Erich Loest

Sommergewitter


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kriegen. Also auch keine Prämie.«

      »In einem halben Jahr sieht alles anders aus. Deshalb müssen die Normen …«

      Brücken ließ nicht locker: »Wir sind nicht gegen begründete neue Normen. Aber bei einer Reparaturbrigade ist jeder Auftrag anders. Meist wissen wir nicht, was wir zunächst an Schrott wegräumen müssen. So war’s immer.«

      Jetzt wollte der Instrukteur sichtlich Oberwasser gewinnen, seine Stimme nahm einen ironischen Klang an. »Das war schon immer so – was ist das, Kollegen? Blanker Sozialdemokratismus, ’tschuldige. Wir gestalten aber einen revolutionären Umbruch. Viele Brigaden haben sich zur freiwilligen Erhöhung der Normen um zehn oder sogar fünfzehn Prozent bereit erklärt. Zum Beispiel in Hettstedt. Was meinst du, Kollege Brücken?«

      »In ’nem anständigen Brigadevertrag muß drinstehen, daß die Bereitstellung von Material vorausgesetzt ist. Und da sehe ich schwarz.«

      Aus dem Hintergrund: »Schwarz wie ’n Neger um Mitternacht.«

      »Albert nicht rum. Wir kriegen seit einer Woche kein Gramm Lötzinn.«

      »Aber jede Menge Blödsinn.«

      »Du sollst den Quatsch lassen, Harry! Also gut. Ich gehe mit ein paar Kollegen noch einmal alle Positionen durch.«

      Der Instrukteur setzte wieder an, ein Erfahrungsaustausch mit ähnlich gelagerten Brigaden in Halle könne zu einer Klärung führen, aber Meier und Schupp fragten Brücken, was er unternommen hätte, damit im Waschraum nicht nur aus einer Brause warmes Wasser fließe und das gerade bei Schichtende nur tropfenweise. Also endlich Feierabend, es war schon zehn Minuten über die Zeit. Aber da begann Schupp noch einmal über die Normen zu reden, pomadig klang das am Anfang, und alle dachten: Was soll der Quark noch? Schupp konnte sich allerhand leisten, und es klang nahezu freundschaftlich, als er dem Instrukteur riet: »Du, paß mal auf und erzähl das oben weiter, möglichst weit oben: Ich hab gehört, in Hettstedt hätten die Kumpels ’nen kleinen Sitzstreik eingefädelt, bloß ’ne Stunde auf beiden Backen, vielleicht war’s noch nich mal ’n Streik, sie verstanden was nich und haben gefragt, und die Zeit verging, und der Instrukteur begann zu schwitzen, und am Ende gab er zu: Neenee, alles ’n Mißverständnis, und die Normen blieben, und langsam kamen die Kumpel wieder in die Gänge. Verstehst du?«

      Der Instrukteur hielt es wohl für das beste zu lachen, Schupp lachte nicht, und Brücken fand, das eben sei eine hübsche kleine handfeste Drohung nach Arbeiterart gewesen fürs nächste Mal.

      Brücken fuhr nicht gleich nach Hause, sondern in die Nähe des Marktes, dort war ihm ein Kinderfahrrad versprochen worden, na, versprochen war ein zu klares Wort. Eine Verkäuferin hatte Lieferungen erwähnt, die Mitte des Monats kommen müßten, kommen sollten, wenigstens Rahmen für Kinderräder wären dabei, ein Vorderrad kriegte er von Gärtners, Gepäckträger und Sattel besaß er schon, bis zum Geburtstag von Thomas blieben sechs Wochen. Die Verkäuferin sprach mit einer Kundin, schüttelte zu ihm hin den Kopf. Da hätte er gleich abschwirren können, wartete aber, entsann sich, daß der Instrukteur von Sozialdemokratismus getönt hatte, das geschah immer öfter auch dann, wenn jemand ganz sachlich einige Fakten zueinander in Beziehung setzte, logisch blieb, nicht auf die Pauke haute. Das ging Alfred auf den Geist, er selber hätte fragen sollen: Was ist das genau, Sozialdemokratismus, bin ich vielleicht ein Sozialdemokratist – seltsam, dieses Wort bildete keiner –, wenn ich meinem Jungen zum Geburtstag ein Fahrrad schenken will und mir die Hacken ablaufe, statt frohgemut zu erklären: Erst der Weltfriede und neue Hochöfen an der Oder im Geiste des großen weisen Stalin? Kinderfahrräder irgendwann, erst Karabiner für kasernierte Polizisten.

      Nein, sagte die Verkäuferin, nichts sei geliefert worden außer elektrischen Tischnähmaschinen aus der Tschechoslowakei, leider seeehr teuer, fast sechshundert Mark, und sie habe gehört, die seien nicht besonders stabil. Brücken überlegte kaum ernstlich, wer eine Nähmaschine gebrauchen könnte, Clara und die Oma nicht. Danke, er komme wieder, irgendwann werde es schon klappen.

      Sein Schwiegervater stand am Zaun. Am liebsten würde er alle Farbreste abkratzen und mit Karbolineum streichen, aber woher nehmen? Brücken wiegte den Kopf – die Kaninchen-Ställe hätten Farbe nötiger. Ein Instrukteur wollte sie belabern, der habe beim großen Fressen in Halle mit Alfred am Tisch gesessen, hübsche Grübchen. Ach der, entsann sich Mannschatz, der habe rechtzeitig Brot und Wurst verstaut und beim Fleisch und den Kartoffeln reingehauen, einer mit Übersicht. Und? Natürlich die Normen, natürlich das übliche Hickhack.

      Beim Waschen merkte Brücken, wie müde er war. Wenn er sich jetzt hinlegte, schlief er zwei Stunden und war für den Rest des Tages nicht mehr zu gebrauchen. Er hatte gerade seinen Trainingsanzug angezogen, als Clara mit Thomas und dem Bienchen eintrat. Bienchen wollte sofort hochgenommen werden und drückte ihre Wange an seine und schnurrte, sie sei ein guter Wolf, ein ganz kleiner Wolf, und er brauche keine Angst vor ihr zu haben. Da riß Brücken die Augen auf, waaas, ein Wolf, und eben noch habe er gedacht, sein liebes Bienchen sei in die Küche gekommen, nun sei er baff, baff, baffbaffbaff. Da strampelte Bienchen sich los, der Spaß war vorbei, jetzt wollte sie Milchmilchmilch. Gut, mein Mädchen, gut.

      Noch ein Tag und noch einer mit Südwestwind und sanftem Regen, der die Luft wusch und den Pflanzen gut tat, mit Grummeln in der Brigade, mit Trommeln in der Zeitung und im Rundfunk, daß überall die Normen freudig erhöht würden, auf den Werften, der Stalinallee und in den Kohlegruben. Böhlen ganz vorne! Präsident Wilhelm Pieck zur Kur auf der Krim. Hier ginge unterdessen alles drunter und drüber, redeten sie während der Mittagspause. Zum dritten Mal hintereinander Nudeln. Brücken sah seine Schwiegermutter hinter einem Schalter, sie türmte Pfannen hohlscheppernd übereinander.

      Er hatte massenhaft Überstunden gut, zwei strich er ab und radelte eher als sonst nach Hause. Alfred Mannschatz hockte mürrisch unter dem Vordach des Schuppens und versuchte, verklumpten Maschendraht zu entzerren. Wahrscheinlich warf er nach einer Viertelstunde das Dreckzeug weg. Na? Wieso na? Erst ’ne Sonderschicht durchgedrückt, dann kein Material, aber die Ausfallzeit wurde bezahlt. Alle feixten. Knausern überall, und plötzlich schmissen sie ihnen das Geld hinterher.

      »Tag Papi!« Thomas hatte sich angeschlichen.

      »Wie war’s in der Schule?«

      »Wie immer.«

      »Es ist nie wie immer. Und bei dir, Bienchen?«

      »Mir ham gemalt.«

      Clara kam um die Ecke, Beutel an beiden Händen. Manchmal die strahlende werdende Mutter, dann abgeschlafft. Brücken nahm ihr die Last ab, Clara ließ sich auf einen Stuhl fallen, Thomas streifte den Ranzen von der Schulter. »Papi, wann krieg ich ein Pferd?«

      Clara erstaunt: »Wie denn das?«

      »Papi sagt, in Meckburg krieg ich ein Pferd.«

      »Ich hab gesagt, daß du dort vielleicht reiten kannst. Wenn du größer bist. Und besser im Rechnen.«

      Clara dämpfte die Stimme. »Erst einmal heißt das Mecklenburg. Wahrscheinlich kommen wir da nie hin. Dort ist nämlich alles ziemlich mies. Hartmut, setz du dem Jungen keine Flausen in den Kopf.«

      Abdampfen lassen, Reizbarkeit gehörte zur Schwangerschaft.

      »Mutti, ich brauch was zum Zuschrauben. Aus ’nem Einmachglas krabbeln die Kartoffelkäfer immer raus.«

      »Kann ich denn nicht mal fünf Minuten …«

      Abends hörten sie im Radio, der nächste Tag sei der »Tag der Pflugfurche«. Im Bett kam Clara auf das Gekabbel am Nachmittag zurück. »Hartmut, ich find es nicht schön, wenn du Thomas gegen mich ausspielst. Machst ihn verrückt mit Pferd und Reiten.«

      »Aber das geht doch nicht gegen dich.«

      »Ich will immer weniger fort. ›Tag der Pflugfurche‹ – da oben herrscht noch wildere Hektik als bei uns. Und mit der Partei …«

      »Ich gehe unter keinen Umständen rein!«

      »Großes Pionier-Ehrenwort? Dann darfst du auch zu mir rüber.«

      Unter ihre Decke und tasten