Matthias Falke

Phalansterium


Скачать книгу

mit ihnen fliegen.

      Und dass ich eine Jennifer Ash mein eigen nannte.

      Mein Sitz auf dem sonnenwarmen Stein war wie ein Horst auf einer Bergspitze, von der ich über eine weite Landschaft hinaussah. Die Jahrzehnte wurden zu einer Ebene, die ich überblickte und auf der ich in Gedanken hin und her wandern konnte. Schlachten tobten darauf und Passagen düsterster Einsamkeit. An Aufregung hatte es nicht gemangelt. Aber eine war immer neben mir gegangen.

      Auch wenn sie gerade einmal nicht zu sehen war. Vielleicht streifte sie am Fluss entlang oder sie kraxelte in einem Seitental herum. Oder sie hatte sich einen Platz wie diesen gesucht, um darauf zu meditieren. Nachts hatte sie gestöhnt und geschrien. Ich hatte immer wieder versucht, sie zu beruhigen. Obwohl das sensorielle Gewebe ihre Körperfunktionen überwachte, war sie schweißgebadet gewesen. Sie hatte den Schlafsack abgeschüttelt und lag ungeschützt im Zelt, dessen äußere Planen von Raureif knisterten. Sie knirschte mit den Zähnen wie damals, bei der Hochzeit der kuLau, und sie trat mit den Beinen aus, als erwehre sie sich einer imaginären Meute, die nach ihren Knöcheln schnappte.

      Irgendwann war ich eingeschlafen. Ich hatte nicht mitbekommen, wie sie das Zelt verlassen hatte. Jetzt war sie fort. Ich konnte sie anpingen. Dann fiel mir ein, dass sie ihr Handkom fortgeworfen hatte. Sie wollte offline sein auf dieser Wanderung. Und ganz langsam fing ich an, mir Sorgen zu machen.

      ***

      Am Nachmittag wachte sie wieder auf. Das unternehmungslustige Funkeln in ihren Augen drückte aus, dass sie vollständig wiederhergestellt war. Sie schwang die Beine aus dem Bett und sah sich suchend im Zimmer um. Ihre Gala-Uniform, in der sie zu der Hochzeit gegangen war, hatte ich auf unsere Kabine gebracht.

      »Würdest du mir bitte etwas zum Anziehen bringen?« Ihre Stimme war noch immer heiser, aber ihrem Elan tat das keinen Abbruch.

      »In dem Nachhemd siehst du entzückend aus!«

      Tatsächlich kleidete der knielange Kittel, der aus sensoriellen Gewebe bestand und mit Elektronik vollgestopft war, sie vorzüglich.

      »Idiot. Soll ich so über die Plaza laufen?«

      »Warum nicht.«

      Sie feixte.

      »Ich habe dich über die Plaza getragen«, sagte ich. »Und der Schaum ist dir vor dem Mund gestanden.«

      Sie zog die Brauen hoch.

      »Ganz zu schweigen davon, wie du ausgesehen hast, als wir dich von G.R.O.M. geholt haben.«

      »Frank Norton. Würdest du bitte das Geschwätz abstellen und mir etwas Vorzeigbares zum Anziehen organisieren? Vielleicht reichen deine Befugnisse als ranghöchster Offizier der Union noch weit genug, an eine Uniform oder einen Freizeitanzug zu kommen!«

      »Reg dich nicht auf«, lachte ich. »Wir müssen erstmal sehen, was der Doc dazu sagt.«

      Ihr Blick durchbohrte mich und nahm einen »Da hast du es!«-Ausdruck an. Natürlich war die Krankenschwester, die in einem Nebenraum gewartet hatte, auf uns aufmerksam geworden. Sie kam herüber und scheuchte Jennifer ins Bett zurück.

      »Nicht so hastig, junge Frau!«

      Sie starrte mich strafend an. Ich hob entschuldigend die Hände. Offenbar wusste sie nicht, mit wem sie es zu tun hatte, wenn sie mir zutraute, einer Jennifer Ash einen fremden Willen aufzuzwingen.

      »Sie müssen noch mindestens vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung hier bleiben.«

      Jennifer schnaufte angewidert. Einige Sekunden lang schossen ihre Augen zwischen mir und der Schwester hin und her. Dann schien sie es einzusehen. Sie zog die Beine wieder unter die Decke, fuhr das Kopfteil des Bettes ganz nach oben und hockte sich mit schmollender Miene hin.

      »So ist brav!« Die Schwester tauschte einen verschwörerischen Seitenblick mit mir. »Sie müssen erst einmal wieder vernünftig essen und trinken, Kind. Ein bisschen zu Kräften kommen. Morgen früh ist Visite, und dann sehen wir weiter.«

      Sie verschwand in ihrem Kabuff und kam mit einem Tablett wieder, auf dem ein frugales Mahl aus Tee, Zwieback und Suppe prangte.

      Jennifer stieß noch ein paar Mal ein genervtes Keuchen aus, aber die Schwester pflanzte sich neben dem Bett auf und blieb dort stehen wie ein Wachtposten bei einer Inhaftierten. Das Namensschild an ihrem Matronenbusen wies sie als »Olga« aus. Ihr Akzent war osteuropäisch, polnisch oder ukrainisch. Ich hatte in den letzten Tagen vermieden, mich mit ihr anzulegen, und selbst Jennifer kam jetzt zu dem Schluss, dass es das Beste sei, ihre Anweisungen zu befolgen.

      »Gut«, knurrte Olga drohend, als sie sich davon überzeugt hatte, dass mit Flucht für den Moment nicht zu rechnen war. »Ruhen Sie sich aus, sie haben alle Zeit der Welt.«

      Jennifer reagierte nicht. Mit leeren Blicken kaute sie einen Zwieback.

      Die Schwester ging hinaus, nicht ohne mich noch einmal ins Gebet zu nehmen.

      »Passen Sie auf sie auf, Commander. Sie fühlt sich jetzt stark, aber sie ist noch sehr schwach. Noch ein solcher Zusammenbruch, und wir können sie nicht wieder zurückholen!«

      Dann ließ sie uns allein.

      »Du hast es gehört«, sagte ich.

      Jennifer erwiderte nichts. Aber die fünfminütige Quälerei, die es sie kostete, einen halben Zwieback zu essen und mit ein paar Schlucken Tee nachzuspülen, sprach eine deutliche Sprache.

      »Es geht mir wunderbar!«, maulte sie. Ihre Stimme war noch immer rau und belegt.

      »Wir verpassen nichts«, erklärte ich. »Im Moment bist du sowieso krankgeschrieben, und wir haben noch mehrere Monate Urlaub. Ich habe nachgesehen.«

      »Darum geht es nicht.«

      »Wenn es mit deinen – Verletzungen zu tun hat.«

      Sie sagte nichts. Stur vor sich hinstarrend, schlürfte sie ihre Suppe.

      »Wir können jemandem vom psychologischen Dienst kommen lassen. Du brauchst professionelle Betreuung.«

      Ihre Schweigen wurde einige Nuancen eisiger. Ich wartete ab. Dann sagte sie:

      »Lass mich mit diesen Trotteln in Ruh'. Von denen kann mir niemand helfen.«

      »Was willst du tun?«

      »Ich weiß schon, was ich mache und wo ich Hilfe finde. Aber dazu muss ich hier raus.«

      »Alles, was du willst, Jennifer. Aber nicht heute und nicht morgen. Du bist einfach noch zu schwach.«

      Sie seufzte theatralisch. Dabei war sie so erschöpft, dass sie kaum den Löffel halten konnte. Er zitterte in ihrer Hand, und bei jedem Versuch, ein paar Tropfen Suppe zu essen, verkleckerte sie die Hälfte. Endlich ließ sie es zu, dass ich sie fütterte.

      »Gott, ist das peinlich«, stöhnte sie.

      »Nicht peinlicher, als was wir sonst miteinander erlebt haben.«

      »Ich bin doch keine alte Frau!«

      »Man ist so alt, wie man sich fühlt.«

      »Demnach bin ich mindestens hundertfünfzig.« Sie trotzte sich ein tapferes Lächeln ab. Und im übrigen war sie biologisch gesehen natürlich eine knackige Fünfzigerin.

      »Du musst Geduld haben, Geduld mit dir selber.«

      Sie stieß die Luft durch ihre schöne schmale Nase aus.

      »Alle sind hier, um dir zu helfen. Du bist in Sicherheit. Es kann nichts mehr passieren.«

      Wir schafften es, die Suppe zu leeren und zwei Tassen Tee zu trinken. Dann biss sie wieder auf dem trockenen Zwieback herum.

      »Mein Gott, Frank!« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind ausgezogen, die Galaxis zu erobern, und jetzt sitze ich hier wie ein kleines Kind, dem man sein Njamnjam einlöffeln muss!«

      »Was soll ich dazu sagen?«

      »Das darf doch alles nicht