Gerd vom Steinbach

Aufbruch im Miriquidi - Chemnitzer Annalen


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seinen Männern. Nicht nur, dass er bereits in der Blüte seines vierten Lebensjahrzehnts steht, was man ihm auch ansieht, auch sein Selbstbewusstsein und seine Autorität spiegeln unverkennbar seine anerkannte Führerrolle wider.

      „Hört gut zu“, beginnt er, als alle beisammen sind. „Der Unfall von Rudolf ist eine ernste Angelegenheit, die uns gehörig zu schaffen macht. Doch gibt uns diese unerwartete Atempause auch die Möglichkeit, unser weiteres Vorgehen zu beraten.“

      Die Blicke der Fuhrleute hängen gespannt an seinen Lippen, über die besonderen Gründe für ihre mühevolle Reise wüssten sie gern mehr. Aber so beschwerlich die Wanderung auch sein mag – wie auch die Entscheidung, die Heimat zu verlassen, keinem leicht gefallen war –, so nehmen sie die Strapazen doch gerne auf sich, denn hier gelten sie was. Das war freilich zu Hause im Thüringischen anderes. Dort waren sie die Kleinsten der Kleinen, die Überzähligen. Die Äcker der Eltern vermochten sie nicht mehr zu ernähren und es bestand keinerlei Aussicht, ein eigenes Gut zu erwerben. Aber – und darum sind sie in die Wildnis aufgebrochen – hier sind sie die Erschaffer neuen Lebensraumes. Hier sind sie wer und niemand schaut voll Verachtung auf sie herab. „Ja, letztlich kommt uns der Unfall gar nicht ungelegen“, fährt Hildebrand fort, „denn wir müssen dringend den Zug neu ordnen.“

      „Ja freilich, was dein Liebling auch anstellt“, gellt eine schrille Stimme aus der hinteren Reihe, „es ist immer zu unserem Vorteil. Wir hätten noch gut eine Weile fahren können und wären dann sicher aus diesem schaurigen Wald heraus!“ Beifallheischend schaut Heribert mit hochrotem Gesicht in die Runde. „Geheuer ist es hier nämlich nicht. Ganz gewiss wimmelt es von bösen Geistern. Vorhin am Hang haben mich grauenvolle Augen angestarrt, die waren halb so groß wie Wagenräder und ganz starr!“

      „Halte doch dein verdammtes Maul, du Schisshase!“, wirft der Hüne Johannes ein. „Starrende Augen sind wohl immer starr, du Dummkopf. Warum bei allen Göttern hast du nicht gleich gesagt, dass wir beobachtet werden? – Wenn es überhaupt so ist!“ Die Männer stoßen sich untereinander an, denn Heribert ist in der Gemeinschaft der Pickel auf der Nase. Seinen geringen Wuchs versucht er beständig mit Streitsucht und Prahlerei auszugleichen.

      „Lass gut sein“, wirft Hildebrand ein, „wir alle kennen Heribert. Er mag so manchen Mann reizen und das stört gewiss. Aber wir brauchen ihn, gerade jetzt!“ Die Worte lassen den Kleinen um eine Handbreite wachsen, das hat der Wichtigste unter ihnen gesagt, dass er – Heribert – gebraucht wird! Hildebrand holt tief Luft. „Auch ich habe die Augen gesehen, allerdings nicht so groß, und es war da noch ein Mann dran.“

      Überraschung malt sich auf die Gesichter der Männer und so manche Hand greift zur Axt am Gürtel. „Ihr wisst, dass wir hier mit den Sorben rechnen müssen, denn wir sind in ihr Gebiet eingedrungen. Der Beobachter wird vielleicht ein Jäger gewesen sein. Trotzdem müssen wir unsere Aufmerksamkeit verstärken, denn es werden noch andere auf uns stoßen und wer weiß schon, ob wir bei allen willkommen sind!“

      Heribert, der eben noch stolz dreinblickte, dreht nun furchtsam das Gesicht in alle Richtungen, als fürchte er den jähen Angriff wilder Horden. Unruhig rutscht sein Gesäß auf dem weichen Boden hin und her.

      Hildebrand ruft ihn mit einem strengen Blick zur Ruhe und setzt fort: „Jetzt besteht noch keine Gefahr, denn der Fremde muss es erst seinen Leuten melden, aber Warnsignale hat es bisher nicht gegeben. Bis morgen werden wir wohl Ruhe haben. Aber ab sofort wird das Lager streng gesichert. Die Frauen und Kinder bleiben in der Wagenburg. Heribert wird ab dem Morgengrauen nicht mehr sein Gespann führen, sondern auf dem ersten Wagen als Beobachter mitfahren, er hat die schärfsten Augen. So Gott will erreichen wir schon morgen mit Sonnenuntergang unser Ziel. Wir werden bei den Höhlenbergen nicht die Ersten sein, denn aus unserem Volk haben sich dort bereits Soldaten festgesetzt. Ihnen bringen wir Verpflegung und Utensilien für den Winter. Wir werden dort bleiben und als Bauern im nächsten Jahr für die Beköstigung sorgen, damit unsere Krieger ihre Aufgaben erfüllen können, allenfalls werden wir selbst in den Krieg ziehen.“

      Ungläubig schauen ihn die Fuhrleute an. Dass sie ein Wagnis eingegangen sind, als sie sich auf den Treck begaben, war ihnen immer bewusst, aber dass sie als friedliche Bauern einmal die Kriegsreserve bilden sollen, scheint ihnen ungeheuerlich.

      „Soll das heißen, dass wir die Sorben erst verjagen müssen, um deren Höfe zu besetzen?! Ich bin Bauer und kein Krieger!“, empört sich der Rotschopf Georg und die anderen schmunzeln ob seines gütigen Selbstbildnisses, denn gerade Georg neigt gern zu Raufereien und vermag durchaus mehrere Männer in Bedrängnis zu bringen.

      Hildebrand lacht leise und antwortet dem Empörten: „Die Sorben lassen wir hübsch in Frieden. Sie sind hier nur vereinzelt und lassen uns ausreichend Platz. Ihre Siedlungen liegen weiter im Norden. Doch haben sie einen großen Verdruss mit uns gemein. Denn jedes Jahr kommen die Panonier über die Berge. Niemand kennt ihre Wege durch den Urwald. Urplötzlich sind sie da, ziehen durch die Sorbengau und brennen unsere Heimat. Nun sind aus mehreren schwer zugänglichen Gegenden unsere Leute auf dem Weg, um diesen Teufeln auf ihren kleinen struppigen Pferden Fallen zu stellen und sie zu überwältigen. Wenn es gelingt, sie zu bezwingen oder in die Flucht zu schlagen, gewinnen wir dadurch gleichzeitig unser Siedlerland. Wenn alles gut geht, stehen wir bald besser da denn je.“

      Die Männer nicken zustimmend. Obgleich sie noch keinen dieser Krieger aus dem Süden gesehen haben, ist ihnen doch schon so manche ihrer Gräueltaten im Saaleland zu Ohren gekommen. – Hildebrand trägt ihnen ruhig seinen weiteren Plan für die voraussichtlich letzte Etappe bis zum Ziel vor.

       ***

      Über Nacht ist es kalt geworden. Als der Morgen anbricht, überzieht Raureif die Wiese mit den Wagen, die im Nebel nur undeutlich auszumachen sind. Die umstehenden Baumriesen wirken wie bizarre Gebilde, die eine scheinbar milchiggraue Unendlichkeit stützen. Kein Laut tönt über das leise Knistern des Feuers auf der Felsenplatte, dessen rötlichgelber Schein sich mühsam seinen Weg durch die Schwaden bahnt. Als wolle die Natur die Strapazen der Reisenden vor den Blicken Fremder verbergen, hat sie ein Wolkenband gnädig auf die Ruhenden gesenkt. In jeder Himmelsrichtung lehnt ein Wachposten am Wagen und starrt angestrengt in die trübe Dämmerung, mehr den Ohren als den Augen trauend, denn der Nebel lässt die seltsamsten Gebilde erscheinen. Endlich durchbricht das tiefe Brummen eines Ochsen die geisterhafte Stille und gleich darauf beherrscht ein reges Leben das Lager.

      Die Frauen bereiten das Morgenmahl, die Kinder toben schon bald zwischen den Wagen herum. Die Männer, sofern nicht mit der Sicherung des Lagers betraut, entladen Rudolfs Wagen, um die zerschlagenen Räder zu wechseln. Rudolf selbst vermag mit seiner Verwundung die schweren Kisten und Säcke nicht zu bewegen und so ließ er sich von Hildebrand zur Wache einteilen.

      „Dieses Wetter ist nur gut für böse Geister! Alles ist klamm, man sieht die Hand vor Augen nicht und draußen schart sich das Böse um uns!“, zetert Johanna und rumort mit dem irdenen Geschirr im Bach. „Und damit alles zusammenkommt, wird es bald aus Kübeln gießen!“ Ihre von der Kälte geröteten Hände ziehen den Krug so heftig durch das Wasser, dass er fast an die Steine schlägt.

      Gerlinde steht neben ihr, sie schaut auf die Wütende herab und entgegnet spöttisch: „Du scheinst mir die rechte Wetterfee zu sein! Mit dem Nebel kennst du dich gut aus, he? Du wirst noch in deiner Rage den Krug zerschlagen und dann wird dich dein Gerhard schon Maß nehmen!“ Johanna zwingt sich, ihren Zorn zu mäßigen. Ein zerbrochener Krug wäre, wenn schon keine Katastrophe, so doch ein ziemliches Unglück. Wo bekäme man in der Wildnis hier einen neuen her? Ihr zappeliger Gerhard ist gewiss nicht der Mann, der töpfern kann. Gunhild hat beim Näherkommen die Kabbelei verfolgt, begütigend wirft sie ein:

      „Der Nebel ist nicht das Schlechteste was uns widerfährt, er verbirgt uns vor neugierigen Blicken. Wenn ihr aber weiter schreit, weiß bald das gesamte Sorbenland, dass wir hier sind. – Warte nur, Johanna, hat sich der Nebel erst gehoben, werden wir den schönsten Sonnenschein bis zum Abend haben.“

      „Was denn, noch ein Wetterprophet?“, mengt sich Else ein und schiebt sich zwischen die anderen. Die rundliche Frau tritt barfüßig und forsch in das eisige Wasser. Die Derbheit ihrer plumpen Füße, ihr fester