Erich Loest

Sommergewitter


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in Aug mit der Macht.« Brücken war bester Stimmung. »Der schlichte Genosse von der Basis schnuppert Höhenluft. Gut, daß mein Schwiegervater mal ahnt, wie Politik wirklich abläuft.«

      »Ich laß nichts auf meinen Papa kommen.«

      »Brauchst auch nicht.«

      »Und dann«, Gärtner wollte gewichtig klingen, »Hartmut, mußte in die Partei.«

      »Muß nicht.«

      »Wenn du Leiter werden willst …«

      »Ob ich eintrete, ist die Frage, ob ich jemals da reinlatsche. Aber als Koppelgeschäft – nie.«

      Gärtner habe brutalsten Gruppendruck erlebt, als er und seine Kameraden im Wehrertüchtigungslager in die Waffen-SS gepreßt werden sollten. Nachdem die ersten drei unterschrieben …

      »Ach, kein Thema für heute abend.«

      Clara schaute bewundernd auf ihren Mann – allerliebster Dickschädel, herrlicher Sturkopp, und nur sie wickelte ihn um den Finger, manchmal. Sie sah sich vor einem Bauernhaus, Windeln flatterten. »Opa und Oma kommen auf ein paar Wochen. Euch quartieren wir im Gasthof ein. Die Bäuerlein drängen Hartmut ihre Gänse und Schweinchen förmlich auf, denn er repariert ihnen am Abend ihren Schrott. Ihr fahrt zurück mit dem Koffer voll Räucheraal, denn nahebei ist ein See und der Fischer mein Verehrer. Die Hauptsache: Unsere drei Kinder wachsen in sauberer Luft zu Prachtkerlen heran.«

      Gitta Gärtner begriff zuerst: »Drei?«

      Clara strahlte, Hartmut warf sich in Siegerpose, tja, die Sache stünde fest, zum Thomas und dem Bienchen gesellte sich demnächst die Nummer drei. Oma und Opa, die Kindernarren, seien geradezu aus dem Häuschen.

      »Sieben Tage lang wart ich schon auf dich« stand auf der RIAS-Hitparade weit oben. Der Schlagzeuger griff zur Klarinette, reckte sie steil, schwenkte sie über die Kante des Podiums. Der Pianist drosch aus Augenhöhe auf die Tasten, wildes Bekenntnis: Jetzt stürmen, stürzen alle Gedanken nach Westberlin, zum RIAS und seinem Tanzorchester, zu Bully Buhlan und Rita Paul in der Waldbühne. Wenn die Combo jetzt eins draufsetzte mit »Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm«, verbannten die Verantwortlichen womöglich den Gaststättenleiter in eine Bruchbude der Preisstufe II ins Vogtland, und die Musikanten verloren ihre Auftrittsgenehmigung. Aber es blieb bei halber Provokation. Pause.

      Kein anderes Thema mehr als das im Anmarsch befindliche Kindchen. Bestürzung zunächst, als die Periode ausgeblieben war und sich trotz sanfter Hausmittelchen nicht einstellen wollte. Das kannten alle vier und nickten bitterernst. Gärtner rief nach Sekt, den brauche er auf den freudigen Schreck. Eine künftige Mutter finde nichts Belebenderes für die Milchproduktion als ein perlendes Schlückchen – da kriegte er von seiner Frau eins auf den Mund. Hehe, eine Runde auf Gärtners Rechnung! Vier Herrengedecke, und wenn Clara vernünftigerweise nicht mittrinken wolle, genüge ein symbolisches Nippen. Was für ein Abend!

      Mecklenburg oder nicht – Brücken fühlte sich oben. In seiner Bude zerrten sie an ihm und bewiesen jeden Tag, was er ihnen wert war. Wenn er in die Taiga zog, lag es an ihm, wie er sein Leben aufbaute, ausbaute. Wenn er Bitterfeld »die Treue hielt«, wie es ein Arsch von der Parteileitung formuliert hatte, konnte er Forderungen stellen: Ich brauche zwei von den neusten Schweißapparaten für meine Brigade, sonst …

      Mit dem Rhythmus kam der Schlagzeuger schlecht zurecht, hilfesuchend blickte er zum Pianisten. Brücken vermutete Südamerikanisches, Samba vielleicht. Wenn er von derlei Taktgewirr auf der Tanzfläche überrascht wurde, schaltete er resolut auf Foxschritt. Der Saxophonist ließ sein Instrument sinken und starrte vor sich hin. Aus seinem Mundwinkel kroch ein dunkler Faden und sickerte zum Kinn. Brücken wollte Gärtner anstoßen, da ruckte der Saxophonist nach vorn, ein Schwall brach aus seinem Mund, Kotze oder Blut. Brücken war sofort hoch und ein paar Schritte über die Tanzfläche, packte schlaffe Schultern und begriff: Blutsturz, wie er ihn bei einem Kollegen erlebt hatte in spätem Stadium der Tbc. Der Schlagzeuger öffnete die Schlaufe des Saxophons und legte das Instrument behutsam zur Seite, murmelte: Ganz ruhig, Gustl, ganz ruhig. Brücken blickte an sich hinunter, er hatte nichts abbekommen. Am Tisch waren sie sich einig: Unverantwortlich, so herumzulaufen und seine Tuberkel in die Luft zu pusten. Bloß raus!

      Während Brücken und Gärtner zahlten, setzten sich Pianist und Schlagzeuger wieder hinter ihre Instrumente. Sie begannen mit »Moonlight Serenade«. Nein, versicherte der Kellner, so was sei noch nie passiert, der Mann arbeite hier seit Wochen. Ja, sie hätten einen Arzt gerufen. Bei »Pennsylvania 6-5000« riefen die Musikanten dazwischen: »Zwo-drei-vier – jetzt ein Bier.« Clara fürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn sie nicht sofort ins Freie kam. Sie liefen die Treppe hinab und durch die Passage auf den Markt. Tagelang freue man sich auf einen schönen Abend, und dann das. Gärtner schüttelte den Kopf; sogar in russischen Gefangenenlagern habe es Isolierbaracken gegeben.

      Langsam gingen sie zum Hauptbahnhof; andermal waren sie gerannt, um den letzten Zug zu erwischen. Clara spürte ein Kribbeln in den Brustspitzen – schwer vorstellbar, daß die Dingerchen sich jetzt schon aufs Stillen einrichteten. Ihre Gedanken kreisten unablässig ums Würmchen, bei den beiden anderen Kindern war das nicht so kraß gewesen. Wenn es zehnmal bei der Reichsbahn drunter und drüber ging, das Muttertier baute sich seine Höhle. Sie stellte sich vor, sie wohnten am Rande eines Dorfes, den Korb stellte sie neben der Hoftür in die Sonne. Das Baby lauschte aufs Sirren der Schwalben, das mochte es. Katze auf der Türschwelle. Kein Gestank aus Chemieküchen, kein Rußregen.

      Ihr Zug stand vor der Halle in völliger Dunkelheit. Erst im sechsten Abteil fanden sie einigermaßen schließende Fenster. In die »Femina« kämen sie nicht so bald wieder, darüber waren sie sich einig. Nächstes Wochenende sollten sie daheim ein Gesöff aus Bergmannsschnaps und Kunsthonig mixen, »Kumpeltod« der sanften Variante. Herrliche Zeiten brachen an, sie soffen nur noch zu dritt.

      Der Zug war pünktlich.

      3

      Bruno Pfefferkorn spürte ein quälendes Zerren die Beine hinauf; die Muskulatur hatte in der Haft stärker gelitten, als er sich eingestehen wollte. Daran würde er eines Tages zugrunde gehen. Nichts besserte sich trotz Tabletten und Spritzen und Massagen, das Elend konnte nur hinausgezögert werden. Zwischenstadium: Rollstuhl.

      Er stand leise auf, um seine Frau nicht zu wecken, und setzte sich in der Küche ans offene Fenster. Die Nacht war lau, die Stadt still, bald würden die ersten Straßenbahnen ausrücken.

      Thekla schlief wie immer ihre acht oder zehn Stunden durch, gesunder Schlaf der Jugend. Es lebte sich voller Glück und ohne jeden Konflikt mit ihr, noch. Sie sah in ihm den Helden; wie sie schwärmte gleich nach dem Krieg so manches Mädchen im frischen Blauhemd. Ihr Elan spornte ihn an, das konnte in fünf oder zwei Jahren schon Vergangenheit sein. Er hielt nicht mehr viel aus, ein simpler Schnupfen, den andere wegsteckten, schmiß ihn für Wochen um. Irgendwann verfaulte er im Sanatorium, sie war dann an einen alten Knakker gekettet. Verzichtete auf Scheidung aus Mitleid und Respekt; einen verdienten Kämpfer ließ eine Genossin nicht im Stich. Sie mußte höllisch aufpassen, wenn sie einen Mann mit ins Bett nahm, war von Moralgetue und Gehässigkeit umzingelt. Er hatte nicht auf seine Mutter gehört, als sie ihn warnte: Du zerrst das blühende Ding mit in deinen Sarg.

      Er rührte Haferflocken an, endlich wurde es fünf. Wenigstens war es hell, die Vögel begannen, ihre Reviere abzustecken. Vor dem Winter grauste ihn. Halb sieben würde er endlich abgeholt werden. Die Frühnachrichten im Radio: Um den großen weisen Stalin zu ehren, verpflichtete sich das Walzwerk Hettstedt, im Wettbewerb des zweiten Quartals durch fünfzehnprozentige Normerhöhung die Bruttoproduktion um zehn Prozent und die Arbeitsproduktivität um vier Prozent zu steigern, während die Selbstkosten vermindert würden. Das bedeutete Senkung der Löhne, was sonst.

      Leise öffnete er die Tür zum Schlafzimmer, erkannte im Dämmerlicht hinter der zugezogenen Gardine, daß sich Thekla halb aufgedeckt hatte, eine Schulter lag bloß. Er streichelte ihren Nacken und murmelte einen Morgengruß und daß er jetzt fort müsse; sie reagierte stöhnend. Er legte seine Lippen auf ihre Schulter, und während er ihren Duft einsog, überlegte er, ob wohl ein Fünfundzwanzigjähriger in solcher Situation die Decke wegzog und stürmisch über die Geliebte herfiel,