort kein Material gab. Die Bleche kamen nicht.«
»Das konnte doch nicht ewig dauern.«
Schmolka wendete den Blick zu Pfefferkorn, ohne Scheu, prüfend. Der Untersuchungsgefangene saß auf einem an die Wand geschraubten Schemel, die Hände vorschriftsmäßig flach auf den Oberschenkeln. Er steckte in einem Drillichanzug mit eingenähten gelben Streifen, das Haar war an den Seiten mit der Maschine geschnitten, oben blieb eine komische Bürste. Schmolkas Antworten klangen nicht wie von einem, der mit den Nerven am Ende war; fünf Monate Haft hatten ihn keineswegs zermürbt. Wenn sie ihn in ein paar Wochen vor Gericht stellten, würde er kein schlotterndes Häuflein Elend darstellen. Also Ausschluß der Öffentlichkeit.
»Ich hatte vier Leute dort, zwei ließ ich für Restarbeiten, die beiden anderen setzte ich zum Bahnhof Eisleben um. Dort sollte meine Firma Bahnsteigüberdachungen abbrechen.«
»Das ist nicht mehr Ihre Firma, Schmolka!«
»Damals war sie es, und wir reden von damals.«
»Werden Sie nicht frech, Schmolka!«
Diese Schärfe fand Pfefferkorn übertrieben, der Vernehmer wollte wohl Eindruck auf seinen Chef machen. Überall beim MfS waren zu junge Genossen am Werk, wenigstens verfügten einige über gewisse Erfahrungen bei der Kripo. Schmolka schwieg, und Pfefferkorn überlegte: Mit dem da konnte schwerlich ein Sündenbock für alle Mängel in der Schwerindustrie gefunden werden, er gab allenfalls ein Sündenböckchen ab, wenn Sindermanns schärfste Jungs bei der Berichterstattung kräftig draufsattelten. Pfefferkorn nahm einen stärker werdenden Geruch wahr – Fäkalien und Chlor, in einem der Stockwerke über ihm wurde gekübelt: Die Häftlinge trugen ihre Eimer zu einer Zelle am Ende des Gangs, dort kippten sie aus, spülten mit Wasser nach, füllten Chlorkalk ein, blankes Mittelalter. Das kannte er: Wer zuwenig Chlor einlöffelte, hatte den Scheißegestank um die Nase, bei zuviel blubberte das Gas unter dem Deckel hoch.