Christoph Kloft

Basaltbrocken


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Kleider, die schon längst auf der Haut juckten wie eine ganze Kompanie Ameisen; und er hatte auch erfahren, wie Armut schmeckte: genau wie das Stück Brot nämlich, das er in der Familie seines besten Freundes Matz gestohlen hatte, um den größten Hunger zu stillen, nachdem er bei den kargen Mahlzeiten zu Hause immer vorgab, schon satt zu sein, damit nur die Mutter und die beiden jüngeren Schwestern halbwegs satt zu essen bekamen. Und als ob das alles nicht schon genug gewesen war, hatte Johannes es dann auch noch selbst gespürt, wie es war, wenn der Tod nach einem verlangte, denn ihm steckte plötzlich der Knochenfraß im Bein. Wie er am Ende dann gesund wurde, wußte er nicht mehr genau, glaubte nur, daß es eigentlich nur seinem eisernen Willen, nicht aber den Ärzten, deren Kunst sie sich in dieser Zeit sowieso kaum einmal hatten leisten können, zuzuschreiben war. Ein Gutes hatte die Krankheit vielleicht sogar gehabt, denn Johannes konnte wegen ihr das letzte Schuljahr nicht besuchen und war darum noch früher in der Lage gewesen, sich voll und ganz auf die Landwirtschaft zu konzentrieren, die die Mutter unmöglich alleine bewältigen konnte.

      Er hatte stets geholfen, so gut er eben konnte, doch war er, als der Vater fortging, leider selbst noch ein Kind. Rasch merkte er, daß auch die Arbeit im Steinbruch, die er doch so zuversichtlich angegangen war, mehr an seinen Kräften zehrte, als er dies Mutter gegenüber zugeben konnte, und als junger Mann bereute er manches Mal seinen Ehrgeiz, der ihn nicht einfach nur Kaffeekoch hatte bleiben lassen – eine Mark Lohn am Tag war ihm zu wenig gewesen – sondern ihn angespornt hatte, es so schnell wie möglich bis zum Steinbrecher zu bringen. Außerdem hatte er täglich gut zwei Stunden zur Arbeit und noch längere zwei wieder nach Hause laufen müssen, wobei er diese zusätzliche Anstrengung kaum beachtet hätte, wenn sie nicht mit dem ungehörigen Zeitaufwand verbunden gewesen wäre, der ihm kaum mehr Luft gelassen hatte, sich am Abend um den Hof zu kümmern. Ohne die Unterstützung der Mutter hätte er es damals nie geschafft! Noch heute dachte Johannes nur voller Dankbarkeit an diese Frau zurück: Den ganzen Tag hatte sie geschuftet und sich geplagt, versucht, noch weiteres Land zu pachten, die Pacht mit Buttergeld bezahlt, das Land dann aber doch wieder verkaufen müssen, um die Hausschulden zu bezahlen, denn der Vater hatte niemals auch nur einen Pfennig Unterhalt geschickt! Es war, was selbst Franziska, die ihm noch verbliebene Schwester begriffen hatte, ihr gemeinsamer Ehrgeiz gewesen, das Haus zu halten, das wegen seiner für die damalige Zeit so ungewöhnlichen Größe im Dorf nur das »Schloß« genannt wurde, und sie hatten es am Ende auch geschafft! Daß die Mutter hierfür aber ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht hatte und dann, als feststand, daß sie ihr Ziel erreicht hatten, von ihnen gegangen war, hatte Johannes geradezu verzweifeln lassen und die langsam aufgekommene Freude über den Erfolg schon im Keim erstickt.

      Er erinnerte sich nur zu genau: am Totenbett der Mutter hatte er sich so gefühlt wie damals als Kind, als er sich im Wald verirrt hatte. Drei oder vier Jahre alt mußte er gewesen sein, war von zu Hause fortgelaufen, weil der Vater mit ihm geschimpft hatte. Niemals mehr würde er wiederkommen, hatte er sich vorgenommen, höchstens wenn sich die Eltern vor Traurigkeit die Augen ausweinten, dann würde er vielleicht mit sich reden lassen. Und dann stand er plötzlich alleine, mitten im Wald, und wußte nicht, wo er war und was er machen sollte. Johannes hatte immer geglaubt, daß man sich nur an Tatsachen, nicht aber an Gefühle erinnern konnte. In dem Moment, als Mutter tot war, begriff er, daß er sich geirrt hatte, denn plötzlich war er wieder der kleine Junge, der gottverlassen auf der Welt war und verzweifelt nach jemandem suchte, der ihn an die Hand nahm und aus dem dichten Wald herausführte. Damals waren es Leute aus dem Nachbarort gewesen, die ihn heimgebracht hatten, nachdem er, worauf er sehr stolz war, sie selbst dazu in die Lage versetzt hatte, denn er hatte ihnen auf die Frage, wem er denn sei, die Auskunft »dem Zimmermanns Alfons« gegeben. Heute würde es dagegen nicht so leicht sein, sich helfen zu lassen, und anders als damals würde seine Traurigkeit auch nicht mit dem Trocknen der Tränen verflogen sein, deren es, schon Franziskas wegen, jetzt erst gar keine geben durfte.

      Es war Johannes gleichgültig gewesen, daß mit einemmal plötzlich der ganze Besitz ihm gehört hatte, daß er ab jetzt der Hausherr sein sollte, da er im Gegensatz zu seiner Schwester bereits volljährig war, und schon gar nicht wäre ihm der Gedanke gekommen, aus diesem Umstand irgendwelchen Nutzen zu ziehen: Wie selbstverständlich, so daß es der entsprechenden Bitte der sterbenden Mutter gar nicht bedurft hätte, teilte er schon jetzt den Besitz mit Franziska, schnitt in Gedanken bereits jedes Stück Land, das nach dem Gesetz nun ihm gehörte, gerade einmal in der Mitte durch und verwaltete den Besitz der Schwester lediglich, bis sie das 21. Lebensjahr vollendet hatte.

      Vielleicht weil er in den wenigen glücklichen Jahren ebenfalls frühmorgens mit ihm hinausgefahren war, fiel ihm jetzt der Vater ein: ein großer Mann, mindestens zwei Meter, hatte er als Kind geglaubt, mit stolzen Zügen, die nur manchmal streng sein konnten, dann aber sehr streng, wie damals, bei der Sache mit Berta. Und Johannes hatte genau das Gesicht vor Augen, mit dem sein Vater es immer genossen hatte, wenn die Leute mit neidischen Blicken sein großes Haus musterten, das Schloß, in dem er selbst als der Schloßherr residierte.

      Einige von ihnen mußten sich bestimmt gefreut haben, als sie von der Familientragödie hörten, die sich wenig später abgespielt hatte: Er war eben ein Bruder Leichtfuß, der Vater, der alles stehenließ für eine andere und selbst das stolze Anwesen, an dem ihm doch so viel gelegen war, einfach dem Lauf der Zeit übergab. So jedenfalls hatte Mutter immer versucht zu erklären, warum alles so kommen mußte, wie es gekommen war, und der Vater heute mit seiner neuen Frau in Holland wohnte.

      Einmal noch, kurz nach dem Tod der Mutter, hatte Johannes ihn wiedergesehen. Einesteils, das mußte er ja zugeben, hatte er sich schon auf den in einem Brief umständlich angekündigten Besuch gefreut, andererseits war es, wenn dies überhaupt jemals der Fall sein würde, doch noch lange nicht an der Zeit, das zu vergessen, was der Vater der Familie angetan hatte, und wenn er dann daran dachte, was der eigentliche Grund für sein Kommen war, nämlich die Sterbeurkunde der Mutter zu holen, damit er in Holland erneut heiraten konnte, dann platzte Johannes noch heute fast der Kragen. Und die Begegnung war dann auch entsprechend frostig verlaufen: ein kurzer Händedruck, wenige Belanglosigkeiten, die ausgetauscht wurden, nicht ein einziges Wort des Bedauerns auf der Seite des Vaters, nicht ein einziges Anzeichen für den Wunsch nach Verständigung im versteinerten Gesicht von Johannes und dann endlich die Frage, mit der die innere Kluft geradezu gewaltsam ans Tageslicht gezerrt wurde: »Du Johannes, kann ich vielleicht heute nacht hier schlafen? Du weißt doch, ich habe im Dorf niemand anderen mehr!« Johannes hatte diese Unverfrorenheit fast die Sprache verschlagen, zum Glück aber nur fast, denn wie er sich nach all den Jahren noch sicher war, hatte ihm der Herrgott damals genau die richtigen Worte in den Mund gelegt: »Du kannst hier schlafen, oben, in dem Zimmer, in dem Mutter gestorben ist«, hatte er nur geantwortet und sich überhaupt nicht gewundert, es schon gar nicht bedauert, daß der Vater daraufhin wortlos abgezogen war und sich ein Nachtquartier im nahegelegenen Kloster gesucht hatte. Nach dieser Begegnung waren sich Vater und Sohn nie wieder begegnet.

      Johannes hatte sich wegen der schlimmen Erfahrungen eines ganz fest vorgenommen, nämlich sein Leben von Anfang an in geordnete Bahnen zu lenken: Schwer arbeiten wollte er, für die Familie dasein und vielleicht irgendwann einmal das wiedergutmachen, was sein Erzeuger – er bemühte sich, in seinen Gedanken nur diese Bezeichnung vorkommen zu lassen – an ihnen allen verbrochen hatte. Und denen im Dorf würde er es sowieso noch zeigen!

      Es war gegen sieben Uhr, als Johannes an diesem schönen Sommermorgen vom Feld und seiner Reise in die Vergangenheit nach Hause kam: nachdenklich war er, wortkarg, schlürfte stumm den Kaffee, den seine fleißige Frau schon für sie beide gekocht hatte, obwohl sie noch gar nicht so lange mit dem Melken fertig sein konnte. »Na, hast wohl wieder simuliert, Johannes?« Mit einer Antwort rechnete Agnes offenbar nicht, denn sie schien sehr beschäftigt: tauchte nur wieder ein Stück ihres Brotes in die Untertasse, in die sie, damit er schneller kalt wurde, ein wenig Kaffee gegossen hatte, und wartete geduldig, bis es sich mit der braunen Flüssigkeit vollgesogen hatte. Ja, er hatte wieder simuliert, wie gut sie ihn doch kannte, dachte Johannes, und es war ihm fast so, als hätte er dies laut gesagt. Simulieren tat er auch noch, als er nach dem Frühstück die Kühe fütterte, und es war klar, daß ihn seine Gedanken noch eine ganze Weile gefangen halten würden: so wie ein nächtlicher Traum, der manchmal noch bei Tage ein unsichtbares Netz über einen warf.

      Kleeberg war ein Dorf von gerade einmal vierhundert