Erich Loest

Sommergewitter


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die rote Fahne und brachte unten einen Zettel an: »Vorsicht, vermint!« Dunkel war die Stimme, beinahe dialektfrei, in Mitteldeutschland selten. Da sehe er den Genossen Bruno Pfefferkorn, 1921 Stoßtruppführer in der Arbeiterwehr von Mansfeld. Bruno mit der Zündschnur, der gelegentlich eine Fabrikantenvilla flach legte, weil die angreifenden Kämpfer einen Rauchvorhang brauchten. Alle Blicke richteten sich auf einen untersetzten Mann mit rundlichem Gesicht und braunen Knopfaugen, der nun lächelte, wobei sich sein Gesichtsausdruck von hart und verbissen zu verschmitzt wandelte. »Wenn wir nachts ruhig schlafen können, was durchaus nicht im Sinne von allerhand Spionage- und Diversantengesindel ist, dann danken wir das dem Genossen Pfefferkorn.«

      Noch während des Beifalls bückte sich der Mann mit den fröhlichen Grübchen und verstaute seine Stullen in einer Brotbüchse, ungeniert tat er das, und barg die Beute in einer Aktentasche neben dem Stuhlbein. Er brachte seiner Familie etwas mit, begriff Mannschatz, das hätte er auch tun sollen. Eine kräftige Scheibe Blutwurst für seinen Schwiegersohn auf die Frühstücksstulle wäre ein hilfreicher solidarischer Akt gewesen. Zu spät. Da trugen Kellnerinnen Schüsseln mit Kartoffeln und Rotkraut herein, Platten mit Schweinebraten, Saucieren stellten sie dazwischen, und Mannschatz wußte, daß er ein Esel gewesen war, sich mit der Vorspeise vollzustopfen. Aber wie hätte er ahnen können, daß derlei Opulenz nur die Ouvertüre bildete! Der Grübchengenosse war schlauer, kannte wohl solchen Ablauf; nun lud er sich geruhsam den Teller voll. Fingerdick waren die Fleischscheiben, von Fettadern durchzogen und krustig. Haut rein, Leute! Kümmelduft stieg auf, mehliggelb schimmerten Kartoffelberge, aber Mannschatz fühlte sich satt bis oben hin, durfte gar nicht an Leberwurst denken, an die Speckbrocken darin, er war ein Idiot, und es war zum Heulen.

      Ein Randstückchen Braten, ein paar Löffel Kraut, mehr schaffte er nicht und schalt sich abermals völlig bekloppt. Vom Gefecht bei Beesenstedt war unterdessen die Rede, auf dem Marsch dorthin war gekocht worden, aus der Feldküche sollte gekellt werden. Plötzlich schleppte einer zehn Würste an. Aus dem Rittergut Nette. Tagelang hatten sie gehungert, nun entdeckten sie Regale voll Speck und Schinken und Gläsern mit Fett. »Seh ich noch vor mir.« Mannschatz nahm sich immerhin zwei Kartoffelstücke. »In der Feldküche schwappte eine Rüben- und Kartoffelplempe, und auf einmal diese Schwemme!« Nette, ja, so hieß das Dorf.

      Noch ein Schluck Bier und Schluß. »Ich müßte mir die Gegend wieder mal angucken. Wir lagen hinter ’nem Damm, ’ne Feldbahn führte zu ’ner Ziegelei. Die Sipo deckte uns mit Artillerie ein. Ich hab versucht, hinzulangen, aber mein Richtgerät hatte Macken.« Nun war von Grabenkämpfen an der Westfront die Rede, die Minenwerfer der Engländer, ich kann dir sagen, bei Wyschede, wir in den flachen Trichtern, alle Gräben voll Wasser, der Tommy rasierte uns die Arschbacken ab, ich kann dir heute noch die Narbe …

      »Guten Tag, Genosse.« Mannschatz fühlte eine Hand auf der Schulter; hinter ihm stand Pfefferkorn. »Erinnerst du dich an die Flucht über die Saale? Als die Fähre sank? Ich hab ein paar ausm Wasser gezogen.«

      »Ich war an der Mulde.«

      »Die Sipo schoß ’ne Fähre in Klump.«

      Mulde, Saale – die Sicherheitspolizei hatte sie an den Flanken umgangen und wollte den Sack zuziehen; alle hatten gewußt: Wenn sie nicht in der nächsten halben Stunde über den Fluß kamen und sich am anderen Ufer zerstreuten, waren sie erledigt. Die Handgranaten am Koppel zogen ihn runter. Tiefer als zweieinhalb Meter war der Fluß nicht, seine Stiefel fanden Halt, er hakte das Koppel auf und stieß sich ab, schnappte nach Luft. »Mich hat wirklich einer rausgefischt. Du?«

      »Geht es dir gut? Was machst du jetzt?«

      »Invalidenrentner seit zwei Jahren.«

      »Wir unterhalten uns noch. Ich muß erst mal …« Pfefferkorn wies aufs Präsidium. »Also bis gleich.«

      Alle am Tisch hatten zugehört. Einer fragte: »War das so?«

      »Wenn er’s sagt.«

      Mannschatz trat ans Fenster zu einer Gruppe von Rauchern. Auf einem Tisch lagen Zigarettenschachteln, weiß und ohne Aufdruck, die Zigaretten oval. Mannschatz schnupperte: Orienttabak. Wodkaflaschen und Bierkästen, er dachte: Bloß gut, daß draußen niemand auch nur ahnt, wie hier gepraßt wird. In Bitterfeld konnten letztens die Buttermarken nicht beliefert werden, auf Fleischmarken gab’s Eier und Quark; die Leute schimpften. Das wußten Sindermann und Pfefferkorn natürlich, aber sie hätten die Brauen hochgezogen, wenn sie auf diese Diskrepanz hingewiesen worden wären – keine Gleichmacherei, Genosse! Mannschatz sog den Rauch bis in die letzten Lungenwinkel, das Kraut war etwas anderes als das Zeug, das er in seinem Garten zog. Jetzt könnte er immerzu eine Zigarette an der anderen anzünden, zwei Stunden lang, könnte sich eine in jeden Mundwinkel klemmen, rauchen satt, quarzen bis zum Umfallen. Wurst und Butter und Brot im Magen und die Lungen voller Rauch. Ein Bier noch, phantastischer Tag. Glück gepreßt, das portioniert für ein halbes Jahr gereicht hätte.

      Pfefferkorn trat mit zwei gefüllten Schnapsgläsern heran. Auf die Gesundheit! Und sonst? Rücken und Knie machten nicht mehr mit, Berufskrankheit. »Warst du mal zur Kur?« Pfefferkorn bot Hilfe an, Bad Elster, Bad Lausick. Die Veteranenkommission sollte sich kümmern, wozu war sie da? Prost Alfred, Prost Bruno. »Mensch, Alfred, wie ich mich freue!«

      »Und du hast mich wiedererkannt nach all den Jahren?«

      »Ach was. Wir haben Polizeiakten gefunden. Die sollten sicherlich in Prozessen gegen uns verwendet werden. Die beiden, die ich rausgezogen habe, hießen Mannschatz und Kleinefeld. Als diese Zusammenkunft vorbereitet wurde, stieß ich auf deinen Namen. So einfach ist das. Du hast getrieft wie ’ne Ratte, aber geschossen wie der Teufel. Wir sind zurückgerobbt, dabei krieg ich ’n Ding in den Oberschenkel. Du hast mich bis an diese Straße geschleppt.«

      Der Wodka brannte, Mannschatz hatte sich noch nie was aus harten Sachen gemacht, aber vielleicht legte sich nun das Völlegefühl. Er auf dem Boden des Kahns, Wasser hatte er gurgelnd ausgespuckt, über ihm Pfefferkorns Lachen, Landserlachen, sie waren abgebrühte Grabenschweine wie die Sicherheitsbullen auf der anderen Seite auch.

      »Wird Zeit, daß alles genau aufgeschrieben wird. Die meisten in unserem Abschnitt kamen aus Bitterfeld und Holzweißig, wir haben Gröbers bis zu diesem Gefecht um Beesenstedt verteidigt. Was warst du draußen, Alfred?«

      »Gefreiter bei den Minenwerfern.« Jetzt ein drittes Bier, für ein Stück Fleisch und eine Kartoffel wäre mittlerweile im Magen leidlich Platz, aber die Tische waren schon abgeräumt. Wenn er zu Hause erzählte … Wäre Gift für Hartmut, den kriegte er dann noch schwerer in die Partei. Sindermann verabschiedete sich gerade, er müsse in die Redaktion, die morgige Ausgabe vorbereiten. Ihm sei das Herz schwer wie allen. Trotzdem, und so sei es ja immer gewesen: Trotz alledem finde er diese Zusammenkunft nützlich, um Verbindungen zu erneuern, nach verschollenen Genossen zu fragen, herauszufinden, wer auf welche Weise den Hitlerterror überstanden hatte. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes vervollständige ihre Listen, wer sich noch nicht eingetragen hatte, sollte das tun.

      Keinen Schnaps mehr bitte. Jemand wollte wissen, das Bier hier sei stärker als üblich, Brauerei-Haustrunk. Wenn noch ein paar gegangen waren, wollte Mannschatz vielleicht fragen, ob er eine Flasche für seinen Schwiegersohn einsacken dürfe, der trank Bier viel lieber als er. Bruno fragen.

      »In welcher Partei warst du damals, Alfred?«

      »In der USPD, später wieder in der SPD.« Mannschatz registrierte knappes Nicken. Auf das kurzgeschnittene eisengraue Haar und die Stirnfalten schaute er hinab, auf strähnige Brauen und die Nase mit einer Narbe von der Wurzel bis zur Spitze. Dieses Nicken kannte er, feststellend, wertend. Genauer: abwertend. KP-Genossen reagierten so gegenüber dem kleinen, großmütig geduldeten Bruder.

      »Schreib mir deine Adresse auf wegen der Kur. Ich hab manchmal in Bitterfeld zu tun, da besuch ich dich, Meiner.« Wenn Hallenser Freunde sich begegneten, rief der erste dieses Wort halb fragend, der zweite antwortete bestätigend ebenso eine Terz tiefer. »Wie steht’s mit der Familie?«

      Seine Frau arbeite in einer Betriebsküche, habe noch ein Jahr bis zur Rente. Die Tochter bei der Reichsbahn, der Schwiegersohn seit kurzem Meister. Zwei Enkel.

      »Mit