Anne Neunzig

Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden


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diesen wehrsportlichen Gruppierungen zählten aber auch autonome, sogenannte 'wilde' Jugendvereine zu den bürgerlichen Jugendgruppen, ebenso Vereine mit nationaler und patriotischer oder sozialer Gesinnung, wie beispielsweise der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und der Deutsche Verband der Jugendgruppen und Gruppen für soziale Hilfsarbeit.13

      Ab 1903 etablierten sich in Deutschland erstmals Arbeiterjugendvereine. 1906 gründete sich der Verband junger Arbeiter Deutschlands.14 Weitere proletarische Jugendvereine entstanden mit dem Vorsatz des „Arbeitsschutz[es] und [der] Weiterbildung“15 ihrer Mitglieder. Anfangs distanziert, begannen die Sozialdemokraten um 1908 ihr Interesse an den proletarischen Jugendorganisationen zu bekunden, die sich infolge dessen größtenteils auflösten und mit den Parteien kooperierten. Während die bürgerlichen Jugendorganisationen vom Staat finanziell unterstützt wurden, erhielten die proletarischen Vereine keine diesbezüglichen Subventionen.

      In der Weimarer Republik hielt der Jugendmythos Einzug in die Gesellschaft. Durch ihren neuen sozialen Status nach dem Krieg erhielt die junge Generation die „rechtlichen und materiellen Möglichkeiten, ihre Interessen und Bedürfnisse öffentlich zu definieren und Organisationsformen dafür zu suchen“16. Der Jugendpflege-Erlass des Jahres 1919 anerkannte alle Jugendverbände gleichwertig und rief sie zur Zusammenarbeit auf.17 „Niemals zuvor (und auch später nie wieder, wenn man von der Zwangsmitgliedschaft der Hitler-Jugend absieht) konnten Jugendverbände einen so hohen Organisationsgrad der Jugendlichen verbuchen wie in der Weimarer Zeit: Fast die Hälfte aller Jugendlichen (ca. 40 %) waren Mitglieder einer Jugendorganisation.“18

      Zeitgleich prägte aber gerade in jenen Jahren zunehmend eine große Unsicherheit und Aussichtslosigkeit die heranwachsende Generation, was auf eine rapide Zunahme der Arbeitslosigkeit zurückzuführen war.19

      Infolge der politischen Polarisierung dieser Zeit zerbrach um 1923 der Freideutsche Bund. Er hatte sich vor dem ersten Weltkrieg gegründet und bestand aus ehemaligen Mitgliedern der Wandervogelbewegung und anderer Jugendbünde.20 Auch der Wandervogel hatte in seiner ursprünglichen Form keinen weiteren Bestand. Es etablierten sich in der Folgezeit vermehrt bündische Jugendgruppen, die sich an bestimmten völkischen Werten und Normen orientierten. Wie schon zu Beginn der Jugendbewegung waren ihre Mitglieder größtenteils Gymnasiasten und Studenten. Die Mitgliederzahlen schwankten zwischen 12 bis 60.000 Jugendlichen.21 Bünde, die schon vor dem ersten Weltkrieg bestanden, hatten meistens jugendliche Führer oder kamen ohne Führungsposition aus. Die in der Weimarer Republik neu etablierten Bünde standen hingegen oftmals unter der Führung ehemaliger Wandervogelmitglieder, wodurch sich schnell ein Führer-Gefolgschafts-Gefälle ergab. Viele hatten eine antidemokratische Grundhaltung, basierend auf dem Wunsch nach einer „ständig organisierten Volksgemeinschaft“22. Auch eine als rechtsradikal zuzuordnende Einstellung war bei vielen der Bünde zu finden, so bei den 1924 gegründeten Artamanen, „[…] eine Bewegung junger Männer und Frauen, die sich entschlossen, eine vaterländische Pflicht zu erfüllen […] nach den Grundsätzen von 'Blut und Boden'.“23 Ihnen war später das Interesse der Nationalsozialisten sicher.

      Neben den vielen bestehenden Jugendverbänden, die bereits seit dem Kaiserreich existierten, entstanden in der Weimarer Republik erstmals auch innerhalb der Parteien Jugendgruppen. Dabei ging es vorrangig um eine Rekrutierung des Nachwuchses, zugleich aber auch um den frühestmöglichen Aufbau einer festen Wählerschaft. Zu den neu gegründeten Gruppierungen zählten unter anderem „die Hindenburgjugend der BVP […], Bismarckbund der DNVP […], kommunistischer Jugendverband […], Hitlerjugend […], Windhorstbünde des Zentrums […]“24 sowie die Jungsozialisten. Gerade gegen Ende der Weimarer Republik kam es zu einer „massenhaften Politisierung“25 der Jugend, mit einer starken Polarisierung nach 'rechts' oder 'links'. Viele der Jugendvereine der Weimarer Republik befanden sich im 'Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände', der 1926 ins Leben gerufen wurde.

      Die Etablierung einer neuen nationalistisch geprägten Ideologie im 'Dritten Reich', gekoppelt an totalitäre staatliche Strukturen, bereitete der pluralistischen Entwicklung der Jugendverbände ein abruptes Ende. Das Menschenbild der Nationalsozialisten samt deren Bildungsideologie und ihr absoluter Herrschaftsanspruch ließen sich nicht mit den vielfältigen Anschauungen innerhalb der Jugendbewegung vereinbaren. Fortan wurde Konformität propagiert und die bloße Erfüllung ideologischer Vorgaben eingefordert.

      1922/​1923

      Ein erster Vorläufer der Gesamt-Hitlerjugend wird 1922 in München unter dem Namen Jugendbund der NSDAP ins Leben gerufen. Bereits im folgenden Jahr steigt die Zahl der Ortsgruppen stark an, sodass Adolf Hitler (1889 - 1945), Adolf Lenk (1903 - 1987) mit dem Aufbau einer Reichsorganisation beauftragt.26 Der missglückte Hitler-Ludendorff-Putsch vom 08./​09. November des Jahres 1923 und die nachfolgende Auflösung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) beenden zunächst diesen Prozess. Der Vorläufer der Gesamt-Hitlerjugend kommt in seiner Entwicklung nicht über das Anfangsstadium hinaus.27

      1925

      Nach der erneuten Gründung der NSDAP, infolge der Entlassung Hitlers aus der Festungshaft am 27. Februar, formieren sich die Jugendgruppen neu. Die Initiative dazu geht von einzelnen Parteimitgliedern wie Kurt Gruber (1904 - 1943) aus. Gruber führte nach dem Verbot eine kleine Ortsgruppe des Jugendbunds illegal in Plauen/​Vogtland weiter,28 Gerhard Roßbach (1893 - 1967) leitet den Wehrjugendverband Schill. Es folgen interne Machtkämpfe.

      1926

      Gruber setzt sich durch und vereinigt einige Gruppen zur Großdeutschen Jugendbewegung.29 Auf dem Parteitag der NSDAP im Juni in Weimar erfolgt deren offizielle Anerkennung als Jugendgruppe der NSDAP und die offizielle Umbenennung in Hitlerjugend, Bund deutscher Arbeiterjugend (HJ). Das parteiamtliche Gründungsdatum wird auf den 04. Juli festgelegt. Gruber wird zum Reichsführer der Organisation ernannt und als Referent für Jugendfragen in die Reichsleitung der Partei berufen.30

      Offiziell wird die HJ der obersten SA-Führung unterstellt. Die Mitgliedschaft der männlichen Jugend in der HJ erstreckt sich vom 14. - 18. Lebensjahr. Der daran anschließende Übertritt in die NSDAP, ab 1927 in die SA, wird obligatorisch.

      Die Mitgliederzahl der HJ bleibt in diesem wie auch in den kommenden Jahren noch relativ gering gegenüber den ca. 3,6 Millionen Jugendlichen in den politischen, religiösen, bündischen und anderen, im Reichsauschuss der deutschen Jugendverbände zusammengefassten Jugendgruppen.31

      1927

      Beginn des innerorganisatorischen Aufbaus der HJ, Gründung erster Schülergruppen der NSDAP.

      1928/​1929

      Neben bereits existierenden Jungmädelgruppen des Deutschen Frauenordens entstehen erste Schwesternschaften der HJ als Organisationsform für Mädchen.32

      1929

      Zusammenfassung der Schülergruppen zum NS-Schülerbund unter der Reichsleitung von Theodor Adrian von Renteln (1897 - 1946).33 4. Reichsparteitag vom 01. - 04. August 1929 in Nürnberg. Vorbeimarsch zahlreicher Hitlerjungen an Adolf Hitler.

      1930

      Im Juni 1930 gründet sich der Bund Deutscher Mädchen (BDM), gefolgt vom Deutschen Jungvolk (JV) im August.

      1931

      Im März wird das Jungvolk als Unterorganisation in die Gesamt-HJ eingegliedert.34

      Kurt Gruber tritt, wohl gezwungenermaßen, von seinem Posten als Reichsführer der Gesamt-HJ zurück. Er wird in den Jugendausschuss der Reichsleitung der NSDAP berufen. Für kurze Zeit übernimmt Theodor Adrian von Renteln die Position des Reichsführers der Gesamt-HJ.35

      Am 30. Oktober wird Baldur von Schirach (1907 - 1974) auf den neu geschaffenen Posten des Reichsjugendführers der NDSAP berufen.36 In seinen Zuständigkeitsbereich fallen fortan die Gesamt-Hitlerjugend, der NS-Schülerbund sowie der NS-Studentenbund.

      Der Sitz der Gesamt-HJ wird von Plauen