der Mittelgebirgsland-schaft des Westerwaldes lag und von mehreren für diese Gegend recht stattlichen Erhebungen umgeben war, zum anderen aber auch schon darum, weil die nächste größere Stadt viele Kilometer entfernt war – die Kreisstadt, die man zu Fuß erreichen konnte, durfte in diesem Zusammenhang nicht zählen, denn sie war kaum mehr als ein großes Dorf. Das Jahrhundert, in dem die Industrie ihren Siegeszug angetreten hatte, schien an Kleeberg spurlos vorübergegangen zu sein: seine Einwohner lebten fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Wer hier geboren war, den bewegten meist nur ganz besondere Umstände dazu, sein Leben oder auch nur eine gewisse Zeit davon in einer anderen Gegend zu verbringen.
Bei Johannes hatte es diese außergewöhnlichen Verhältnisse gegeben: er war als junger Mann eine ganze Weile gezwungen gewesen, sein geliebtes Kleeberg zu verlassen, da damals gerade die großen Gruben im Ruhrgebiet gute Verdienstmöglichkeiten versprachen. Johannes hatte sich Arbeit in einem Kohlebergwerk in der Nähe von Essen gesucht, und, weil man dort mehr verdiente, später sogar als Eisengießer am Hochofen gearbeitet. Trotzdem, eine gute Zeit war dies für ihn nicht gewesen, zu verbunden war auch Johannes mit seinem Heimatdorf, und er war froh, als er genug Geld beisammen hatte, um dem Ruhrpott endgültig den Rücken kehren zu können. Landwirt – für ihn war das der freieste, unabhängigste und schönste Beruf, den es geben konnte, und den würde er nun bis an sein Lebensende ausüben. Dabei machte es ihm überhaupt nichts aus, wenn er dies lange Zeit wieder nur in den Abendstunden tun konnte, denn, um seine Existenz dauerhaft zu sichern, war er am Tage dazu gezwungen, in den Steinbrüchen, von denen es in Kleebergs Umgebung genügend gab, oder beim Bahnbau sein Geld zu verdienen. Und Schikanen, wie er sich sie in seiner Jugend gelegentlich hatte gefallen lassen müssen, war er heute schon gar nicht mehr ausgesetzt: zu rasch bemerkten alle den Feuereifer, mit dem er seinen großen Körper zu immer größeren Leistungen antrieb, seinen Ehrgeiz, der ihn im Steinbruch schnell vom einfachen Steinbrecher zum besserbezahlten Kipper aufsteigen ließ, der mit wenigen geschickten Hammerschlägen schon wieder einen Pflasterstein fertiggestellt hatte, wenn sein Nachbar noch mitten bei der Arbeit war.
Und so kam es, daß es Johannes und die Zeit langsam schafften, den Makel, der ihm anhing, aus der Erinnerung der Leute zu streichen und er die Vergangenheit vor ihnen schließlich abstreifte wie eine Haut, die keiner mehr brauchte. Daß er selbst das, was damals geschehen war, niemals vergessen würde, brauchte er sich nicht einmal zu schwören, denn er dachte schon, ohne es zu wollen, oft genug an die tote Schwester und die Mutter, die ihr wenig später nachgestorben war. Und immer dann fiel ihm natürlich auch der Vater ein, und er nahm sich wieder und wieder vor, nicht so zu werden wie er, jedenfalls wie er gewesen sein mußte, als er sie im Stich gelassen hatte. »Ein Mann muß immer zu dem stehen können, was er tut!« – das war Johannes´ Lebensregel geworden, denn er führte sich immer, wenn es darauf ankam, vor Augen, wie der Vater damals verlegen zu Boden geschaut hatte, als er vom Sohn aufgefordert worden war, im Sterbezimmer seiner Frau zu übernachten.
Johannes konnte zu dem stehen, was er tat, zu allem, auch damals, 1930, als er sich zum Bürgermeister von Kleeberg wählen ließ. Sicher, er hatte immer davon geträumt, im Dorf eine Rolle zu spielen, doch wäre er deshalb niemals auf den Gedanken gekommen, seinen Vorgänger, den er äußerst schätzte und den er bei der Wahl auch unterstützt hatte, ablösen zu wollen. Erst als er richtig gedrängt worden war, und das sogar von demjenigen, der gerade noch für eine neue Amtszeit kandidiert hatte, jetzt aber wegen der Begünstigung eines Verwandten ins Zwielicht geraten war, da hatte er den Widerstand aufgegeben und die Entscheidung des Rates angenommen. Johannes selbst hatte sich freilich nicht gewählt – dies mochten andere tun, ihm selbst wäre es anrüchig erschienen.
´33 hatten dann bereits die Nazis die Macht übernommen, wovon man aber in Kleeberg – wenigstens am Anfang – zum Glück noch wenig merkte. Hier schnitt die NSDAP bei sämtlichen Wahlen, die sie noch zuließ, nicht besonders gut ab: Johannes prägte sich die Ergebnisse so ein, daß er sie auch Jahre später, als selbst der Krieg längst der Vergangenheit angehörte, noch stolz Besuchern aus der Stadt präsentierten konnte, die meinten, besonders in Gegenden, die ihrer Ansicht nach durch eine dicke Bretterwand von der zivilisierten Welt abgetrennt waren, hätten die Nazis einen ungebremsten Zulauf verzeichnen können. Gerade hier aber verfügte man über eine solche Bremse, und diese sah Johannes darin, daß in katholischen Dörfern, wie auch Kleeberg eines war, die Nazis niemals ein leichtes Spiel hatten, da die Partei der Katholiken nun einmal das Zentrum war: Noch bei der letzten Reichstagswahl vom 5. März 1933 hatte es in Kleeberg mit 62,5 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erhalten, und wenn das Zentrum bei der Wahl zum Kreistag eine Woche später von der NSDAP um einen Sitz überflügelt wurde, so lag das für Johannes nur an den vielen evangelischen Ortschaften in dieser Region.
Sie hatten jetzt schon eine ganze Weile Ruhe vor den Parteigenossen: eigentlich war die Geschichte mit dem Pfarrer der letzte Angriff der hiesigen Nationalsozialisten gewesen, und Johannes hoffte, daß dies auch so bliebe. Franz war scheinbar verstummt, und Vollmer mußte sich viel zu sehr schämen, um Johannes und seine Agnes ein weiteres Mal herauszufordern. Meinten sie jedenfalls, und langsam glaubten die beiden bereits, das Leben verlaufe wieder normal, so wie damals, bevor alles anders geworden war, wenn dann nicht der Tag gekommen wäre, an dem Johannes aus heiterem Himmel zu Kreisleiter Schulz bestellt wurde. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was der von ihm wollen konnte, höchstens daß jetzt er statt Vollmer versuchen würde, ihn endlich zum Eintritt in die Partei zu überreden. Bestimmt war es so, redete sich Johannes ein, und er sah sich einmal mehr in der Meinung bestätigt, daß es falsch gewesen war, am Ende doch die Hilfe von Gregors Bruder in Anspruch zu nehmen. Aber sie hatten ihm ja keine Ruhe gelassen, Agnes nicht, die Gesinnungsgenossen aus dem Dorf nicht und auch Gregor nicht, der, als er ihm von den letzten Vorfällen erzählt hatte, geradezu mit Worten auf ihn eingehämmert hatte, er solle das Angebot doch endlich annehmen. »Du weißt ja noch gar nicht, was aus Deutschland geworden ist. Bei uns gibt es Dinge, die kann man sich kaum vorstellen«, war dabei einer der geheimnisvollen Sätze, die er in letzter Zeit so oft von sich gab, und Johannes, der der Meinung war, er könne diese Aussage ohnehin nicht weiter belegen, hatte auch nicht weiter nachgefragt, dann aber, damit nicht noch mehr auf ihn eingeredet wurde, zu Gregor gesagt, er könne jetzt mit seinem Bruder sprechen.
Nach dem, was Gregor immer über ihn erzählte, hatte der dem Kreisleiter dann aber bestimmt nicht die Wahrheit berichtet, sondern wahrscheinlich alles mit Mißverständnissen zu erklären versucht, so daß Johannes jetzt als hundertprozentiger Nazi dastand, der nur niemals als solcher erkannt worden war. Ihm war das Ganze äußerst unangenehm, und es wäre ihm jedenfalls sehr viel besser gegangen, wenn er jetzt schon gewußt hätte, wie gering letztlich der Einfluß von Gregors Bruder war!
Als wenig später dann Schulz im »Braunen Haus«, dem Sitz der Kreisleitung, zu ihm sprach, wußte Johannes nicht, was er von ihm halten sollte, denn der hohe Parteigenosse hielt dermaßen mit seiner Meinung hinter dem Berg, daß nicht einmal zu ahnen war, was er umgekehrt über Johannes dachte. »Der Pg Weber aus Kleeberg war bei mir. Können Sie sich denken, was der von mir wollte?« Nein, Johannes hatte nicht einmal eine Vermutung, zu wenig hatte er sich immer aus Weber gemacht, der, obwohl Mitglied der SA, bisher auch kein Interesse an seiner Person gezeigt hatte. Nun kam es dafür um so geballter: Johannes sollte doch tatsächlich beim Bürgermeister des Dorfes, aus dem Weber stammte, schlecht über den Kreisleiter gesprochen haben! Natürlich, so war das nun einmal bei Gerüchten, konnte ihm Schulz nicht sagen, was der SA-Mann denn nun genau dort erzählt hatte, nur halt eben schlecht sollte es gewesen sein. Offensichtlich aber glaubte der Kreisleiter Webers Lügenmärchen mehr als Johannes´ Beteuerungen, noch niemals mit dem Lorbacher Bürgermeister gesprochen zu haben. Das stimmte übrigens sogar: er kannte den Mann wirklich nicht, denn sein Dorf lag nicht einmal in der unmittelbaren Nachbarschaft von Kleeberg, und was er hier hin und wieder über die Partei und ihre Streiter geäußert hatte, war im Moment schließlich nicht gefragt. Er habe schon mehrere Geschichten über Johannes erhalten, die ihm allesamt nicht gefallen hätten, meinte Schulz nur, aber jetzt wolle er endlich wissen, woran er mit ihm sei. »Weber soll sich seine Äußerungen in Lorbach schriftlich bestätigen lassen, habe ich ihm gesagt. Sollte er damit keinen Erfolg haben, Sie dasselbe aber für ihre Aussage schaffen, dann will ich die Sache auf sich beruhen lassen!« Mit diesem Angebot entließ der Kreisleiter Johannes, und der wußte, daß er wieder einmal auf der Kippe stand. Sollte Weber tatsächlich